Kultur | Transart, Ukraine

Was ans Licht muss

Stimmlose Laute, Leuchtkegel die Stimmen aus dem Dunkel schälen, Musik. Eine Russin und eine Ukrainerin erforschen ein mündliches Gedächtnis aus Liedern und Erinnerung.
Stimmlos
Foto: Tiberio Sorvillo
Die Russin und Komponistin Natalia Pschenitschnikova und die Ukrainerin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko, beide als Performerinnen, vielleicht ließe sich auch sagen Sängerinnen, involviert in „Stimme / Voce - Stimmlos / Senza voce“ liefern den Ausgangspunkt, ein wortloses Vorwort für den Abend, dessen Erlös dem Dormizil zu gute kommt. Mitfinanziert wurde die Aufführung durch Ulrike Haselsteiner, die gestern Abend selbst vor Ort war.
 
 
Wir sind im Keller des Dormizil, gruppenweise werden die zahlreichen Besucher in die Räume des Winter-Nachtquartiers eingeführt, bevor jeder seinen eigenen Weg durch die non-linear verteilten Installationen sucht. Im Keller, zwischen Spinnweben und Staub, die vielleicht beim einen Allergien, beim anderen den Entdeckergeist auf den Plan rufen, ist „Stimmlos“ ein Höhlengleichnis: Zwei Stühle, die Künstlerinnen und Taschenlampen, mit welchen sie das Kellergewölbe austasten. Seinen Ausgang in einer präverbalen Phase nehmend, hören wir zuerst animalische, stimmlose Laute - Röcheln, Japsen und stockender Atem - das kalte, weiße Taschenlicht entsättigt alle Farben auf die es nur indirekt fällt. Was sich entwickelt, ist eine graduelle Annäherung der beiden, als Lichtpunkte an der Wand, die sich erst wie angstvolle Tiere abzuschnüffeln scheinen, sich näher kommen, Angst gegen ein Moment der Erregung tauschen. Von den tierischen Lauten, ebenso schleichend, flüsternd eine Transformation zum Ausdruck des Gesangs, rein emotiv, wortlos. Der Kreis schließt sich am Ende, die forscher, neugieriger gewordenen Lichter werden wieder schüchtern, angstvoll, die Stimme versagt. Alles geht zurück auf Anfang.
Ein Stockwerk tiefer, in der Höhle unter der Höhle, der warme Schein von Grabkerzen, statt kaltem LED-Leuchten, hinter hölzernen Gittern ein unantastbarer Schrein aus dem in der Schleife Sirenengesang dringt. Der Ort hat etwas friedvolles und eine Wärme, die man in der Tiefe nicht erwarten würde.
 
 
Wer Erkenntnis gewinnen will, muss aufsteigen. Es wartet der Rest des Hauses, in den Stockwerken über dem Erdgeschoss, mit einer Formel, repliziert in den verwinkelten Räumen des 25 Menschen Schutz vor der Kälte bietenden Gebäudes. Es wurde auch hier nirgends geputzt oder aufgeräumt, neben den Spuren der Bewohner jene der Installationen. Projektioren werfen einzelne Zitate an die Wände, Audio-Installationen von Interviews, welche Erinnerungen vor dem Verschwinden retten: Die „Stimmen“ nahmen ihren Ausgang als Aufnahmen, die Pschenitschnikova auf einer Ukrainereise einfing. Personen zwischen 80 und 90 fragte sie nach ihrer ersten Erinnerung in Klangform, den vollen Text der Antworten finden wir als Ausdruck in dreifacher Ausführung - Deutsch, Englisch, Italienisch - an die Wände der dunklen Räume gehängt, durch welche die Besucher mehrheitlich mit Smartphone-Leuchte streifen. Ans Licht kommen Spuren eines kollektiven Traumas, das sich in den Erinnerungen von Juden und Nichtjuden festgesetzt hat und bei welchem sich zwangsweise auch Parallelen zur Gegenwart aufdrängen. Erinnerung und Trauma zeigen sich uns in chiffrierter Form auch in Volksliedern oder im Spiel einer Mundharmonika etwa: Da eine Erinnerung, dort der Klang dazu.
Mehr als die Hälfte der etwa 2,7 Millionen Juden, die zur damaligen Zeit in der Ukraine lebten, fielen Verfolgung zum Opfer. Dabei handelt es sich um Schätzungen, genaue Zahlen lassen sich nicht festmachen. In „Stimmen“ sammeln sich die Zeugnisse von Überlebenden und Zeugen, die ins Leben zurück holen, was durch ihr Altern zu verschwinden droht. Wir stehen an der Schwelle einer Zeit in der alle, welche die Gräuel des Weltkrieges erlebt haben, unter der Erde ruhen. Die Metapher eines vertikalen Parcours durch diese Erinnerung erklärt sich dabei selbst.
 
 
Wodurch die Zeugnissen von Einzelschicksalen dabei erstaunen, ist die Position, welche Gesang einnimmt: Man hat das Gefühl, dass ihnen die Erinnerungen nicht nur zur Weitergabe eines mündlichen Gedächtnisses anvertraut werden, sondern dass diese Lieder auch eine Trost stiftende Funktion erfüllen. In einem Gedicht, das gefallene Soldaten in eine Naturbeschreibung einbettet wieder eine Kreisstruktur: Erste und letzte Strophe sind identisch, sehen die Geister der Soldaten nicht dort, wo sie verscharrt wurden, sondern als Kraniche durch den Himmel ziehen.
Pschenitschnikova, welche auch für die Installationen im Gebäude verantwortlich zeichnet und uns zum Erkenntnisgewinn von einer passiven Zuseher-Rolle in eine aktive holt in der wir selbst entscheiden, wie lange wir wo verweilen, hatte den Zyklus in Fragmenten geplant. In „Vladikavkaz“ im Süd-Westen Russlands, nahe der Georgischen Grenze kam einer dieser Teile zur Aufführung, der Rest (Berlin und Moskau waren in Ausarbeitung, New York und Los Angeles in Planung) wurde verschleppt, erst durch die Pandemie, dann durch den russischen Angriffskrieg.
Dass den Stimmen nun eine neue Form von Bedeutung zukommt, ist der Russin bewusst. Sie versteht ihr Werk als „Ausdruck meiner tiefen Bewunderung für die Kraft, Warmherzigkeit und seelische Freiheit der Ukrainer“. Nachdenklich stimmt dabei, der Kreis der sich überall zu schließen scheint, vielleicht ist es als Warnung zu verstehen. Rund 80 Jahre später blicken und horchen wir einzelne Erinnerungskoordinaten eines Kreises, der sich niemals schließen darf. Der Kreis bleibt dabei im Dunkeln, wir setzen seine Linie fort, begreifen ein ganz kleines Stück weit, was unbegreiflich bleibt.