Gesellschaft | Verhältnismäßigkeit

Das Ende der „Virologokratie“

Aus der rein ärztlichen oder virologischen Perspektive lässt sich kein objektiver Blick auf diese Krise gewinnen.
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Corona-Welt
Foto: Pixabay

Bisher waren Virologen, Epidemiologen und Immunologen die stillen Dirigenten in dieser Krise. Ihre Dienste waren wichtig, doch die Krise hat schon längst keine rein medizinische Dimension mehr. Nun sind andere Qualitäten gefragt. Eine Replik auf den Beitrag Covidioten an die Macht!.

Wir gehen gerade in „Phase 2“ über, erste Lockerungen stehen an. Viele begrüßen das, aber längst nicht alle. Das ist einerseits verwunderlich und andererseits auch nicht. Denn die Angst vor Corona ist bei vielen nach wie vor groß. Und in der Tat sollte das Virus nicht unterschätzt werden. Immerhin hat Covid-19 bisher über 160.000 Menschen das Leben gekostet und einige werden noch dazu kommen. 

Mediziner und Wissenschaftler haben uns dabei geholfen, die Gefährlichkeit des Virus einzuschätzen. Auch wenn noch viele Daten fehlen und das endgültige Ausmaß von Corona erst hinterher bekannt sein wird, haben wir inzwischen so einiges über den neuen Erreger gelernt. 

Wir wissen nun um seine Tücken. Das Virus verbreitet sich rasant, die Inkubationszeit kann lang sein und auch asymptomatische Träger sind hoch infektiös. Auch scheint der Verlauf von Covid-19 aggressiver zu verlaufen als bei einer herkömmlichen Grippe. Und nicht zu vergessen, gibt es noch kein probates Medikament und auch keinen Impfstoff. 

Wir wissen aber auch, wer zu den besonders Gefährdeten gehört. Die Risikogruppen sind mittlerweile klar abgesteckt. Dass das Virus in seltenen Fällen auch für leidlich gesunde und jüngere Menschen gefährlich sein kann, ändert daran nichts. Aber auch, dass es sich bei dem Virus weder um die Pest noch um Ebola handelt, dürfte inzwischen klar sein. 

Diese wichtigen Erkenntnisse haben wir den Virologen und anderen Wissenschaftlern zu verdanken. Ihr Verdienst ist löblich und unser Dank gebührt ihnen zurecht.

Dass man sich als Staatführung zu Beginn der Krise stark auf die Expertise von Wissenschaftskoryphäen verlassen musste, ist nur allzu verständlich. Denn niemand ist ernsthaft auf eine Epidemie vorbereitet - weder das Gesundheitssystem noch die Politik und eine Gesellschaft schon gar nicht. 

Doch auch wenn diese Epidemie vermutlich erst am Anfang steht, ist es an der Zeit, dass sich die Staatsmänner wieder des eigentlichen Wesens ihrer Kunst gewahr werden. 

Im Dialog Politikos veranschaulicht Platon die Staatskunst am famosen Weber-Gleichnis.
«Die Staatskunst ist gleichsam eine königliche Zusammenflechtung, die ein Gewebe liefert» und weiter heißt es «Seine (des Staatsmannes) Aufgabe ist nicht eine besondere Verrichtung, sondern die Koordination, die umfassende Planung und die Lenkung des Ganzen». 

Zugegeben, der Text mag alt sein. Doch scheint er gerade angesichts der sich manifestierenden Komplexität der Krise, aktueller denn je. Denn inzwischen sollte klar sein, dass diese Krise schon längst keine rein medizinische mehr ist, sondern auch verheerende soziale, ökonomische, psychologische und gesellschaftspolitische Folgen hat und haben wird. Fragen der Verhältnismäßigkeit werden lauter. Die Unruhe des Volkes wächst. Nun ist politische Weitsicht gefragt.

Wer glaubt, es handle sich derzeit um einen reinen Interessenskonflikt zwischen Gesundheit und Wirtschaft, der irrt. Wer glaubt, der Stillstand des öffentlichen Lebens hätte keine gesundheitlichen Folgen, irrt ebenso. Denn auch an der Wirtschaft hängen Leben und auch soziale und körperliche Nähe sind für unsere Gesundheit unentbehrlich. 

Doch wie groß ist das Maß an Belastung, das einer Gesellschaft in dieser Krise aufgebürdet werden darf? Kann der gebotene Schutz für das Leben absolut sein? Darf das Wohl Vieler zugunsten der Gesundheit Weniger geopfert werden? Wann wird das Maß der Verhältnismäßigkeit der derzeitigen Maßnahmen gesprengt? Haben der soziale und wirtschaftliche Kollaps letztendlich nicht auch gesundheitliche Folgen? Inwieweit hängt ein effektives Gesundheitssystem an einer funktionierenden Wirtschaft? Wie wirkt sich der derzeitige Rigorismus auf unser politisches Selbstverständnis und unsere liberalen Demokratien aus? 

Dass Virologen und Mediziner bei diesen Fragen lavieren, sollte nicht verwundern. Wie sollten sie auch anders, ihre Domäne ist fachspezifisch, die des Staatsmannes interdisziplinär. Der Fachspezialist sieht die Momentaufnahme, der Staatsmann das, was kommt. Der Wissenschaftler zieht medizinische, der Staatsmann aber politische Schlüsse. Zumindest wäre es so gedacht.

Der Fachspezialist, zu dessen Zunft zweifellos auch Mediziner und Virologen gehören, sieht das Leid, das Corona in den Krankenhäusern anrichtet. Er sieht die Sterbenden und Kranken – und das schmerzt. Ironischerweise ist es gerade deshalb wichtig, nun nicht mehr Virologen und Ärzten den Führungsstab zu überlassen. Denn aus der rein ärztlichen oder virologischen Perspektive lässt sich kein objektiver Blick auf diese Krise gewinnen. Der medizinisch-wissenschaftliche Mikrokosmos, in dem Ärzte, Virologen und Immunologen verkehren, führt zwangsläufig zu einer monodimensionalen Sicht auf diese Krise. Freilich ist das nicht ihre Schuld, sondern es ist nur allzu natürlich. 

Aber gerade deswegen ist es nun unerlässlich, dass sich die politische Führung ihrer ursprünglichen staatsmännischen Qualitäten erinnert und die gesamte Dimension der Krise im Blick behält. 

Die anstehenden Lockerungen scheinen jedenfalls darauf hinzudeuten. Man darf dennoch gespannt sein, wie es weiter geht. Denn die Gefahr der gefürchteten möglichen zweiten Welle ist keineswegs gebannt. 

Ob die Staatsmänner sich der Staatskunst dann erneut erinnern werden oder aber das Zepter wieder aus der Hand geben, wird sich zeigen. Die Folgen könnten dann allerdings fatal sein und zu einer noch größeren humanen Katastrophe führen als eh schon. 

Vielleicht trifft es aber auch zu, was der große Denker Giorgio Agamben unlängst zur Corona-Krise schrieb: «Offensichtlich ist es so, dass es die Seuche irgendwie, wenn auch nur unbewusst, bereits gab.»