Kultur | Neuerscheinung

Danger Zones

Südtirol und andere Minderheitengebiete in der Zwischenkriegszeit. Anmerkungen zur „Relektüre“ dieses beinahe 100 Jahre alten Essays.
Genf,_Völkerbund,_Sitzungssaal
Foto: Bundesarchiv
  • Vor 95 Jahren erschien in London die Studie „Danger Zones. A Study of National Minorities“ (zu Deutsch: „Gefahrenzonen Europas. Eine Untersuchung zu nationalen Minderheiten“) von John S. Stephens (1891–1954). Der weithin vergessene Text aus der Zwischenkriegszeit wird in diesem Buch zum ersten Mal kommentiert und in deutscher Übersetzung neu herausgegeben. Aber warum lohnen sich Wiederentdeckung und „Relektüre“ dieses beinahe 100 Jahre alten Essays, der eindringlich von der prekären Situation nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit berichtet? 

  • Neuerscheinung: Die Aktualität dieser Idealvorstellung im heutigen Europa der wiederaufkeimenden Nationalismen und der neuen Konflikte lässt sich daran ablesen, dass Minderheitenschutz nicht überall zur gelebten Praxis geworden ist und manche Minderheiten immer noch um ihren anerkannten Status bangen müssen. Foto: Edizioni Alphabeta Verlag

    Zunächst wegen der analytischen Frische seiner Zeitgenossenschaft, mit der sich der englische Historiker Stephens dem Sujet der Untersuchung widmet: Als Sonderberichterstatter der Minderheitenkommission im Völkerbund reiste Stephens in die verschiedensten Minderheitengebiete in Europa, unterhielt Korrespondenzen mit Vertretern der lokalen Intelligenzija oder sprach mit Gewährsleuten vor Ort, deren Auskunft er kritisch in seinen Bericht aufnahm. In Südtirol war etwa einer seiner Gewährsleute Baron Paul von Sternbach aus Bruneck, der im römischen Parlament als Abgeordneter des Deutschen Verbands die Interessen Südtirols vertrat und enge Verbindungen zum Völkerbund nach Genf unterhielt. Mit empathischem Blick beschreibt Stephens die Situation der zahlenmäßig kleineren sowie oftmals sozial und rechtlich schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen des Kontinents in den 1920er-Jahren. Selbst Angehöriger einer religiösen Minderheit in Großbritannien (er war ein Quäker aus Cornwall), wusste er aus der Geschichte seiner Konfession nur zu gut um die potenzielle Diskriminierung, mit denen Menschen wegen ihres vorgeblich „minderen Status“ von der Mehrheitsseite zu rechnen haben. Diese ureigene Perspektive schärfte auch sein Urteil, das er seinen Lesern präsentierte, nicht ohne dabei auf die Topoi kanonischer englischer Bildung und hie und da eingestreute Bibelverweise zurückzugreifen

  • Abstimmung: Schlusssitzung des Völkerbundrates in Genf 1926 Foto: Wikipedia

    „Minderheit“ in unserer heutigen Lesart war damals ein relativ neuer Begriff und kam gehäuft – expressis verbis – zum ersten Mal im Umfeld der Völkerbundgründung in Genf auf. Stephens näherte sich dem schwer kategorisierbaren, vielgestaltigen Phänomen mit gezielten, diachronen Vergleichen: Neben der Aufklärungszeit interessierte er sich besonders für die Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Für ihn waren die Konfessionen jener Zeit die ersten „Minderheiten“ – etwa die Hugenotten im Frankreich des Kardinals Richelieu und ihr prekärer Status zwischen rechtlich zugesicherter Toleranz, Verfolgung und Ausweisung. Auch seine Fallstudien, die von Sowjetrussland über das Baltikum, nach Polen, Ungarn, Südtirol bis zum Balkan reichen, schrieb er im Wissen um die geschichtlichen Bedingtheiten und widerstreitenden Erinnerungskulturen der dort jeweils vorherrschenden Minderheitenfragen. Sein Gegenwartsbericht bewahrt auf diese Weise eine historische Tiefenschärfe, die uns auch heute daran erinnert, dass, frei nach einem Churchill-Zitat, Minderheitenregionen auch stets ein „Zuviel“ an Geschichte produzieren können, um diese angemessen zu verarbeiten.

  • Minderheiten-Mitarbeiter: Porträtfotografie des Historikers und Mitarbeiters der Minderheitenkommission im Völkerbund, John S. Stephens, ca. 1920–1925 Foto: Wikipedia

    Als Grundübel seiner Zeit benannte Stephens den Nationalismus – und auch hier ist er in seinen Überlegungen erstaunlich nahe an unserer Gegenwart, die, die verheerenden Folgen dieser Ideologie nach zwei Weltkriegen im Blick, einen Wissensvorsprung innehat. Der Nationalismus, so Stephens, halte den Kontinent wie „veraltete Ketten“ gefangen und verhindere, dass in Minderheitenfragen endlich Vernunft, Mäßigung und Pragmatismus Einzug fänden. Einerseits verleite der „Irredentismus nach italienischem Vorbild“ Minderheiten dazu, die Hoffnung auf Selbstverwaltung in den Wind zu schlagen und fieberhaft auf einen Krieg hinzuarbeiten, der die Grenzen verändern und die Unerlösten mit ihrer Nation vereinen solle. Mehrheiten verwendeten andererseits gerade das Argument, der Irredentismus der Minderheiten sei bedrohlich und staatszersetzend, um Minderheitenrechte zu verweigern oder den in Genf zugesicherten „Worten [keine] Taten folgen zu lassen“. Diese beiden Extreme wiegelten sich gegenseitig auf und führten insbesondere in den Grenzgebieten, den Danger Zones of Europe, zu erhöhter Kriegsgefahr. Stephens hält diesem Szenario die Idee eines grenzenlosen und befriedeten Europas entgegen, in dem die nationale Frage in den Hintergrund tritt und die „Minderheiten die allgemein anerkannte Rolle einnehmen werden, als Brücken zwischen einer Kultur und der anderen zu fungieren.“

  • Baron Paul von Sternbach: Abgeordneter zum römischen Parlament in den 1920er-Jahren und Mitglied des Europäischen Nationalitätenkongresses, der Vorgängerorganisation der heutigen FUEN. Er war einer der Gewährsleute Stephens in Südtirol, mit dem er eine Briefkorrespondenz führte. Foto: Wikipedia

    Wie aktuell diese Idealvorstellung im heutigen Europa der wieder aufkeimenden Nationalismen und neuen Konflikte in und um Minderheitengebiete noch ist, zeigt sich schon daran, dass diese positive Funktion von Minderheiten allzu selten zur gelebten Praxis geworden ist. Stephens’ geistige Grand Tour durch Europa lässt sich daher einiges entnehmen: Sie führt die eigentümliche sozialpolitische Dialektik von Mehrheit und Minderheit vor Augen. Diese reicht von der Behandlung „eigener“, nationaler Minderheiten im Ausland bis zum Umgang mit „fremden“ Minderheiten im „Mutterstaat“ und mündet schließlich in die Hoffnung auf Gegenseitigkeit gewährter Minderheitenrechte und die Absage an gewaltbereiten Separatismus – positiv gewendet verheißt dieses Programm Autonomie und echte Selbstverwaltung als Kernelemente des europäischen Friedensprojekts. Um hier ein bekanntes Bild von Paul Klee aufzugreifen, das im Januar 1929, also in etwa gleichzeitig zu Stephens’ Veröffentlichung, entstanden ist: Das Schlüsselwerk Hauptweg und Nebenwege, entstanden nach seiner zweiten Ägyptenreise, lässt sich zwar nicht eng ausdeuten, doch es zeigt auf berückende Weise eine Abfolge unterschiedlich konturierter Pfade, die mit ihren vertikalen und schrägen Strukturen auch auf den historischen Prozess bezogen werden könnten, aus dem heraus die Zeitgenossen Klee und Stephens ihre bildlichen und intellektuellen Reflexionen entworfen haben. Manche Entwicklungswege sind verschlungen, aber wenn niemand sie beschreitet, ist auch das Rätsel der Geschichte nicht zu lösen.

    Auszug aus: Danger Zones. Eine Untersuchung zu nationalen Minderheiten in Europa
    Herausgeber: Hannes Obermair, Josef Prackwieser 
    Übersetzung: Maria Kampp
    Verlag: Edizioni Alphabeta Verlag.

  • Buchvorstellungen und Podiumsgespräche mit den Autoren

    28.11.2024, 20.00 Uhr
    Bozen, Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann
    Es moderiert Katharina Crepaz (Center for Autonomy Experience, Eurac Research)

    Weitere Termine:
    21.2.2025, 20.00 Uhr
    Meran, Stadtbibliothek 

    21.5.2025, 20.00 Uhr
    Sterzing, Stadtbibliothek