„Mehr weibliche Vorbilder entdecken“
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Frau Erschbamer, für den Abend ist die Metapher der Ernährung gewählt worden. Was unter Mangelernährung unter anderem leide, sind die Abwehrkräfte, die jetzt im Winter wichtig sind. Was fehlt uns, wogegen sind wir nicht immunisiert, wenn wir keine weibliche Perspektive in der Philosophie finden?
Marlene Erschbamer: Es ist eine Frage der Perspektive. Ludwig Wittgenstein meinte dazu, es sei „eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – die einseitige Diät: Man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.“ Was heißt das jetzt, wenn man einen Zugang zu weiblichen Perspektiven nicht findet für das, was Philosophie ist? Bislang wurde die Philosophiegeschichte, aber auch generell die Geschichte, eigentlich mehr oder weniger mehrheitlich von Männern genutzt. Wittgenstein sprach in einem anderen Kontext, aber genau in diesem Umstand sehe ich diese einseitige Betrachtungsweise, wo ein Großteil von dem, was da ist, ignoriert wurde. Und das führt dann auch zu Mangelerscheinungen, wenn man sich einseitig ernährt und so ist diese Metapher zu verstehen.
Welchen Mangel bringt das dann mit sich?
Uns mangelt es an einem Bewusstsein, dass ich nicht nur Männer Geschichte geschrieben haben, sondern sehr oft auch Frauen. Uns mangelt es an meinem Bewusstsein, dass es zu jeder Epoche nicht nur hier bei uns im Westen, sondern auch in Asien, wenn man sich auf die Suche begibt, immer wieder Frauen, die meist gut bekannt waren und zu Lebzeiten große Reichweite hatten, die man aber aufgrund der männlichen Geschichtsschreibung vergessen hat. Mit männlicher Geschichtsschreibung meine ich, dass Männer in zweierlei Hinsicht Geschichte geschrieben haben: Zum einen waren sie immer politisch aktiv und zum anderen haben sie, aus ihrer Perspektive die Geschichte niedergeschrieben. Es gibt unglaubliche viele Beispiele davon, was passiert ist, wenn Männer auf eine Frau trafen, die nicht bestimmten Normen entsprach. Sie wurden abwertend beschrieben. Nach modernen Methoden kann man zum Teil herausfinden, dass die Sicht in der Zeit doch zum Teil eine andere war, als uns überliefert wird. In anderen Kontexten, in denen Geschichte geschrieben oder überliefert wurde, sind es meist Männer. Es ging nicht nur um die Reproduktion von Erinnerung, sondern auch von Macht.
Was kann das Suchen einzelner Beispiele - ich spreche wieder von der Philosophie - daran ändern? Nährt sie das Denken?
Ich würde sagen, ja. Viel von dem, was Frauen im Laufe der Geschichte geleistet haben, wurde herausgeschrieben. Das ist jetzt eine Arbeit, die Frauen in die Geschichte zurückzuschreiben, zum einen, um ein besseres Verständnis für die einzelnen Epochen zu haben, durch eine weibliche Perspektive auf die Situation, zum anderen aber auch um die Gegenwart besser zu verstehen. Warum sind die Dinge heute so, wie sie sind? Auch gerade wenn wir an die Schulbildung denken, ist es so, dass der Anteil an Männern im Lernmaterial sehr hoch ist. Das ist auch gut und in Ordnung, aber weibliche Perspektiven dürfen nicht ausgeklammert werden. Den Mädchen zuliebe, aber auch für die Jungs müssen wir das hinbekommen, um mehr weibliche Vorbilder entdecken zu können.
Ich denke, dass auch unser Verständnis von Jura davon profitieren kann. Es sollte unser Grundgesetz erweitert und diese anderen Perspektiven mit eingebracht werden, ohne dabei etwas Männliches zu verlieren. Das ist nicht Sinn der Sache.
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt bei den „Himalayan, Tibetan and Buddhist Studies“. Welche weiblichen Traditionen gibt es in der Region und sind diese auch etwas, was in der Gegenwart gelebt wird?
Die gesamte Himalaya-Region ist sehr stark vom Buddhismus geprägt. Rein von den Grundlagen und vom Prinzip her ist es so, dass Frauen und Männer gleichwertig wären. Gelebt wurde das dann nicht wirklich und da kann man dann auch Vergleiche nach Europa ziehen: Es wurden immer wieder Gründe gefunden, warum Frauen nicht Lesen und Schreiben zu lernen brauchten. Wenn man sich beispielsweise das buddhistische Wort für „Frau“ anschaut, dann bedeutet das „nicht würdig“ und „unterliegend“, wenn man es wortwörtlich übersetzt. Was macht das mit einem, wenn es einem als Frau ständig an den Kopf geworfen wird, von den „Siegreichen“, was Mann übersetzt bedeutet. Was macht man dann? Wenn man das schon sprachlich hört, dann ist das eine falsche Gleichheit. Frau sein bedeutet, dass das Karma zwar schon gut war, aber eben nicht so gut, dass es gereicht hätte, um als Mann geboren zu werden. So viel zum Theoretischen, wie ist es praktisch? Da ist es genau gleich: Männer haben Geschichte geschrieben, mehrheitlich Mönche, deswegen ist da immer auch eine religiöse Praxis, die da mitschwingt. Es hat aber auch da immer schon Frauen gegeben, die Großartiges in ihrer jeweiligen Epoche geleistet haben, die philosophiert und typisch männliche Rollen eingenommen haben. Man muss schon tief graben, um auf Frauen zu stoßen, weil wenig überliefert wurde, aber man findet Beweise, dass es wirklich so war.
Mittlerweile gibt es noch viel mehr Frauen, die philosophieren, auch durch den Exodus. Dadurch, dass im letzten Jahrhundert viele Menschen ihr Land verlassen haben und etwa in Europa oder den USA mit anderen Ideen in Kontakt gekommen sind. Es gibt mittlerweile auch viel mehr politische Frauen, mehr Nonnen und Frauen, die auch einen philosophischen Abschluss erlangen. Das gab es früher nicht, das ist neu.
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Das Philosophische Café Philosophische Krankheiten - Ist Philosophie ohne weibliche Perspektive eine einseitige Diät? findet morgen Abend um 20 Uhr in der Villa San Marco, Franz-Innerhofer-Str. 1 in Meran statt. Das Event ist eine gemeinsame Veranstaltung von Akademie Meran und Urania.
Die "einseitige Diät" wäre…
Die "einseitige Diät" wäre schnell behoben, wenn Frauen denn nun Geschichte schrieben und philosophierten. In den geisteswissenschaftlichen Studiengängen sind sie weitaus mehr vertreten als ihre männlichen Studienkollegen. Was hält sie davon ab? Ist es die Familienplanung, die sie zurückwirft? Schwer vorstellbar, bei der heutigen niedrigen Geburtenrate. Es muss andere Gründe geben.