Gesellschaft | Paralympics

Doppelt geleistet

Auf die Olympischen Spiele folgen die Paralympischen Spiele. Sie erhalten aber wesentlich weniger mediale Aufmerksamkeit. Zwei Südtiroler erzählen.
Sportgruppe für Körperbehinderte Südtirol
Foto: Sportgruppe für Körperbehinderte Südtirol

Am 24. August starten die Paralympischen Spiele in Tokio. Eine Veranstaltung, die es auch Athletinnen und Athleten mit körperlichen Behinderungen erlaubt, sich mit dem Gewinn einer Medaille sportlich zu verewigen. Die Paralympics sind unter anderem ein Weg, um Menschen mit Beeinträchtigung zu entstigmatisieren, deren Sichtbarkeit fehlt im Alltag unserer Gesellschaft aber nach wie vor.

 

 

Kurze Rückblende ins Jahr 2002. Michael Stampfer ist 26 Jahre alt und im besten Alter. Er ist ein begeisterter Sportler, spielt Fußball und fährt Ski. Das Feiern mit Freunden kommt bei ihm auch nicht zu kurz. Im November diesen Jahres schreibt das Schicksal sein Leben aber neu. Stampfer ist nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt und sitzt fortan im Rollstuhl

 

Oft dachte ich mir dann schon, "bin i a ormer Hund"


Als dem jungen Mann bewusst wurde, dass er nicht mehr laufen wird, fällt er in ein schwarzes Loch: "Oft dachte ich mir dann schon, bin i a ormer Hund". Aber der Sport half ihm, mit seiner neuen Lebenssituation klar zu kommen. Im Rehabilitationszentrum Bad Häring stellte er fest, dass er sich auch mit Rollstuhl und gelähmten Beinen weiter sportlich betätigen kann – nur eben anders.  

 

Sportgruppe für Körperbehinderte Südtirol

 

In Südtirol ist vor allem der Verein Sportgruppe für Körperbehinderte Südtirol (kurz: SGKS) in diesem Bereich aktiv. Die SGKS bietet seit 1990 körperbehinderten SportlerInnen eine Unterstützung für ihre Aktivitäten. Derzeit zählt der vollkommen ehrenamtliche Verein über 130 Mitglieder aus allen Teilen des Landes. "Die ersten Sektionen, die eingerichtet wurden, waren das Alpine Skifahren und Langlaufen. Im Laufe der Zeit kamen Sitzball, Handbike, Para-Eishockey und Tennis hinzu", so Markus Kompatscher, Vorsitzender und Gründungsmitglied des Vereins. Die Sektionen werden nach den Interessen und Bedürfnissen der Mitglieder etabliert – die Beliebtheit einer Sportart variiert wellenweise. "Zurzeit ist das Para-Eishockey die populärste Sportkategorie", erzählt Kompatscher. Der Vorsitzende hatte im Alter von 11 Jahren selbst einen Unfall. Er verlor dabei sein Bein und weiß, dass besonders Neuzugänge gut aufgefangen werden müssen: "Sogenannte Frisch-Versehrte werden in den Sportgruppen herzlich aufgenommen und unterstützt. Sie erleben ein neues Gefühl des Zusammenhalts und des gegenseitigen Verstehens – wir sind eine Art Selbsthilfegruppe". Für sein großes Sozialengagement erhielt Kompatscher dieses Jahr die Verdienstmedaille. 

 

 

Auch Michael Stampfer ist kurz nach seinem Unfall auf den Verein aufmerksam geworden und steckte sich kurzerhand ein sportliches Ziel: die Paralympics 2006 in Turin. Und dieses Ziel kann er auch erreichen: Er tritt in der Kategorie Alpine Skifahren an und kann sogar gute Ergebnisse erzielen. Auch vier Jahre später, im Jahr 2010, ist der Kalterer bei den Paralympischen Winterspielen in Vancouver dabei. 

 

 

Die Anfänge der Paralympischen Spiele 
 

Dabei war die Teilnahme an den Olympischen Spielen für körperbehinderte Menschen noch vor 60 Jahren undenkbar. Historische Aufzeichnungen aus dem 4. Jahrhundert vor Christus datieren die ersten Olympischen Spiele auf das Jahr 776 vor Christus. Die Paraolympischen Spiele wurden erst 1960 eingeführt. 1948 wurden in England zum ersten Mal Sportspiele für RollstuhlfahrerInnen ausgetragen. Der Neurologe Ludwig Guttmann wollte die Wettkämpfe der Menschen mit Beeinträchtigung mit jenen der Nichtbeeinträchtigten verbinden. 14 kriegsversehrte Männer und Frauen nahmen damals an den Stoke Mandeville Games teil und maßen ihre Fertigkeiten in einer einzigen Kategorie: Bogenschießen. 1960 wurden dann in Rom die ersten Weltspiele der Gelähmten ausgetragen, bei denen 400 AthletInnen teilnahmen. Seit jenem Jahr finden die Paralympics alle zwei Jahre statt, immer im selben Jahr wie die Olympischen Spiele. Bei Paralympischen Sommer- und Winterspielen stehen insgesamt 28 Sportarten, wie beispielsweise Leichtatheltik und Judo, im Programm, davon 22 im Sommer und 6 im Winter. Bei den Olympischen Spielen werden vergleichsweise Wettbewerbe in insgesamt 46 Sportarten ausgetragen. 

 

Beim Verein SGKS geht es in erster Linie darum, Neuzugängen ein Wir-Gefühl zu vermitteln

 

Der Verein SGKS war Michael Stampfers erste Anlaufstelle nach seinem Unfall. Dort ging es vor allem darum, sich mit anderen Gleichgesinnten auszutauschen, für Stampfer war es wichtig, mit anderen beeinträchtigten Menschen über Dinge zu sprechen, die er mit seinen „normalen“ Kollegen nicht bereden konnte. Mittlerweile ist der Kalterer Vize-Präsident des Vereins und organisiert Kurse, um AthletInnen verschiedene Sportarten näher zu bringen und ihnen neuen Aufschwung mitzugeben. "Wir wollen Neuzugängen ein Wir-Gefühl vermitteln, aber auch der Sport kommt nicht zu kurz", so Stampfer. 

Entscheiden sich SportlerInnen bei den Paralympics zu starten, werden sie in verschiedene Kategorien der Beeinträchtigung eingeteilt. Früher gab es beispielsweise die Kategorien der Hand-Amputierten, Arm-Amputierten, Doppelarm-Amputierten, Bein-Amputierten, Doppelbein-Amputierten usw. Heute wird versucht die Kategorien größer zu halten, z.B. stehende oder sitzende Skifahrer. Eine Klassifizierungskommission, zusammengesetzt aus Ärzten, Trainern und Physiotherapeuten, stellt fest, welcher Klasse der/die jeweilige SportlerIn angehört. Für die Startklassen gibt es internationale Kriterien, die die sportliche Leistung unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung ermitteln. Die GewinnerInnen sind also nicht immer diejenigen, die das beste zeitliche Ergebnis aufweisen, auch der Grad der Behinderung hat einen Einfluss auf das Endresultat und somit auf den Sieg.

 

Der Aufwand, um Sport zu betreiben, ist bei uns einfach viel größer

 

Laut Stampfer haben Körperbeeinträchtigte eine Vorbildfunktion. Die Menschen haben Schicksalsschläge erlitten und sich mit aller Kraft zurück ins Leben gekämpft. Wenn sie dann noch bei den Paralympischen Spielen teilnehmen, verbinden sie sportliche Leistungen mit der jeweiligen individuellen Beeinträchtigung. Sie bringen großartige Ergebnisse und leisten gleich doppelt, so Stampfer: "Der Aufwand, um Sport zu betreiben, ist bei uns einfach viel größer". Das Skifahrern ist Stampfers liebste Sportart. Im Sommer unternimmt er aber auch gerne E-Bike Touren mit seiner Familie, Tennis spielt er das ganze Jahr über.

 

 

5 Stufen sind 5 zu viel 

 

Wenn er einen Wunsch frei hätte, würde er die architektonischen Barrieren beseitigen lassen. "Wenn ich in ein Gebäude muss und fünf Stufen zum Eingang hin führen, komm ich da einfach nicht rein", erzählt Stampfer. Auch die mentalen Barrieren in den Köpfen der Menschen würde er gerne verschwinden lassen. Körperbeeinträchtigte seien nämlich nicht unbedingt Pflegefälle, nur ist die Behinderung von außen sichtbar. "Wer hat schon kein Problem? Jeder hat sein eigenes Paktl zu trogen. Bei manchen ist es eine psychische Krankheit, bei anderen etwas anderes. Meine Beeinträchtigung sieht man von außen eben sofort", gibt Stampfer zu bedenken. "Alle müssen auf der gleichen Ebene stehen können, mit oder ohne Beeinträchtigung."

 

Wer hat schon kein Problem? Jeder hat sein eigenes Paktl zu trogen. Bei manchen ist es eine psychische Krankheit, bei anderen etwas anderes. Meine Beeinträchtigung sieht man von außen eben sofort.

 

Markus Kompatscher hat einen materiellen Wunsch an die Gesellschaft. Seit 31 Jahren wird der Verein SGKS ehrenamtlich betrieben und jedes Vorstandsmitglied setzt sich dafür ein, dass die Sportgruppen weiter bestehen bleiben können. Dennoch gibt es keine fixen Vereinsstrukturen und auch keinen Vereinssitz. Schon seit 2-3 Jahren sucht der Vorsitzende nach einem Vereinslokal, denn zurzeit hat der SGKS nur eine Lagerhalle in Bozen angemietet, die die Sportgeräte beherbergt. "Zurzeit wird es so gehandhabt, dass der Sitz dort ist, wo der jeweilige Vorsitz wohnt, zurzeit also bei mir zuhause. Aber das kann und will ich meinen Nachfolgern nicht zumuten. Wir wollen in den nächsten Jahren einfach etwas längerfristiges finden", sagt Kompatscher. 

Ansonsten wünscht sich Kompatscher nicht viel. In den letzten 30 Jahren hat sich laut ihm die Gesellschaft in eine richtige Richtung hin bewegt. Er blickt zuversichtlich in die Zukunft.