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„…sich auf seinen Rhythmus einlassen“

„Rimusicazioni“ will dem Stummfilm das zurückgeben, was aus heutiger Sicht oft vergessen wird: den Klang. Festivalleiter Paolo Cipriano zur Suche nach dem richtigen Ton.
Paolo Cipriano, Faust
Foto: Paolo Cipriano
Nachdem das Festival „Rimusicazioni“ vor zwei Wochen seine Rückkehr nach einer Pandemiepause mit zwei Konzerten gefeiert hat, haben wir Paolo Cipriano, gemeinsam mit Francesca Badalini künstlerischer Leiter und Bandleader von Supershock gesprochen. Zu sehen war er am zweiten Festivalabend mit Band und einer extatisch rauschhaften Version der Passion der Jungfrau von Orleon. Nachdem das Konzert vorbei war, haben wir uns mit ihm über das Festival und die Vertonung von Stummfilmen unterhalten.
 
Herr Cipriano, das Vertonen von Stummfilmen ist eine interessante Nische. Wie haben Sie Ihren Weg dorthin gefunden?
 
Paolo Cipriano: Meine persönliche Erfahrung nahm ihren Ausgang vor 20 Jahren von künstlerischer Neugier. Ich bin Musiker, aber auch von zahlreichen anderen Kunstformen fasziniert, nicht zuletzt vom Kino und fand Stummfilme immer außergewöhnlich. Der Anfang ist denke ich immer das Erproben der eigenen musikalischen Fertigkeiten. Wichtig ist, dass Stummfilm nie stumm war, dass er immer musikalisch begleitet wurde. Als ich um 2000 anfing, hörte man nicht viel davon. Mein persönliches Glück war also vielleicht, dass ich früh an dieses neue Format geglaubt und mich darauf spezialisiert habe.
Ich lebe in Turin, wo es das „Museo nazionale del Cinema“ gibt, was in meinem Fall wichtig war, da es zu jener Zeit an eine Gruppe junger Musiker geglaubt hat. Ich war knapp über 20 Jahre und der erste Film den ich vertont habe war „Nosferatu“, was eine Auftragsarbeit war. Ich habe in großen Sälen der Stadt mit ihrer Werbung spielen können, was einen größeren Schub bedeutete. Das war ein gefährliches Sprungbrett, zu unserem Glück kam es gut an und wir haben jedes Jahr eine neue Vertonung vorgenommen, angefangen beim deutschen Expressionismus: Nosferatu, Metropolis, Golem, Kaligari, Faust und weitere. Wir haben uns auf das Französische Kino und den Dadaismus ausgeweitet. In Zukunft geht es mit dem Cineforum Bozen sicher auch in Richtung Russland. Das ist ein weites Feld, das kein Ende kennt: Es gibt nicht nur viele Filme, sondern auch interessante Strömungen auf Seiten der Musiker. Wenn man sich als Musiker einem Stummfilm annähert findet man immer neu Dinge heraus, wächst ein Stück weit als Künstler.
Zuallererst würde ich jungen Musikern raten, dass es Spaß machen muss, die eigene Musik an eine Filmsequenz anzupassen. Es stimmt, dass die Vertonung eine Nische ist, was aber auch Verbindungen herstellt für Konzerte, Projekte und Tourneen. Wie alles was speziell ist, gilt es sich zu spezialisieren und seinen eigenen Stil zu finden, was mir denke ich früh gelungen ist.
 
 
Paolo Cipriano, Faust
Paolo Cipriano: Beim Cineconcerto zu Faust. Nicht zuletzt geht es auch darum, eine dichte Atmosphäre zu schaffen. | Foto: Paolo Cipriano
 
„Nosferatu“ war der erste Film den Sie vertont haben und erst letztes Jahr haben Sie das Projekt in Bozen aufgeführt. Wie sehr entwickelt sich ein solches Projekt in rund 20 Jahren?
 
Diese Entwicklung betrifft sowohl meine Musik, als auch den Film. Auf welche Weise? Es kommt vor - zumindest bei mir - dass man nach 10, 15 Jahren in denen man ein Projekt auf Tournee nimmt, auch die Version des Films wechselt. Angefangen habe ich mit einer 90-minütigen, englischen Schwarzweißfassung, bevor mich das „Museo nazionale del Cinema“ von einer Farbfassung, ca. 80-minütigen restaurierten Fassung überzeugt hat. Ich habe dann viel in Frankreich und in den USA gearbeitet und musste die Zwischentitel adaptieren. Dabei habe ich dann wieder eine andere, 70-minütige Fassung gefunden, die abermals in schwarzweiß war. Bei dieser bin ich geblieben. Man darf nicht vergessen, dass ein Cineconcerto eine Live-Veranstaltung  ist, wobei auch nicht immer gesagt ist, dass kürzere Fassungen immer besser funktionieren. Wenn man die richtige Dimension findet, merkt man, dass alles besser läuft. Dabei ist das eine ein Konzert für Cineasten, das auch für Stunden über Stunden laufen kann, das andere sind was ich Konzerte auf Plätzen nennen möchte. Man spielt vor einem Publikum, welches vielleicht noch nie einen Stummfilm gesehen hat, da trägt die richtige Version viel zum Gelingen bei.
Das ändert auch die Musik, nicht nur weil Sequenzen wegfallen, sondern auch weil wir zu Beginn zu fünft gespielt hatten. Unser Schlagzeuger zu jener Zeit, der eine klassische Ausbildung genossen hatte, spielte teils Schlagzeug und teils Marimba. Das ganze Projekt war, wenngleich es Rock war, klassischer und symphonischer strukturiert. Wir sind langsam von fünf zu drei Musikern übergegangen und zu einer Version die etwas härter und mehr „chiaro-scuro“ war, weniger romantisch. Es ist auch nicht gesagt, dass sich das in den kommenden Jahren nicht wieder ändert und man vielleicht auch zum bereits dagewesenen zurückkehrt. Das erlaubt einem, dass es nicht langweilig wird, auch wenn man, wie es bei uns bis Covid der Fall war, eine beachtliche Zahl an Konzerten spielt.
 
Von welcher Zahl sprechen wir hier?
 
Wir werden an die 1000 Cineconcerti gegeben haben. Zeigt man Filme wie Nosferatu oder Metropolis je 300 mal, dann müssen sie notwendigerweise leben und sich etwas verändern.
 
Die Passion der Jungfrau von Orléans, Supershock
Die Passion der Jungfrau von Orléans: Der Film zeichnet im Hintergrund Stimmungsbilder über lange, enge Einstellungen. Die Band im Vordergrund zeichnet sie als Triumph. | Foto: Privat
 
Wenn wir auch auf die verschiedenen Versionen von Filmen blicken, dann ist das ein wechselseitiger Annäherungsprozess: Wie sehr müssen sich der Film der Musik und wie sehr die Musik dem Film annähern? Muss die Musik dem Film dienen oder darf der Film als die Musik verstärkendes Element betrachtet werden?
 
Gehen wir davon aus, dass der Film der originale, um ein Jahrhundert vorangegangene Text war. Es muss immer Respekt dafür geben. Der Film ist da und man muss als Musiker verstehen, ob man ihm ähnelt, ob die eigene Musik geeignet ist. Das muss aber nicht eine dienende Tätigkeit sein, man muss ja auch nicht den Sound zu Beginn des 20. Jahrhunderts rekreieren. Hat man einen Film bereits 50 oder 100 mal gesehen, dann wird er in gewisser Weise Teil von einem. Man muss sich auf seinen Rhythmus einlassen. Dann kann man unbesorgter und instinktiver mit der eigenen Musik arbeiten und verzerrte Gitarren passen dann - meiner Meinung nach - gut. Das sind alles Meinungen, dann heißt es manchmal auch: „Der Film war schön, die Musik war schön, aber zusammengepasst hat es nicht.“ Das ist nur natürlich und muss gelassen hingenommen werden.
Wann aber helfen sich Musik und Film gegenseitig? Es wird eine schöne Vertonung, wenn die Musik nicht mehr nur eine Begleitung, sondern ein Kontrapunkt zum Film ist. Es gilt nicht bloß zu unterstreichen, es muss sein als ob beide Elemente eine chemische Verbindung eingingen. Wenn ich eine gelungene Vertonung sehe, etwa von den Sincopatici oder von Yo Yo Mundi, die eine sehr gelungene Version von „Sciopero“ („Streik“ von Sergei Eisenstein, 1925) gestaltet haben, gibt es Momente oder Sequenzen in denen man meinen könnte, es sei so entstanden. Es entsteht ein Austausch.
 
Zum Projekt Rimusicazioni gehören neben den Live-Konzerten auch ein Wettbewerb und die Produktion von DVDs. Wie gestaltet sich dabei die Frage nach den Filmrechten?
 
Diese werden nie „frei“. Ist ein Film 100 Jahre alt, wie das bei den meisten Stummfilmen der Fall ist dann kann man die Filme live zeigen und vertonen ohne dass es größere Schwierigkeiten gäbe, mit Ausnahmen. Als ich in Dubai gespielt habe musste ich bei Transitfilm anrufen, welche im Besitz der Filmrechte des originalen „Nosferatu“ und „Metropolis“ sind, weil die Gesetze auch von Land zu Land unterschiedlich sind. Das wurde mir ohne große Schwierigkeit erlaubt, da ja Interesse besteht, dass die Filme gezeigt und gesehen werden.
Arbeitet man aber an einem Produkt, das vervielfältigt und verkauft werden soll, wird es schwieriger. Die Komplexität beginnt damit, dass man verstehen muss, welche Filmkopie das Ausgangsmaterial war und wer wo über deren Rechte verfügt.
 
Eines Ihrer Projekte war auch eine Collage unter dem Titel „Silent Porn“. Ich kann mir vorstellen, dass die Frage der Rechte dabei noch schwieriger war…
 
Ja, das war eine andere Sache. Dabei weiß man nicht, wo die Filmrechte liegen und es kursieren verschiedene Fassungen… Warum diese Unklarheit? Weil es sich um Erotikfilme handelt, die damals bereits verstohlen weitergegeben wurden. Es gibt DVDs, von welchen ich einige besitze und mir einige das Cineforum Bozen vermittelt hat. Ich habe eine Auswahl getroffen um in einer  Stunde einen Einblick in jene Zeit zu geben. Wir sind mit dem Projekt getourt, haben aber noch nie eine DVD produziert, was schwierig wäre. Ich muss gestehen, dass meist nicht ich es bin, der sich darum kümmert, sondern Personen, die mehr von Filmrechten verstehen.
 
Zum Wettbewerb finden sich online zur diesjährigen Ausgabe noch kaum Informationen. Können Sie vorab bereits etwas verraten? Was plant man noch im Bereich Rimusicazioni?
 
Wir sind noch in einer Aufbauphase, so dass wir zu den Zeiten noch nichts offiziell machen können. Wir haben vor, ab September die Ausschreibung online zu stellen und zu kommunizieren. Wir wollen dabei nicht nur ganz Italien ansprechen, sondern den Wettbewerb von Jahr zu Jahr weiter internationalisieren. Der erste Schritt wird es sein die Aufmerksamkeit junger und weniger junger Künstler zu erlangen, welche ihre Arbeiten vorstellen wollen und im Herbst und Winter wird sich eine Jury, die wir gerade zusammenstellen mit den Einreichungen befassen. Als großes Finale planen wir ein Wochenende an welchem die Finalisten vorgestellt werden und sich entscheiden soll, wer gewinnt. Das auch, weil es eine gute Gelegenheit zur Vernetzung innerhalb dieser Nische bietet. Wir arbeiten derzeit daran eine Achse zwischen Turin, wo ich lebe und arbeite und Bozen aufzubauen. Mit September startet wenig außerhalb Turins auch die Arbeit für ein Residenzprogramm für Künstler in einem ehemaligen Nonnenkloster. Dieser Ort wird von September bis Dezember saniert werden und es sollen Räume entstehen, welche für Kunst, Musik oder etwa Tanz genutzt werden können. Das ist auch das Schöne an Rimusicazioni: Künstler können sich untereinander vernetzen. Das wird ein schönes Projekt für nächstes Jahr.
 
Paolo Cipriano, Faust
Paolo Cipriano, Faust: Ist es bei einem Stummfilmkonzert nun besser oder schlechter, wenn man den Text nicht versteht? | Foto: Paolo Cipriano
 
Hilft es Ihnen oder ist es eher ein Hindernis, dass wenn sie zu Stummfilmen singen, was unüblich ist, Sie das in Englischer Sprache mit einem Italienischen Akzent tun? Persönlich hätte ich mich bei Ihrem Konzert nicht auf den Text konzentrieren können…
 
Ich habe auch in englischsprachigen Ländern getourt und auch hier in Italien sind wir es etwa nicht gewohnt, Ausländer Italienisch sprechen zu hören. Auf unserer Halbinsel werden ja nach wie vor Witze über den Akzent einzelner Provinzen gemacht. Englisch wird mittlerweile ja wirklich von allen gesprochen und als ich in New York war, habe ich erstmals gar nichts verstanden, weil man nicht mal dort „Amerikanisches“ Englisch hört, sondern viele verschiedene Dialekte, oft auch mit groben Fehlern.
Als ich vor einigen Jahren anfing vor Amerikanern zu singen, machte mir das große Angst und so fragte ich nach meinen Konzerten Kollegen vor Ort, wie ich mich geschlagen hatte. Bei meiner ersten Tour, die mich nach Arizona führte, kümmerte sich der Bassist von Calexico um die Technik dieser Tournee. Ich war damals nicht nur wegen meines Akzents nervös, sondern auch weil der Rocksound, den ich mache dort entstanden ist. Da hat man Zweifel. Er hat mich immer unterstützt und meinte, dass es sehr interessant sei und nannte mir Beispiel mit Bands mit ausländischen Sängerinnen und Sängern, die Erfolg hatten.
Was die Verständlichkeit anbelangt gebe ich Ihnen recht, weder die Amerikaner noch die Italiener haben mich verstanden, was mit meiner Art zu singen zu tun hat. Ich vokalisiere stark und zersetze dabei das Wort. Ich bemühe mich den Klang der Worte vage zu lassen. Wenn es mehr ein Klang als ein Wort ist, das ich von mir gebe, dann habe ich das Gefühl, dass die Verbindung zum Film nicht abreißt. Ich habe öfters daran gedacht, auf Italienisch zu singen, weil die Musik dadurch in Italien leichter zu vermarkten wäre, aber auf Englisch zu singen, das kam für mich immer natürlicher zu Stande.