Kultur | Theater

„Die Welt ist ein Jammertal“

Am Samstag feierte das Stück „Die Guten“ im Studio-Theater der VBB Premiere. Es geht rund 100 Minuten rasant dahin und wirft eine Unmenge an Fragen auf. Und Antworten?
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Foto: Anna Cerrato
  • Als das Theater Heidelberg im Rahmen eines Autor*innen-Festivals vor wenigen Jahren das Thema Widerstand anzugehen plante, habe es sie gereizt „etwas über eher misslungene, heuchlerische Formen des Widerstands zu schreiben“, meint die Autorin Rebekka Kricheldorf im Gespräch mit dem VBB-Dramaturg Daniel Theuring. Von den „Ambivalenzen des ethischen Konsums, Greenwashing, woke capitalism“, erzählt Kricheldorf weiter, sei sie dann „zu universelleren Moralfragen und den Kardinaltugenden“ gekommen. Und (fast) fertig war das Stück. Es feierte seine Uraufführung 2022 beim Remmidemmi-Widerstandsfestival, welches an den Anschlag der RAF auf das Hauptquartier der US-Streitkräfte auf dem Gelände der Campbell Barracks erinnerte – zum 50sten.
     

  • Tugend im Nebel: Inventur des gesellschaftspolitischen Verhaltens Foto: Anna Cerrato

    Seit Samstag ist Kricheldorfs Bühnenstück Die Guten im Studio des Stadttheaters in Bozen zu erleben. Die vier Kardinaltugenden Fortitudo (Antje Weiser), Justitia (Nico Dorigatti), Temperantia (Jasmin Mairhofer) und Prudentia (Peter Schorn) treffen sich alle paar Jahre zur Inventur des gesellschaftspolitischen Verhaltens. So auch zu gegebenem Anlass. 
    Sie geben sich als unnahbare griechische Gottheiten, hetzen als Klamauk-Figuren (Kostüme: Katia Bottegal) über die Bühne (Alexia Engl), als wären sie einem Berliner Revue-Theater von vor hundert Jahren entwischt. Während damals allerdings der Nazi-Terror und der scheinheilige Faschismus aus Italien (will-)kommend vor den Toren der Berliner Theater auflauerte, sind es heute mächtige Marionetten scheinbarer Demokratien in Bozen und anderswo. Dem Fascho- und Turbo-Kapitalismus sei Dank. Die Hauptfiguren jubeln, grölen, irren und unterhalten. Sie servieren eine hohe Gag-Dichte und hüpfen von da nach dort, rappen, zappeln, hadern oder ziehen sich ängstlich im Schrank zurück, etwa wenn die Keuschheut sich (mit Einhorn) ankündigt. 
     

    "Wer im Maß-halten jedes Maß verliert, ist eventuell unmäßig maßvoll und demnach maßlos."


    Die Gerechtigkeit (im haarigen Trump-Style) gerät sich immer wieder in die Haare, ob mit den anderen oder mit sich selbst. Der strenge und weinerliche Mut in Weinrot brüllt hingegen gerne wie (s)ein Löwe, der Klugscheißer in blauer Schuluniform à la Milhouse von den Simpsons, ist mit allerhand Wissen dabei, während die Mäßigung lieber in der Wanne eine Ente als deren drei herumschwimmen lässt. Oder mit teuflisch schriller Stimme brüllt, was sie wirklich anfrisst. „Ich mag ja alle vier sehr gern, aber am nächsten ist mir Temperantia, die Mäßigung. Vielleicht, weil ich das Ringen um sie persönlich sehr gut kenne“, meint die Autorin zu den von ihr erdachten Figuren. 
    Im Grunde eines lieben und guten Herzens, sind einem alle (vier Schwestern) lieb auf der Bühne. Beobachtend – bis zur (möglich) eintretenden Selbstbeobachtung – gesellt sich das Publikum tugendhaft dem schrill agierenden Kleeblatt hinzu, lacht manchmal schier endlos mit oder lässt den Lacher im Halse stecken. 
     

    "Ich bin fucking Justitia! Und mir wird seit Jahren dreist ins Gesicht gekotzt!"

  • Dies oder das: Habgier, Hochmut, Völlerei und Wollust oder Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Klugheit? Die Regie für Bozen besorgte Elke Hartmann, die Regieassistenz machte Theresa Prey. Foto: Anna Cerrato

    Thomas Gottschalk, Thomas von Aquin, Platon, Anne Dufourmantelle, Alexei Nawalny, Chelsea Manning, Nadeschda Tolikonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch Marija Aljochina von Pussy Riot, Gisèle Pelicot, Malala Yousafzai. Die einen erhalten ein „Praise! Praise! Praise!“ die anderen Stirnrunzeln, Spott oder Hohn, im besten Fall einen müden Lacher. So auch die 68er, „die als Sozialrevoluzzer“ ausgezogen waren (!) und als „deformierte, geile, narzisstische Säcke“ zurückkamen. Wer sind denn nun aber die Guten, wenn nicht die friedlichen 68er, mit frischem Gras und freier Liebe? Und wohin führt dieser temporeiche Abend mit Odysseus am Steuer überhaupt? 
    „Konzentrieren wir uns auf Wichtigeres. Bleibenderes. Existenzielleres. Wir wollten hier was verbessern“, meint gegen Ende Fortitudo. Mahnend? Erinnernd? Warnend? Symolisieren? schauen sich sich anderen nachdenkend an. „Weniger posten, mehr fighten!“ ist jedenfalls einer der guten Tipps von Fortitudo gegen Ende des Stücks. 
    Dann geht es ab in den Club, mit Zutritt „nur noch für Gewohnheiten“ oder „genetische Dispositionen.“ 

  • Praise! Praise! Praise!: v. l. Antje Weiser, Nico Dorigatti, Jasmin Mairhofer und Peter Schorn Foto: Anna Cerrato
  • Und wie steht es um das „Fazit? Eine Conclusio? Bilanz? Botschaft? Message?“ fragen sich Publikum und Prudentia. Die Antworten nach dem turbulenten Theaterabend werden (abgesehen von einem Footage-Clip) nicht unmittelbar auf der Bühne gegeben (dazu bleibt auch zu wenig Zeit zwischen den Dialogen), sondern warten vor den Toren des Studios, in der mit zahllosen Kameras überwachten und verschlafenen Stadt Bozen. Gute Nacht - und nichts wie rein ins Theater.