Gesellschaft | Blick ins Land

Gebärdensprache

Muttersprache der Gehörlosen

Früher nannte man sie die Taubstummen, doch mittlerweile wird diese Bezeichnung als veraltert und abwertend empfunden. Sie sind gehörlos, aber nicht sprachlos, sie sind taub, aber nicht stumm, denn viele haben sehr oft zwei  Sprachen: die Gebärdensprache und auch die Lautsprache zum Lesen, Schreiben und Lippenabsehen. Aber es gibt noch Namen, die an die alte Bezeichnung erinnern. In Wien finden wir heute noch die Taubstummengasse. Sie erinnert an die erste Einrichtung für Gehörlose. Der aufgeklärte Kaiser Josef II eröffnete 1779 in dieser Gasse die erste staatliche Gehörlosenschule der Welt. Damals war das ein großer Fortschritt.

Obwohl die Gebärdensprache vermutlich die älteste Sprache der Welt ist, musste lange darum gekämpft werden, dass sie als vollwertige Sprache anerkannt wurde und taube Menschen ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben führen können. 2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention in New York unterzeichnet. Das Recht auf Erlernen der Gebärdensprache und die Förderung der sprachlichen Identität der Gehörlosen ist im Art. 24 festgeschrieben. Seit 2005 ist die Gebärdensprache in Österreich verfassungsrechtlich als vollwertige Sprache anerkannt. Aber es gibt nicht nur eine Gebärdensprache. Jedes Land hat seine eigene Gebärdensprache, so gibt es z.B. die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), die Deutsche Gebärdensprache (DGS) und die American Sign Language (ASL). Es gibt sogar verschiedene Dialekte innerhalb einer Sprache.

Helene Jarmer ist die erste gehörlose Parlamentarierin im deutschsprachigen Raum. In ihrem Buch „Schreien nützt nichts“ erzählt sie ihre Lebensgeschichte als gehörlose Frau.

Die Gebärdensprache ist nicht international, weil sie nicht „erfunden“ wurde, sondern eine natürliche Sprache ist, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und sich auch jetzt noch weiterentwickelt. Genauso wie die Lautsprachen. Die Gebärdensprache ist eine Augensprache mit reichem Wortschatz und eigener Grammatik. Handformen, Handstellung, Ausführungsstelle, Bewegung, Mimik, Blick, Kopf, Oberkörper, Mundbild und Mundgestik sind wichtige sprachliche Komponenten. Die Gebärdensprache ist kein primitiver Behelf, wie viele glauben, sondern eine strukturierte, differenzierte, feinste, intellektuelle wie emotionale Nuancen vermittelnde Ausdrucksform, der Lautsprache ebenbürtig, ja in mancher Hinsicht überlegen, eine Sprache, die sich für Vorträge ebenso gut eignet wie für die Liebe. So steht es im Buch „Stumme Stimmen“ von Oliver Sacks. Das Fingeralphabet ist nur ein kleiner Teil der Gebärdensprache, es gibt eigene Gebärden für ganze Wörter und auch für ganze Sätze. So ähnlich wie bei der chinesischen Schrift. 

Gehörlos, aber nicht sprachlos, taub, aber nicht stumm. 
Die Gebärdensprache ist die erste Sprache, die Muttersprache der Gehörlosen. 

Helga Wellenzohn Wallnöfer aus Laas hat mich auf dieses Thema gebracht. Sie erzählt mir lange von ihrer gehörlosen Schwester Veronika, die in Meran lebt und  seit Jahren zusammen mit anderen gehörlosen Menschen um Barrierenabbau in der Kommunikation und um die Anerkennung ihrer Gebärdensprache kämpft. Dies ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Helga unterstützt sie dabei.

Ich erhalte ein ganzes Paket mit Unterlagen über die Geschichte und die langen Kämpfe um die Anerkennung der Gebärdensprache, von der Rivalität zwischen den Oralisten (Anhängern der Lautsprache) und den Befürwortern der Gebärdensprache. Mit welcher Sprache soll ein hörgeschädigtes Kind am besten aufwachsen? Einsprachig nur mit Lautsprache oder zweisprachig mit Lautsprache und Gebärdensprache? Seit die Schulbildung für taube Menschen vor 250 Jahren in Paris begann, sind Fachleute sich uneinig über den besten Weg. Beim Mailänder Kongress 1880 sprach man sich gegen die Gebärdensprache und für die Lautsprache aus. Für fast 100 Jahre wurde die Gebärdensprache in Europa im Unterricht gesetzlich verboten und zurückgedrängt. Nach und nach setzte gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Umdenken ein. Die internationale Konferenz für Bildung und Erziehung Gehörloser hob 2010 in Vancouver den Beschluss des Mailänder Kongresses auf, entschuldigte sich offiziell bei allen gehörlosen Menschen für die damalige Entscheidung und erklärte den Methodenstreit für beendet.

Die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprachen ist kein Rückschritt und führt nicht ins Ghetto, sondern sie ermöglicht Zweisprachigkeit. Luxemburg, Malta und Italien sind die letzten drei säumigen Staaten Europas, die ihre nationalen Gebärdensprachen bisher nicht anerkannt haben. In Italien kämpfen die Vereinigungen LISsubito und SILIS mit einigen Elternverbänden und mit dem gesamtstaatlichen Gehörlosenverband ENS um die gesetzliche Anerkennung der italienischen Gebärdensprache (LIS) und das Recht auf deren Verwendung in allen Bereichen des täglichen Lebens. Auch der Südtiroler Gehörlosenverband (ENS-GVS) bemüht sich über die Landespolitiker und die Parlamentarier in Rom um die Anerkennung, den Schutz und die Förderung der Gebärdensprache. Sehr wichtig wären Gebärdensprachdolmetscher, Untertitel und Gebärdensprache-Einblendung im Fernsehen, vor allem bei den Nachrichten und eine stärkere Förderung der Gebärdensprache für Gehörlose und Hörende. Es gibt Situationen z.B. bei einem Arztgespräch, am Arbeitsplatz, beim Versicherungsabschluss, bei der Polizei und vor Gericht, beim Gottesdienst, bei Wohnungs- und Arbeitssuche, Beratung, Fortbildung, bei politischen Veranstaltungen, da wären Gebärdensprachdolmetscher höchst notwendig.

In Südtirol gibt es keinen einzigen geprüften deutschsprachigen Gebärdensprachdolmetscher. In Nordtirol gibt es mehrere, es gibt sogar den Gehörlosenseelsorger Manfred Pittracher, der bei Gottesdiensten oder Beerdigungen in Gebärdensprache alles übersetzt, so dass auch gehörlose Menschen einen Gottesdienst oder eine Trauerfeier in ihrer Muttersprache miterleben können. Der 10. Juli 2009 ist ein wichtiges Datum für alle Gehörlose. Helene Jarmer gebärdete ihre Antrittsrede als erste gehörlose Parlamentarierin im österreichischen Nationalrat. Eine Gebärdensprachdolmetscherin übersetzte ihre Rede. Auf YouTube kann man diese beeindruckende Rede ansehen. Seit dieser Zeit werden alle Parlamentsreden auch in Gebärdensprache übersetzt. In Amerika ist das schon lange der Fall. So können auch die 10.000 Gehörlosen in Österreich die Parlamentsdebatte mitverfolgen. In Südtirol ist es für die rund 300 Gebärdensprachler noch nicht so weit. 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6/2016 der Bezirkszeitung Vinschgerwind erschienen.

Südtirol könnte hier eine Reihe von wichtigen Schritten setzen.
Es geht in erster Linie um Sensibilisierung und die Entwicklung einer entsprechenden Kultur in den öffentlichen Diensten, als Beispiel sei hier der Gesundheitsdienst genannt: Allein das allseits gängige Aufrufen der PatientInnen führt nicht selten zu ausgeprägten Schwierigkeiten oder – unglaublich aber wahr – das nach wie vor verbreitete Unwissen darüber, dass es nichts bringt zu schreien, wohl aber Menschen anzuschauen und sich klar und deutlich in der Hochsprache auszudrücken (was, nebenbei, auch für hörende PatientInnen von Nutzen wäre). Die Zugangshürden zu einem so grundlegenden Dienst könnten auch durch die Verfügbarkeit von zweisprachigen GebärdendolmetscherInnen im Sanitätsbetrieb herabgesetzt werden, deren Ausbildung von der öffentlichen Hand gefördert und unterstützt werden sollte.

Mo., 28.03.2016 - 12:34 Permalink