Fortschrittliche Lösungskonzepte
salto.bz: Vor genau einem Monat feierten Kurdinnen und Kurden ihr wichtigstes Fest: Newroz. Wo haben Sie gefeiert?
Kerem Schamberger: Ich war im Urlaub. Es war seit zehn Jahren das erste Mal, dass ich nicht in irgendeiner Form an einer Newroz-Feierlichkeit teilgenommen habe.
Welche Bedeutung hat das Newroz-Fest für die kurdische Gemeinschaft?
Newroz bedeutet Neujahr, ist aber nicht wie unser Silvester, ein unpolitisches Fest, wo man böllert und trinkt. Newroz ist ein sehr politisches Fest, ein Fest des Widerstandes. Wenn man sich die Mythologie dieses Festes ansieht, so gibt es die Überlieferung, dass es im Jahr 621 vor unserer Zeitrechnung einen bösen Herrscher gegeben haben soll, der vom Schmied Kava umgebracht wurde. Dieser böse Herrscher hatte zwei Schlangen auf seiner Schulter, die jeden Tag ein Kinderhirn haben wollten. Manchmal hatte man aber den Schlangen auch Lammhirne gegeben und man hat die dadurch gedeckten Kinder in die Berge geschickt. Laut Mythologie sollen diese Kinder dann das Volk der Kurden gebildet haben.
Eine schöne Geschichte. Und die Tradition der Newroz-Feuer?
Nachdem Kava den Herrscher erschlug, zündete er mehrere Feuer an. Deshalb macht man das auch heute noch. Und man feiert in seinem Sinn das Ende von Diktatur und Unterdrückung. Es ist das Fest der Freiheit, und ist es bis heute geblieben.
Der Wahlsieg der Opposition in Istanbul ist eine Zäsur: Ekrem Imamoglu von der Partei CHP hat die Wahlen gewonnen. Wie beurteilen Sie diese Wende? Was bedeutet sie für die Kurden?
AKP-Chef Erdogan hat ja drei Mal eine Wiederauszählung in manchen Stadtteilen Istanbuls gefordert. Das wurde genehmigt und die CHP (Cumhuriyet Halk Partisi/ Republikanische Volkspartei) war mit Ekrem Imamoglu immer vorne. Es läuft aber noch ein Einspruch der AKP, die in Istanbul Neuwahlen wollen. Es gibt da gerade hinter den Kulissen sehr große Machtkämpfe.
Aus der Sicht der Kurden muss man sagen, dass die Wahlstrategie der HDP (Halkların Demokratik Partisi/Demokratische Partei der Völker) sehr gut aufgegangen ist. Diese bestand aus zwei zentralen Punkten: In den kurdischen Gebieten der Türkei, konnten nämlich durch starke Kandidaten viele Gemeinden zurückzugewonnen werden, Bürgermeister wurden abgesetzt, die in den letzten zwei, drei Jahren durch Zwangsverwalter oder Stadthalter der AKP eingesetzt wurden. Zudem war es gut, dass die HDP in den großen Städten – Izmir, Ankara, Antalya, Mersin – keine eigenen Bürgermeisterkandidaten aufgestellt hat und stattdessen ihre Wähler dazu aufrief, die Partei der kemalistischen Opposition zu wählen, die CHP. Diese Strategie ist aufgegangen. Nun haben wir in den großen Städten Bürgermeister der kemalistischen Opposition an der Macht – auch dank der Stimmen der HDP.
Sie sind in München geboren. Ihre Mutter stammt aus Bayern, ihr Vater aus dem türkischen Karaman in Mittelanatolien. Woher kommt Ihr Engagement für die kurdische Geschichte, für kurdische Fragen?
Ich bin seit zwanzig Jahren politisch aktiv. Im Grunde aus einem Internationalismus heraus, um mich dort zu engagieren, wo Menschen unterdrückt werden, mich eben an ihre Seite zu stellen. Als Halbtürke trage ich auch eine gewisse Verantwortung, wenn in einem Land, aus dem ich teilweise komme, Menschen seit Jahrzehnten strukturell, massiv unterdrückt werden.
Ich finde zudem, dass das Lösungskonzept der kurdischen Freiheitsbewegung, sehr fortschrittlich ist, sich von einem kurdischen Nationalismus abwendet und versucht Lösungen zu propagieren, um einen Demokratischen Konföderalismus voranzubringen, also einem Zusammenleben, jenseits von Staat, bzw. Nationalstaat.
Frauen organisieren sich mittlerweile größtenteils autonom und können selber entscheiden.
Wie setzt sich die kurdische Freiheitsbewegung zusammen?
Ausgangspunkt war der November 1978, als im kurdischen Teil der Türkei die PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê/Kurdische Arbeiterpartei) gegründet wurde. Wenn ich aber sage "Kurdische Freiheitsbewegung", dann meine ich damit mehr als die PKK, ich meine damit auch all jene, die eben der Weltanschauung von Abdullah Öcalan was abgewinnen können. Es ist eine große soziale Bewegung, es gibt Frauenvereine, Nachhilfevereine, Kulturzentren…
Die kurdische Frauenbewegung ist eine der größten Frauenbewegungen weltweit. Wie ist das zu erklären?
Das war am Anfang natürlich innerhalb der PKK sehr umstritten, denn auch dort dominierten in den 1980/1990er Jahren patriarchale Verhaltensweisen, von männlichen Kurden, die nicht wollten, dass sich Frauen eigenständig engagieren. Gleichzeitig war die Partei aber häufig auch Sammelbecken für Frauen, die aus eben solchen patriarchalen Strukturen geflohen waren. Diese Frauen haben dann innerhalb der PKK, die Freiheit der Frau propagiert und auch viel erreicht. Frauen organisieren sich mittlerweile größtenteils autonom und können selber entscheiden.
Sie waren für einen längeren Zeitraum in Rojava, in Nordsyrien. Als Münchner fanden Sie dort Ähnlichkeiten zum Münchner Rätesystem vor 100 Jahren?
Das Modell in Rojava ist wirklich spannend und basiert auf drei Säulen: es ist eine neue Form von Demokratie – die so neu gar nicht ist, und wie bei der Münchner Räterepublik, als Rätedemokratie funktioniert und das Entscheiden von unten nach oben propagiert. Die Städte, Stadtteile und Dörfer werden in verschiedene Rätestrukturen aufgeteilt, die Räte werden von rund acht Kommissionen beraten. Die Kommissionen speisen sich aus den Menschen die in den Stadtvierteln leben. Die zweite Säule ist der Befreiung der Frau gewidmet und die dritte Säule manifestiert sich in einer Art ökologischem Paradigma.
Ökologisches Paradigma?
Es entstehen Genossenschaften und Kooperativen, in der Landwirtschaft wird beispielsweise ohne künstlichen Dünger gearbeitet, Verpackungsmaterial wird eingespart. Diese wachsenden Sektoren werden von den Räten in diesem Gebiet bewusst unterstützt.
Das Ganze ist natürlich nicht widerspruchsfrei, denn das Projekt findet inmitten eines großen Krieges statt, nicht nur einem Bürgerkrieg, auch einem internationalen Krieg. Es gibt massive soziale Verwerfungen, es gibt Tod und Leid. Aber gerade deshalb ist es so erstaunlich, dass die Menschen in dieser Region etwas Neues auf die Beine stellen.
Wie lässt sich die Entstehung dieser kurdischen Insel der Freiheit in Syrien nachvollziehen?
Das ist nicht einfach. Man hat dort seit Jahrzehnten ein strukturelles Unterdrückungsverhältnis gehabt. In den 1960/1970er Jahren wurde Hunderttausenden der Pass entzogen, diese Kurden waren Jahrzehnte lang staatenlos. Es wurden zudem bewusst arabische Bevölkerungsanteile in kurdischen Gebieten angesiedelt. Seit sich Ende 1979 der führende PKK-Kader im Zuge des bevorstehenden Putsches in der Türkei nach Syrien zurückgezogen hatte, war auch Abdullah Öcalan bis 1999 in dieser Gegend. 20 Jahre hat er dort die PKK, mit ihren sehr ausgebauten Strukturen im Untergrund, halb anerkannt von Assad, gewirkt und gearbeitet. Das hat seine Spuren hinterlassen und die Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung in vielen kurdischen Dörfern und Städten ist mittlerweile sehr groß, auch weil sich viele syrische Kurden der PKK angeschlossen haben.
In Ihrem Dissertationsprojekt untersuchen Sie das kurdische Mediensystem. Wie unterscheidet es sich von anderen Mediensystemen?
Ich weiß jetzt nicht wie das Mediensystem in Italien oder Südtirol ist, aber ein großer Unterschied zum deutschen Mediensystem ist schon festzustellen, dass nämlich die Medien dort immer parteipolitisch zugeordnet werden können. Wenn ich also ein Medium konsumiere, weiß ich auch dessen politische Richtung und von welchen politischen Parteien das Medium abhängig ist. Zeitungen spielen übrigens keine große Rolle, das dominante Medium ist das Fernsehen, seit wenigen Jahren auch das Internet. Die Leute wissen aber stets, mit welcher Färbung sie die Nachricht erhalten.
Medien sind zudem Bildungsinstrument. So wurden seit den 1990er Jahren über verschiedene Netzwerke Informationen ausgetauscht, beispielhaft war die Frauenbewegung, die moderne Medien für ihren Bildungsauftrag nutzte.
Wie objektiv kann die Berichterstattung zu den Kurden und Kurdinnen sein? Und ist es für Ihre wissenschaftliche Arbeit besser, kein Kurde zu sein?
Ich lehne Objektivitätsanspruch ab, ob in Wissenschaft oder Journalismus, denn ich denke, man kann nicht objektiv sein. Wenn jemand in Zeiten von Unterdrückung sagt, man ist objektiv oder neutral, dann stellt er sich auf die Seite der Unterdrücker. Ich finde, man muss Position beziehen, deshalb möchte ich durch meine Arbeit auch Kurden und Kurdinnen motivieren, damit sie über ihre Situation berichten.
Abdullah Öcalan befindet sich seit 20 Jahren in Isolationshaft. Soeben ist sein Manifest der demokratischen Zivilisation erschienen. Wie nachvollziehbar ist dieser neue Sozialismus, Marke Öcalan?
In der Zeit im Gefängnis hat sich Öcalan intensiv mit vielen theoretischen Schriften beschäftigt, er hat Murray Bookchin gelesen, Immanuel Wallerstein, Fernand Braudel, Adorno, Foucault. Daraus hat er eine neue Theorie entwickelt und diese im Gefängnis unter schwierigsten Arbeitsbedingungen niedergeschrieben. Seine Schriften aus dem Gefängnis gingen an ein Anwaltsteam, als Einreichung für den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Diese Einreichungen wurden dann zu Büchern, die nun auch auf Deutsch erschienen sind.
Stimmt es, dass der Verlag deshalb schließen musste?
Der Verlag wurde durch einen Erlass des Innenministeriums – unser Innenminister heißt Horst Seehofer – geschlossen, da man davon ausging, dass mit den Büchern die PKK finanziert würde. Das ist eine absurde Begründung, denn der Verlag war defizitär.
Es konnte bereits ein neuer Verlag für die Bücher gefunden werden.
Es gibt einige Ermittlungsverfahren gegen Sie, trotzdem kämpfen Sie weiter. Was treibt Sie an?
Es gibt den Spruch Berxwedan Jiyan e! – Widerstand heißt Leben! Es ist mein Motto, denn ich kann und will Unterdrückung und Verfolgung nicht akzeptieren. Ich habe in vielen kurdischen Gebieten gesehen, wie sich die Menschen trotz aller Widrigkeiten für eine fortschrittliche Sache engagieren. Ein paar Ermittlungsverfahren in Deutschland können mich nicht einschüchtern.