Kultur | Salto Afternoon

Männer auf dem Sofa

Während man in Bozen bei so vielen Kinofilmen nicht mehr weiß wo einem der Kopf steht, setzte die Kinoreihe von "Docu.emme" gestern auf den preisgekrönten "Mutzenbacher".
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Foto: Ruth Beckermann Filmproduktion

Ein Sofa steht in einer Halle und bietet immer wieder Platz für Männer unterschiedlichen Alters, die von der Regisseurin Ruth Beckermann – sie ist nie im Bild, aber immer als nachfragende oder kommentierende Stimme dabei – über Sex befragt und, ja, auch etwas vorgeführt werden. Mutzenbacher nennt sich Beckermanns Dokumentarfilm, der bei der Berlinale 2022 auch einen Preis (in der Sektion Encounters) mit nach Hause nehmen konnte. Grund genug ins mittlerweile legendäre Programm von Docu.emme in Meran aufgenommen zu werden? Ja, denn es ist immer wichtig, Themen anzugehen, um sie kontrovers zu diskutieren. Tatsächlich kommt man bei Mutzenbacher – im übertragenen Sinn – ins Stöhnen, wenn man über Inhalt und Machart des Dokufilms sprechen will. Man tut es den vielen Protagonisten gleich.
 

Die Dürftigkeit und Oberflächlichkeit der getätigten und gezeigten Aussagen im Film, sind Teil einer bewussten Interview-Inszenierung auf dem erotischen Psycho-Sofa. Reicht das? Oder: Jetzt reichts!


In Filmminute eins legt die Regisseurin zunächst alle wichtigen Fakten auf den Tisch, indem sie relevante Informationen zum Ausgangsroman auf ein historisiertes barockes Sofa projiziert. Es geht um den Roman Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne, der 1906 anonym erschien und dem Autor Felix Salten zugeschrieben wird, der auch Bambi erfunden hat. „In einer Zeit sexueller Tabus wurde das Buch von Generationen als befreiende und aufklärende Lektüre gelesen“, steht dann weiter am Sofa zu lesen und: „Der Roman war bis 1968 verboten und stand bis 2017 in Deutschland auf dem Index jugendgefährdender Schriften.“ Als finale textliche Einblendung wird noch folgendes vorweggenommen: „Wegen seiner lustvollen und missbräuchlichen Darstellung kindlicher Sexualität wird er bis heute kontrovers diskutiert. Gleichzeitig gilt er als pornografische Literatur von Weltrang.“ Nach einem weiteren kurzen (literarischen) Vorspiel mit dem Schriftsteller Robert Schindel, beginnt die Annäherung der Filmemacherin an die gebotenen Männersichtweisen, sowie Mutzenbachers feuchtfröhlichen Erinnerungen. Es werden Überlegungen angestellt und Ausschnitte aus dem Roman vorgelesen oder vereinzelt performativ nachgespielt. Nie fehler- und nie einwandfrei. Die Mutzenbacher-Szenen reichen lange zurück, dementsprechend groß ist das zu überbrückende Zeitfenster, in eine Epoche, die aus dem Gesichtspunkt erotischer Literatur sicher durchaus spannend gewesen ist, und über die zeitnahe unbedarfte Herangehensweise der Regisseurin ebenfalls was Mutzenbacher`schers hat. Die Dürftigkeit und Oberflächlichkeit der getätigten und gezeigten Aussagen im Film sind Teil ihrer bewussten Interview-Inszenierung auf dem erotischen Psycho-Sofa. Reicht das? Oder: Jetzt reichts! Die Männer machens entweder alleine, zu zweit, und es gibt beispielsweise auch einen flotten (Interview-)Vierer. Nach einer Stunde folgt in diesem doch außergewöhnlichen Sexfilm eine erste Gruppen-Szene aller Beteiligten, bei der fast schon militärisch aus dem Mutzenbacher-Roman zitiert wird. Vögeln, pudern, bimsen, remmeln u.s.w... erklären sich die Männer im Chor. Immer und immer wieder.
„Als Wiener Kind stolperte ich relativ früh über die Geschichte der Mutzenbacher. Wie viele andere las ich sie auch als Einführung in die Praxis der Liebeskunst. [...] Sie passte in den Zeitgeist der sogenannten sexuellen Revolution und war doch so gar nicht modern“, schreibt Regisseurin Beckermann in ihrem Regiestatement. Sie wollte wissen, wie es sein kann, dass Sex in den Medien omnipräsent ist, aber zugleich auch kein Thema. Und sie wollte wissen „woher die Art und Weise kommt, wie die westliche Welt mit Sexualität umgeht?“  Findet ihr Film Antworten? Nicht wirklich. Er sorgt vielmehr für viele neue Fragen. Aber das ist eben auch der Sinn und Zweck von Kino, Kunst und natürlich auch von Docu.emme. 
 


Bereits in den 1970er Jahren wurden Mutzenbacher-Filme produziert und sie liefen – unter 18 Jahren verboten – auch in Südtirol im Kino. Ein halbes Jahrhundert nach den Mutzenbacher-Filmen und über hundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans untersucht der Dokumentarfilm sehr speziell nach Männlichkeit, spart nicht mit schlüpfrigen Details und nimmt immer wieder den Umweg über die alte Romanfassung, die in ihrer Derbheit (vor allem wenn es um Missbrauch und Inzest geht) etwas fassungslos macht. Darüber zu reden und ausgewählte Männer aus den Erinnerungen einer Hure (die von einem Mann geschrieben wurden) lesen zu lassen, ist sehr gewagt und daran ändert sich auch in der Dramaturgie kaum was. Im weiteren Verlauf des Films lässt die Regisseurin ihre Protagonisten den sloganhaften Satz Schluss mit Genuss im Gleichklang ertönen. Die Männer-Truppe treibt es dabei immer schneller Richtung Höhepunkt, die verschiedenen Stimmen kommen nicht gleichzeitig dort an. 
Am Ende liest der Schriftsteller Robert Schindel erneut mit Lupe aus dem Original „Wenn man bedenkt, dass das Jahr 365 Tage hat, und wenn man nur, gering gerechnet, den Tag mit drei Männern einschätzt, so macht das an elfhundert Männer im Jahr, macht in drei Jahrzehnten wohl 33.000 Männer. Es ist eine Armee. [...] Das Weib gleicht so einer alten Rohrpfeife, die auch nur ein paar Löcher hat und auf der man eben auch nur ein paar Töne spielen kann. Die Männer tun alle dasselbe. Sie liegen oben, wir liegen unten. Sie stoßen und wir werden gestoßen. Das ist der ganze Unterschied.“ Es folgt der Abspann zum Lied von Valie Export und Ingrid Wiener: Bananen, Zitronen, in der Eck’n steht a Bua, Bananen, Zitronen, a Maderl kommt dazu… Und aus.
Mutzenbacher ist ein sehr österreichischer Film, kommende Woche zeigen die Macher*innen von Docu.emme mit Gigi la legge einen sehr italienischen. Und vielleicht sogar einen Preisträger beim BFFB 2023. Das entscheidet sich am Samstag.