Kultur | Salto Afternoon

„Den Blick offen halten“

Geschichten aus der postmigrantischen Gesellschaft zeigt seit Samstag (18.6.) die Ausstellung "Vielheit" bei Kunst Meran. Ein Rundgang mit dem Kurator als Einladung.
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Foto: Salto.bz

Der Kulturwissenschaftler und Kunsthistoriker Jörn Schafaff hat viel über Vielheit zu erzählen. Er kann es, hat er sich doch intensiv damit beschäftigt und die Arbeiten vieler Künstlerinnen und Künstler nach Meran ins Kunsthaus gebracht, um dort die Komplexität unserer Zeit und der Thematik, geistig wie gestalterisch zu verschönen. Abgesehen von einer ersten Videoarbeit unmittelbar beim Treppenaufgang präsentiert sich die von Schafaff kuratierte und am Samstag eröffnete Schau Vielheit mit einem besonders eindrucksvollen und blumigen Willkommensgruß. Es ist eine Arbeit Bouquet IX des Künstlers Willem de Rooij und sie steht wuchtig im Raum.
 

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Blumen- und Willkommensgruß: Willem de Rooij mit "Bouquet IX" / Foto: Salto.bz


Der prächtige Strauß Blumen auf weißem Sockel und in weißer Vase ist aus vergänglichen Schnittblumen. Ob Lilie, Gladiole, Gerbera, Rose, Nelke oder Löwenmäulchen – der Strauß ist verführerisch schön. Er lädt ein, über Gleichheit, Differenz und Weißsein als "Kriterium von Zusammengehörigkeit" nachzudenken. „Insofern sind da ein paar Punkte unter dieser rein ästhetischen Wirkung, die man mitnehmen kann, durch die Ausstellung. Man kann sie mit den eigenen Eindrücken, Erfahrungen und Überlegungen in Verbindung bringen“ gibt Schafaff vor. Auf die Blumen folgt Barbara Gampers linguistische Landschaftserkundung. Wie eine Träne kullern zwei Stoffbahnen von hoch oben in den ersten Stock. Sind es Freudentränen? Man wird es am Ende des Rundgangs sehen (und spüren).
 

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Linguistische Perspektiven: Einer der beiden zweiteiligen Banner (Ausschnitt) der Künstlerin Barbara Gamper / Foto: Salto.bz


Barbara Gampers „poetische Übertragung einer empirischen Erhebung“ entstand anhand von Fragebögen, die die Künstlerin an Meraner Schulen austeilen hat lassen. Sie suchte nach frischen und aktuellen Antworten zur Mehrsprachigkeit, die über das Deutsche und Italienische hinausgehen. Politiker*innen sollten sich die Antworten mal in Ruhe durchlesen und sich fragen, warum keiner mehr (vor allem die jungen Leute) ihnen Vertrauen schenkt und zu den Wahlurnen geht.
Klar, die Tendenz die man weltweit beobachten kann ist eher von Einfältigkeit als von Vielheit geprägt. Das weiß auch der Kurator. AfD-Umfragewerte in Deutschland, Freiheitliche Mikrointellektuelle in Österreich, selbstverliebte Faschismus-Nostalgie in Italien, Ungarn und anderswo, sowie mögliche Burschenschafter-Treffen im Meraner Nachbarort Algund. Die Kunst setzt mit Klugheit etwas dazu, nimmt die politischen Entwicklungen zur Kenntnis und erkennt, dass es bei vielen Menschen durchaus „ein Bedürfnis nach Komplexitätsreduzierung gibt“, wie sich Schafaff vorsichtig ausdrückt. 
 

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Beleuchtete Spülbecken: Die Künstlerin Haegue Yang zeigt neben weiteren Arbeiten auch zwei Wandskulpturen / Foto: Salto.bz


„Wir leben in einer Welt die sich komplex und vielschichtig darstellt, Migrationsgeschehnisse sind nur ein Teil davon“, kommentiert der Vielheit-Kurator besonnen und überlegt zum nach rechts rutschenden politischen Gefälle weltweit: „Einige Menschen sind überfordert, haben Ängste, suchen nach Welterklärungen die einfach sind. Sie teilen die Welt in einfache Kategorien und Muster, um einen Überblick über eine Realität zu bekommen. Die Künste können auf verschiedene Art und Weise ihren Beitrag leisten, indem sie den Blick offen zu halten.“ Seine hoffnungsvollen Worte und seine fein angelegte Ausstellung sind gleichsam Balsam für die Seele.
 

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Postmigrantische Realität zu Papier gebracht: Eine Installation des Fotografen und Buchkünstlers Nicolò Degiorgis / Foto: Salto.bz


Hinsetzen und Zuhören und sich ins Zentrum der Debatte begeben, ohne Plattitüden vom Stammtisch oder mit Weisheiten vom letzten Kellerbesäufnis punkten: In der Installation des thailändischen Künstlers Rirkrit Tiravanija ist das unkompliziert machbar. Dort sprechen Menschen aus fünf verschiedenen Gegenden der Welt von ihren Anfängen in Meran. Das ist sehr berührend. Auch wenn nicht repräsentativ – aber wer will schon langweilige Statistiken sehen? Tiravanijas Arbeit gibt Einblicke in verschiedene Biografien, zeigt eine Frau aus Nigeria, eine aus Albanien, einen Mann aus Mali, eine Herkunftsdeutsche aus Köln und einen "Binnenmigranten" aus Neapel. Die Auswahl der Zusammenstellung entspricht einer auf den Punkt gebrachten Vielheit (die zum Glück eher ein Beistrich als ein Punkt ist).
 

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Zeitgenössische Zeitzeugen​​​​​​​: Eine Installation von Rirkrit Tiravanija mit Monitoren. Im Hintergrund der Kurator Jörn Schafaff / Foto: Salto.bz


Zwei spannende Videoarbeiten hat der Kurator gemeinsam in die Ausstellung geholt aber getrennt voneinander platziert. Želimir Žilniks Kurzfilm Inventur Metzstraße 11 aus dem Jahr 1975 lässt die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Es sind Gastarbeiter*innen und Familien aus der Türkei, Griechenland oder Italien, sie stellen sich vor und erzählen etwas über die aktuelle Lage und Situation. Ein ähnlich gelagertes Porträt hat 2021 Pinar Öğrenci entstehen lassen. Der Kurator zeigt es in der zweiten Etage, auf einem Flat-Screen. Das Remake kommt als Update daher. In der Ausstellung kehrt es (nach einer Unterbrechung) wieder.
 

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Filmische Inventuren: Das Video von Pinar Öğrenci als Remake von Žilniks Kurzfilm Metzstraße 11 / Foto: Salto.bz


Humorvoll und melancholisch ist die Abreit The Song von Bani Abidi, in der es um einen Moment des Ankommens geht. Nach erfolgter Migration eines älteren Mannes aus einer Metropole „des globalen Südens in eine mitteleuropäische Stadt“, findet ein symbolischer Akt des Ankommens statt. Der Künstler zeigt die Schwierigkeit oder die Herausforderung sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Der Mann im Film schafft sich eine Geräuschkulisse, die ihn an sein Herkunftsland erinnert, da es ihm in seiner Wohnung zu leise ist. Es ist eine mit „einfachen Mitteln erzählte, poetische Vergegenwärtigung“ eines schlichten Umstandes. Sie will nachfragend aufzeigen, „was denn eigentlich Normalität ist und wie sehr abhängig wir von den Lebensumständen sind, in denen wir aufwachsen.“
 

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Gegen die Stille: Bani Abidi und "The Song" / Foto: Salto.bz


Die "Projektion" Les Indes Galantes von Clèment Cogitore lädt zum Tanz in der "Dunkelkammer" ein. Das Stück entstammt der gleichnamigen Barockoper des französischen Komponisten Jean-Phillipe Rameau. Seit ihrer Uraufführung erzählte sie dem Opernpublikum vom Liebesleben in fernen Ländern. In der Neuinterpretation aus dem Jahr 2017 lassen zahlreiche Streetdancer*innen ein archaisches Friedenslied, mit Friedentanz und Friedenspfeife entstehen. Am liebsten würde man stampfend mittanzen.
„Ja das entspricht meinem kuratorischen Interesse“, sagt Schafaff auf die Frage ob die Auswahl der Vielheit an Ausdrucksformen auch im Zentrum seiner Zusammensetzung stand. Dementsprechend wurden auch Architekturmodelle von Ecaterina Stefanescu Teil von "seiner" Vielheit. Sie nennen sich Rooms und haben die rumänische Diaspora zum Inhalt. Der Künstlerin und Architektin schien es passend über den klassischen Modellbau, die Lebenssituation, die Migration aus Rumänien, festzuhalten und ihr dadurch eine verkleinerte aber maßstabsgetreue Sichtbarkeit zu geben.
 

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Rumänische Rooms: Einblicke in eines der Modelle von Ecaterina Stefanescu / Foto: vSalto.bz


Am Ende der Ausstellung kommen die Besucher*innen erneut am prächtigen Blumenstrauß vorbei und sehen im einheitlichen Weiß der Blumenpracht vielleicht den einen oder anderen Farbklecks. Vielheit und Kunst sind hier allemal gelungen. 
 

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Migration und Knüpftechnik: Arbeiten der Künstlerin Haegue Yang / Foto: Salto.bz