Kultur | Salto Weekend

Wenns dunkel und kalt wird in Helsinki

Es begegnen sich zwei wortkarge Menschen, Musik ertönt aus einer Jukebox, die Melancholie sitzt mit im Raum. Zeit für „Fallende Blätter“ von Aki Kaurismäki.
Fallende Blätter
Foto: Kaurismäki

Er drohte, mit dem Filmemachen aufzuhören. Aki Kaurismäki, der finnische Autorenfilmer, oft als Europas Chefmelancholiker betitelt, wollte nach seinem 2017 erschienenen Film „Die andere Seite der Hoffnung“ den Beruf an den Nagel hängen. Er hat seine Entscheidung revidiert, Gott sei Dank, muss man sagen, denn jeder neue Kaurismäki ist Balsam für die vom Überfluss zeitgenössischer Filmkunst geplagte Cineastenseele. Nicht umsonst nennt Kaurismäki Robert Bresson oder Charlie Chaplin also große Vorbilder. Seine Filme bestechen seit jeher durch Einfachheit, melancholische Stimmungen, einer reduzierten Erzählweise samt sparsamen Einsatz von Worten, einer großen Liebe und Respekt zu den Menschen, trockenen Humor und nicht zuletzt einer Ernsthaftigkeit in den richtigen Momenten. Kaurismäki weiß zu mahnen, Probleme freizulegen, ohne dabei den Zeigefinger zu heben.
 

Bei all dem verträumten, melancholischen Anstrich ist die Gegenwart stets präsent, etwa in Form des Krieges, der immer wieder über das Radiogerät in die Geschichte, und gleichzeitig, in die Psyche der Figuren eingreift.


Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes stellte der Finne „Fallende Blätter“ vor. Der Film bildet überraschenderweise den vierten Teil der bislang als Trilogie geltenden proletarischen Reihe. Darin sind die sogenannten „einfachen“ Leute seine Protagonist*innen, die Arbeiterklasse wird mit scharfem Blick gezeigt. „Schatten im Paradies“, „Ariel“ und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ sind zwischen 1986 und 1990 erschienen, dementsprechend spät reicht Kaurismäki nun also „Fallende Blätter“ nach. Und sofort fühlt man sicher wieder heimisch, in einem Finnland, das auf dem ersten Blick nostalgisch erscheint. Kleidung, Ausstattung, Setdesign und Licht wirken oft wie aus dem vergangenen Jahrhundert, pittoresk angeordnet, in ihnen die beiden Hauptdarsteller*innen, gespielt von Alma Pöysti und Jussi Vatanen, die hervorragend reduziert spielen und sich gut in Kaurismäkis Welt einpassen. Sie arbeitet in einem Supermarkt, wird bald rausgeschmissen, heuert bald neu an, bei einem zwielichtigen Herrn in einer hoffnungslos versoffenen Bar. Er arbeitet auf einer Baustelle, ist Alkoholiker, verliert ebenso seinen Job. Zufällig nur laufen sich die beiden in einer Bar über den Weg. Ausgetauscht werden zunächst, ganz typisch für Kaurismäki, keine Worte, sondern nur Blicke. Sie sind scheu, tasten sich schnell ab, sowie sie sich kurz begegnen, weichen sich dann wieder aus, ehe sie sich aufeinander einlassen. Ansa und Holappa heißen die beiden, die sich aus den Augen verlieren, wiedertreffen, sie ihm ihre Telefonnummer auf einen Zettel schreibt, er den Zettel verliert, und wieder nach ihr sucht. Die Geschichte dieser beiden Menschen ist schlicht erzählt, kennt keine Aufregung oder große Dramen. Es ist die Banalität des Alltags, die sie zusammenführt, auseinanderreißt, sie sich nacheinander sehnen lässt. Die eigenen Probleme, wie etwa der Alkoholismus von Holappa legen der Beziehung Steine in den Weg. Auch der immer wieder in den Vordergrund tretende Frust angesichts der nächsten Kündigung, der prekären Lebensumstände am unteren Ende der sozialen Skala, und der allgegenwärtige Krieg in der Ukraine beschweren die Gemüter der beiden, und so auch ihre wechselseitige Beziehung zueinander. Bei all dem verträumten, melancholischen Anstrich ist die Gegenwart stets präsent, etwa in Form des Krieges, der immer wieder über das Radiogerät in die Geschichte, und gleichzeitig, in die Psyche der Figuren eingreift. Man ist fern vom Schlachtfeld, doch die Schlacht, das Sterben, die Grausamkeit des russischen Angriffs übt Einfluss auf das finnische Leben, so wie auf das Leben in ganz Europa. Die geografische Nähe zu Russland tut da ihr Übriges.

 

Auf 35mm Analogfilm festgehaltene, zwischenmenschliche Schönheit.
Auf 35mm Analogfilm festgehaltene, zwischenmenschliche Schönheit.

 

Kaurismäki bietet einen zeitgenössischer Blick auf die Dinge. Er verschließt sich nicht vor der Gegenwart, prangert die sozialen Missstände, die seit „Schatten im Paradies“ im Jahr 1986 noch immer bestehen, ebenso an wie den Krieg. Er zeigt ein diverses Finnland, wo sich auf Baustellen nicht länger nur weiße Finnen tummeln, sondern auch andere Nationalitäten finden, ein Echo des 2017 veröffentlichten „Die andere Seite der Hoffnung“, dessen Hauptdarsteller auch kurz auftritt. Kaurismäkis Ästhetik ist omnipräsent, dabei übertüncht sie aber nie die Geschichte und ihre Figuren. Die Armut wird nicht geschönt, wie es die Werbung macht, sondern ästhetisch ernst genommen, auf das Wesentliche reduziert, um den Blick dafür zu schärfen. Untermalt mit finnischen Liedern, die wunderbar melancholisch die Bilder begleiten, wird „Fallende Blätter“ zu einem wohltuenden Innehalten, einem Schwelgen, doch ebenso einem Bewusstwerden, vor allem für jene Menschen, die jenseits der proletarischen Klasse leben, und den Blick dafür verloren haben. Aki Kaurismäki hat ihn nicht verloren, auch nach all den Jahren nicht. Weiterhin ist er präzise, zeigt wunderschön und traurig zugleich, was die Welt aus uns gemacht hat. Er ist wahrlich Europas großer Melancholiker des Kinos.

 

Fallen Leaves (2023) | Trailer, von The Match Factory