Film | Geschichte

Das Erbe der „Sciangaioli"

Von der Arbeitersiedlung zum stolzen Stadtviertel: Silvia Torresin und Peter Paul Kainrath im Gespräch über die bewegte Geschichte der Bozner „Sciangaioli“.
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Foto: Gli sciangaioli
  • Peter Paul Kainrath: Präsident von Mediaart: Foto: Samira Mosca

    SALTO: Frau Torresin, Herr Kainrath, Sie haben den Film gemeinsam realisiert. War es eine gemeinsame Idee oder wessen Idee war es?

    Peter Paul Kainrath: Mich persönlich haben die sogenannten „italienischen Geschichten“ dieses Landes immer schon interessiert, das Hinausschauen über den Südtiroler Tellerrand. Als Produzent schätze ich mich glücklich, diese Ideen mit inspirierenden Personen wie Silvia Torresin als Gestalterin und Autorin festhalten zu können. Unsere Dokumentationen, etwa zu den „Alpini-Mensen“ oder zum „Dopolavoro“, beschreiben Wirklichkeiten, die einst eine fundamentale Bedeutung für die Entwicklung dieses Landes hatten.

    Was war die Hauptmotivation, die Geschichte der „Sciangaioli“ filmisch festzuhalten?

    Silvia Torresin: Meine Jugend war stark beeinflusst von den Menschen, die man die „Sciangaioli“ nannte. Mich faszinierte dieser unglaubliche Geist der Zusammengehörigkeit und eine ganz eigene Form der Neugier auf die eigene Gegenwart.

    Peter Paul Kainrath: Mein Antrieb war es vor allem, Vorurteile zu brechen. Ich wollte die unglaubliche Vielfalt sichtbar machen, die sich hinter den Fassaden dieser Häuser verbirgt und die oft verkannt wird.

  • Zum Hintergrund

    Der Dokumentarfilm „GLI SCIANGAIOLI. STORIE DI VITA INDIMENTICATE“ (2024) nimmt die Zuschauer mit in das Herz des heutigen Bozner Viertels Don Bosco. Die filmische Reise beginnt in den späten 1930er Jahren, als das faschistische Regime das „Rione Dux“ aus dem Boden stampfte. Ziel war es, Wohnraum für die tausenden Arbeiter zu schaffen, die aus ganz Italien für die neu angesiedelten Fabriken der Industriezone angeworben wurden. Charakteristisch für dieses Gebiet waren die „Semirurali“-Häuser – halbländliche Siedlungen mit Gärten, die den Arbeitern eine gewisse Selbstversorgung ermöglichen sollten. 

    Der Film dokumentiert über sieben Jahrzehnte hinweg, wie sich dieses künstlich geplante Viertel zwischen Aostastraße, Mailänderstraße und Reschenstraße zu einem sozialen Schmelztiegel entwickelte. Durch die Kombination von privatem Archivmaterial der Bewohner und der Expertise des Bozner Stadtarchivs entsteht ein lebendiges Bild einer Gemeinschaft, die sich gegen soziale Ausgrenzung behauptete. 

    Besonders eindrucksvoll zeigt die Dokumentation den Wandel des Begriffs „Sciangaiolo“: Was einst als Schimpfwort für die Bewohner der „ Barackensiedlungen“ gedacht war, transformierte sich über Generationen hinweg zu einem Ehrentitel, der heute für Solidarität, Widerstandsfähigkeit und eine tiefe Verbundenheit mit der eigenen Geschichte steht.

    Die Präsentation und Vorführung des Dokumentarfilms findet am Donnerstag, den 18. Dezember um 18 Uhr im Kulturzentrum Trevi – TreviLab statt.

  • Silvia Torresin: Regisseurin Foto: Privatarchiv

    Wie entwickelte sich der Begriff „Sciangaiolo“ von einem Schimpfwort zu einem Identitätszeichen?

    Silvia Torresin: Ursprünglich war der Begriff absolut abschätzig gemeint. Doch mit der Zeit erkannte man den Wert dieser Menschen und ihrer besonderen Lebensformen. Heute ist der Name Anlass für einen gesunden Stolz. Man hat – wenn auch spät – verstanden, dass dieses Viertel und seine Bewohner extrem viel für die Entwicklung der Stadt Bozen bewirkt haben.

    Was war die größte filmische oder historische Herausforderung bei diesem Projekt?

    Torresin: Da die Geschichte in der Ära des Faschismus wurzelt ist, war die korrekte historische Einordnung der delikateste Aspekt. Wir wollten eine ehrliche Dokumentation schaffen, ohne den üblichen politischen Instrumentalisierungen anheimzufallen. Deshalb haben wir uns entschieden, so vielen verschiedenen Persönlichkeiten wie möglich eine Stimme zu geben. 

    Kainrath: Der Film ist dadurch wie ein vielstimmiger Chor zu Ereignissen geworden, die zwar lange zurückliegen, aber immer noch nachwirken.

    Welche zentrale Botschaft hoffen Sie beim Publikum zu hinterlassen?

    Kainrath: Dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Es lohnt sich immer, hinter die Oberfläche zu blicken.

    Torresin: Jeder von uns ist – ob gewollt oder ungewollt – Teil eines größeren Ganzen. Wir können die Geschichte nur zum Teil beeinflussen, aber wir können ihr aufrecht und mit Bewusstsein begegnen.

  • Peter Paul Kainrath Seit 1999 Präsident der Mediaart-production coop. Die Genossenschaft realisiert hochwertige Fernsehformate und bietet kulturelle Beratung an. Kainrath ist bekannt für Projekte mit hohem informativem und künstlerischem Anspruch, die oft gesellschaftliche Randthemen beleuchten.

    Silvia Torresin Die Regisseurin und Autorin hat sich auf Dokumentationen spezialisiert, die sich mit der Lokalgeschichte und der sozialen Identität Südtirols auseinandersetzen. In Zusammenarbeit mit Institutionen wie dem TreviLab engagiert sie sich stark für die Sichtbarkeit der italienischsprachigen Kultur und deren historische Wurzeln in der Region.