Kultur | Theater

Flutende Vision

Ein Theaterstück erzählt von den Anfängen zum Reschenstausee. Es verzichtet auf Opfergetue und mitleidiges Gejammer, sondern zeigt neue Blickwinkel und alte Parallelen.
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Foto: Marco Sommer
  • Irgendwann während des zweiten Teils des VBB-Theaterabends plätschern feinst-hämmernde Rhythmen Richtung Zuschauerraum. Der wackere Song I give you the morning der schwedischen Band Kite tönt aus den Boxen und vermittelt textlich ein Gefühl vom Schlafen zum Erwachen. Der Name der Band entspricht – was für Zufall – der Bezeichnung einer lässigen Trendsportart, bei der Sportler*innen nach den windigen Chaos-Regeln des Drachensteigenlassens auf einem Brett über das Wasser gleiten. Kitesurfen funktioniert hervorragend am Reschenstausee, wo man als Kite-Künstler*in obendrein noch einen historischen Kirchturm umrunden kann. Amazing. 
    Das Theaterstück Die treibende Kraft – es feierte am vergangenen Samstag Premiere – sorgt dafür, dass im sprichwörtlichen Sinn: die Kirche (und der Turm) von Alt-Graun nicht mehr im Dorf bleiben, wohlwissend was das aus dem Wasser ragende Überbleibsel mittlerweile bedeutet – Money und Krokodilstränen! Denn wie gut das Geschäft mit dem hippen Wasserturm läuft, können im touristisch unterentwickelten Oberen Vinschgau vor allem die im Tourismus arbeitenden Menschen bestätigen. Lange wurde die Geschichte zum gefluteten Gebiet am mittlerweile zum Hotspot geadelten Turm sehr stiefmütterlich behandelt. Bis in die 2000er Jahre hinein gab es nur sehr wenige Notizen zum Verschwinden der Häuser und noch weniger zum großen Wasser


    Das erzeugt Achselzucken bei den einen, Bauchkrämpfe bei den anderen. Auch geballte Fäuste des Widerstands.


    Bereits Jahrzehnte vor dem Größenwahnsinn von Futurismus und Faschismus wurden für die Reschengegend massive Eingriffe und Zukunftsvisionen geplant, etwa in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als man vor allem in der Kurstadt Meran begann die Werbetrommel für den Reschen zu rühren. Erste Pläne für ein Stauwerk gab es 1911 vom damals jungen Wissenschaftler (und späteren Anhänger der Nationalsozialisten) Raimund von Klebelsberg

  • Zukunftsvisionen: Ich seh einen See... Foto: Marco Sommer

    Das Stück Die treibende Kraft bringt die „aufgestaute“ Geschichte von Graun und Reschen in spannungsgeladenen Szenen auf die Bühne. Neu und so frisch wie ein Bad im kühlen Nass. Der Schriftsteller Thomas Arzt hat es als Auftragswerk erdacht und niedergeschrieben. Zwar bediente er sich der seit über einem Jahrzehnt akribisch betriebenen historischen Aufarbeitung, setzt aber in der Umsetzung (für das von Intendant Rudolf Frey inszenierte Stück) gänzlich auf unerwartete Rahmen-Geschichten, die es vermögen einen breiten Blick auf den See und das „Ausmaß“ des landschaftlichen Eingriffs zu richten. Nachts träumte Arzt davon „in den Turm zu klettern und einen Schatz zu finden. Oder ein Skelett, oder Nazi-Runen. Oder Widerstands-Kassiber. Oder ein geheimes Paradies vorzufinden, in dem die letzten Pflanzen und Tiere überleben.“ Für seine Erzählstränge warf er wie ein ungewisser "Kapitän" gleich zwei Anker ins Wasser, der eine hält sich an der Vergangenheit fest, der andere rudert an Ort und Stelle in der Gegenwart suchend. Für ein besseres (und nicht zu festgefahrenes) gemeinsames Morgen!

  • Treibende Kraft: Die historische Stauung auf der Theaterbühne entstauben Foto: Marco Sommer

    Die treibende Kraft ist keine „Opfererzählung“ und „keine Dokumentation des bereits Dokumentierten“, vielmehr ein Drama des Fortschritts und eine Kritik am uferlosen Kapitalismus. Dementsprechend richten sich die Erzählperspektiven weniger auf den spitzen Turm, sondern auf den langgezogenen Staudamm, der „keine Gefahr darstellt“ , vielmehr „eine Vision, die Glück verspricht!“ Wie aber den Umgang mit den „realen Biografien“ und „der tatsächlichen Geschichte“ gestalten, fragte sich Autor Arzt? Geworden ist sein Stück am Ende eine „Suche nach dem Heute in dem Stauseedrama“ und nach „Strukturen des Erinnerns“. In der dramatischen Handlung kittet Arzt verschiedene Blickwinkeln zusammen und kitet mit ihnen gemeinsam über den Stausee, dockt an abwechselnde Erinnerungshäfen, an denen er mal offensichtlich und mal spurlos vorüberzieht und ein dichtes Netz an Gefühlen und Sichtweisen entstehen lässt, das die Zuschauer*innen sanft vom Gestern ins Heute katapultiert. Und umgekehrt. Auch vom autoritären Faschismus (einst und jetzt) ist die manchmal die Rede. Das erzeugt Achselzucken bei den einen, Bauchkrämpfe bei den anderen. Auch geballte Fäuste des Widerstands.

  • Vinschger Seebühne: Blicke über die eigenen vier Wände hinaus Foto: Marco Sommer

    Das Stück zu Südtirol bekanntestem See dreht sich um einen humpelnden Ingenieur, einem scheinbar empathielosen Techniker, der mit seiner Vision vom modernen Staudamm ein zu sprengendes Dorf und zu flutende Felder herbeisehnt. Und dann gibt es da noch die Forscherin, die sich 7 Jahrzehnte später auf Spurensuche macht. Sie hat Fotos im Gepäck und möchte der Sache auf den (See)-Grund gehen, eintauchen in die historische Wahrheit. Die Schauspieler und Schauspielerinnen Elke Hartmann, Karin Verdorfer, Peter Schorn, Patrizia Pfeifer, Fabian Mair Mitterer, Stefan Wunder, Daniel Wagner, Hanenn Huber und Roman Blumenschein agieren nicht nur bravourös, sondern oft zeitgleich in farbenfrohen oder farblosen Kostümen. Aber nicht immer sind sie epochengleich. Das sich abwechselnde Mischen von Figuren und zeitversetzten Handlungen funktioniert, auch dann, wenn Sätze als Kunstgriff gestaltet manchmal halbfertig zurückbleiben, da sie keinen Punkt benötigen, als wären sie plötzlich abgetaucht. 
     

    Der See wird zum Gewinner, der mit seinem Turm mindestens so wichtig für den Tourismus ist, wie der Vinschger-Wind beim Kitesurfen.

  • Die treibende Kraft ist keine Nabelschau und blickt nicht mit dem immer gleichen Fernglas auf Turm und See, auch nicht durch die rosarote Brille zeitnaher Faschismus-Versteher*innen und Faschismus-Verdreher*innen. Die Inszenierung mag sich vielleicht vor der Pause in die Länge ziehen, im zweiten Teil schließt sie auf und erobert verlorengegangenes Land und die Spitze des Kirchturms zurück. Der See wird zum Gewinner, der mit seinem Turm mindestens so wichtig für den Tourismus ist, wie der Vinschger-Wind beim Kitesurfen. I give you the morning.

  • Windige Angelegenheit: Surfende Suche nach Fortschritt und dem Glück im Morgen Foto: Marco Sommer