Books | Roman

Dem Nichts abgerungen

Intim erzählt Christine Vescoli in ihrem Debüt „Mutternichts“ mit Blick auf den Tod der eigenen Mutter weibliche Familiengeschichten, auch die eigene. Gelingt die Trauer?
Christine Vescoli, Mutternichts
Foto: Otto Müller Verlag/Umschlaggestaltung: wir sind artisten
  • In gewisser Weise hat „Mutternichts“ etwas von Arbeit. Literatur- und gleichzeitig Trauerarbeit leistet das Buch in gewisser Weise und der Leser damit ein Stück weit mit. Man hat das Gefühl, dass die Autorin ihr Buch zwischen zwei schwarzen Buchdeckeln bannen wollte, denn an den 168 Seiten ist kein Gramm „Fett“. Das Buch ist nicht gemästet, verzichtet auf jeglichen Schnickschnack wie Kapiteltitel oder Kapitelverzeichnis, Vor- oder Nachwort. Ein Glossarwäre im größeren deutschsprachigen Raum für einige Südtirol-Fetzen in Kursivschreibweise wohl auch nicht beanstandet worden. Trotz der Schlankheit des Romans dauert es eine Weile ihn durchzukauen um mit der Essens-Allegorie zu schließen. Da sind nur die Worte der Autorin, mit denen man sich konfrontieren muss, mit wenig Freiraum auf den kleinen Seiten.

    Intime Nähe und skeptische Distanz versteht Vescoli gleich in ihre Sprache zu bringen und ist eine in den Handlungsaufbau involvierte Ich-Erzählerin, die aus verschiedenen Brennweiten auf die Familiengeschichten blickt. Zu Beginn des Buches ist die Distanz zum Erzählten groß, es wird von außen auf Details geblickt. Das „Mutternichts“ lernen wir bald, ist eine Zeit, über die die Mutter fast nie gesprochen hat, nur in Bruchstücken hat sie erzählt von einer Zeit in ihrer Kindheit, als sie an einen anderen Hof kam, wo Kälte und Heimweh stark waren. Vescoli schreibt mit diesem Buch an, gegen ein tiefes, verinnerlichtes Schweigen, das sowohl das eigene, als auch das der Mutter und das vieler weiterer im Land ist. Einiges davon sind persönliche Schicksale, andere knickt die Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Frau, der Blick auf die Männer im Familienstammbaum und abseits davon fällt überraschend kritisch und scharf aus. 

    Hierfür arbeitet die Autorin sich vor, erzählt zu Beginn mehr ihre Recherche als eine Geschichte, die so recht nicht in Gang kommen will. Sie erzählt in gewisser Weise in diesem Kraftakt, der sich bei anfänglich kargem Kahlschlag-Stil weiterarbeitet zu großen literarischen Bildern, die einen das schon zu oft bemühte Kafka Zitat von Axt und Eismeer durch den Sinn gehen lassen. Vescolis Buch ist vielleicht nicht in seinen Erzählstilen kohärent aber jede der vielen, zusehends selbstbewussteren Stimmen, welche die Autorin überliefert oder für sich selbst findet, erfüllt einen Zweck. Ihr gelingt dafür etwas Spannenderes: Erzähl-Stimme und Erzähltes bilden eine Einheit. Man fühlt dadurch in besonderer Weise mit bei der Lektüre von den Leben der Großmutter, Mutter und der Autorin selbst und auch, dass hier eine Anstrengung vorliegt. 

    Ein wenig bringt mich das Buch in Verlegenheit, da ich bemüht bin, nicht zu sehr mit einer Rezension, weit in die Handlung vorzugreifen, gerade wenn man spürt, dass sie mit Schweiß und Herzblut freigelegt wurde. Auf dem Hof, da war mehr als nur (soziale) Kälte und Heimweh. Vescoli schafft es, die schwere Türe ein Stück weit aufzustemmen und ihr Büchlein dazwischen zu klemmen. Es gelingt ihr, Einblick zu gewähren, auch in ihre eigenen Gefühle. Diese werden mit einer Intimität offengelegt, die einen kurz glauben lässt, man höre bei einer fremden Therapiesitzung zu. Das „Mutternichts“ endet, sobald man die Buchdeckel zuschlägt, in gewisser Weise kathartisch. Man hat auch das Gefühl, dass die Autorin erfreut ist, dass das Buch nun da ist und dass das Mutternichts mehr als nur einen Anfang und ein Ende gefunden hat.

    Das Buch lässt sich angesichts einiger Themen wie Suizid, Trauer und Gewalt nicht zu jedem Zeitpunkt empfehlen, aber es sollte doch vielen empfohlen sein, die das nicht schreckt. Die Arbeit macht sich bezahlt.