Gesellschaft | Missbrauch

System des Verschweigens

Warum kommt es zu Missbrauch? Welche Rahmenbedingungen begünstigen ein Umfeld, in dem Missbrauch geschehen kann? Diese und weitere Fragen waren Thema einer Fachtagung im Pastoralzentrum der Diözese Bozen-Brixen.
Peter Beer
Foto: Diözese Bozen-Brixen
  • Sexuelle Missbrauchsfälle in der Kirche haben die Gläubigen schwer erschüttert und unter anderem dazu geführt, dass massenhaft Mitglieder ausgetreten sind. „Wir haben uns in der Vergangenheit als ‚societas perfecta‘ verstanden. Wir waren die, die alle Antworten hatten. Wir haben geurteilt und verurteilt – heute wissen wir, dass wir geblendet waren“, sagte Reinhard Demetz im Rahmen der heutigen (22. November) Fachtagung zum Thema „Systemische Kontexte des Missbrauchs“

     

    „Wir haben uns in der Vergangenheit als ‚societas perfecta‘ verstanden.“

     

    Damit wies der Leiter des Seelsorgeamts der Diözese auf einen zentralen Punkt in der Thematik „Kirche und Missbrauch“ hin: Seit jeher verführen Machtstrukturen einige Menschen dazu, diese auszunutzen und in der schlimmsten Art und Weise zu missbrauchen. Das kirchliche Machtsystem nimmt hier eine Sonderstellung ein, denn es war und ist jene Gemeinschaft, die für sich in Anspruch nimmt, auf der moralisch guten Seite zu stehen. Dass in Fällen des Missbrauchs das komplette Gegenteil der Fall war, hat das Selbstverständnis der Gemeinschaft von Grund auf erschüttert. Nun ist die Kirche gezwungen, ihre „Fassade der Unfehlbarkeit“ abzulegen, was Raum für eine Erneuerung schaffe. Mit Erneuerung meinte Demetz dabei den synodalen Weg, den die Kirche eingeschlagen hat und in eine Transformation münden soll, der sie zu einem sichereren Ort für alle vulnerablen Gruppen machen soll. 

  • Mentalitätsänderung

    Im Rahmen der Fachtagung im Bozner Pastoralzentrum wurde eine Annäherung an die systemischen Vorbedingungen, Ursachen und Auswirkungen von Missbrauch versucht. Neben drei Vorträgen stellten sich die Teilnehmer, unter denen sich etliche Betroffene befanden, Gruppengesprächen, um die jeweiligen Fragen, wie beispielsweise, ob eine systemische Betrachtungsweise sinnvoll sei, zu vertiefen. Am Ende der Tagung formulierte Bischof Ivo Muser seine Vision für eine zukunftsfähige Kirche, in welcher eine Kultur der Verantwortung gepflegt werden soll, welche die Würde des Menschen, seine Freiheit und sein Leben achtet und dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Dabei unterstrich er die Bedeutung einer offenen, selbstkritischen und dialogorientierten Haltung. Es gehe darum, Strukturen so zu verändern, dass die Kirche ein sicherer Ort für Kinder, Jugendliche und schutzbedürftige Menschen ist. „Durch klare Vorgaben und eine veränderte Sprache und Haltung wird dem Missbrauch der Nährboden entzogen“, betonte Muser, der dazu aufrief, eine Mentalitätsänderung zu vollziehen. 

    Foto: Diözese Bozen-Brixen
  • Ein Zusammenspiel mehrer Faktoren

    „Ein System ist eigentlich eine gute Sache, weil es als ein großes Ganzes mehr erreichen kann, als die einzelnen Komponenten für sich genommen“, erklärte Professor Peter Beer, Wissenschaftler am Institut für Anthropologie in Rom und Mitglied der diözesanen Steuerungsgruppe für das Projekt „Mut zum Hinsehen“. Ein System könne allerdings auch das Auftreten bestimmter Ereignisse begünstigen. Im Falle von Missbrauch in der Kirche heißt dies beispielsweise: Dem Opfer wird nicht geglaubt, weil der Priester im Volksglauben als eine Gott nahe stehende Person betrachtet wird. Ein Mitbruder, der Kenntnis von den Taten erhält, schreckt davor zurück, etwas zu unternehmen. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Unfähigkeit der Kirche, das Thema Sexualität offen zu thematisieren – auch in der Ausbildung junger Priester geschieht das nicht. Diese Sprachlosigkeit zieht sich auch durch die Akten, die von Missbrauchsfällen berichten bzw. in denen diese umschrieben werden, weil man das Schreckliche nicht benennen will. Gedeckt werden Missbrauchsfälle nicht zuletzt, wenn wirtschaftliche Interessen tangiert werden, wie beispielsweise in Wallfahrtsorten seitens des Tourismus. Andere wollen wiederum nicht, dass ihr heiles Bild der Kirche zerstört wird. 

     

    „Es genügt nicht nur, fromm zu sein. Es reicht nicht, nur schön Liturgie feiern zu können.“

     

    „Es genügt nicht nur, fromm zu sein. Es reicht nicht, nur schön Liturgie feiern zu können“, so Beer. Gefragt seien spezifische Kompetenzen und der Mut, die Augen nicht vor einem System zu verschließen, das solche Missbrauchsfälle ermöglicht. Keine einzelne Person und kein singuläres Ereignis führten zu Missbrauch, sondern es ist die Kombination aus mehreren. 

  • Pastoraltheologe Alexander Notdurfter: „Reaktionen reichen von ,das gibt’s nicht‘ bis ,endlich geschieht etwas‘“ Foto: SALTO

    Welche Kollateralschäden Missbrauchsfälle nicht nur für die direkte Umgebung des Opfers bedeuten, sondern für das ganze System insgesamt, darüber referierte Pastoraltheologe Professor Alexander Notdurfter, der auf die soziologischen Dimensionen einging und auf die oft tiefgreifenden Erschütterungen hinwies, die das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten auslöst. „Reaktionen reichen von ,das gibt’s nicht‘ bis ,endlich geschieht etwas‘“, erklärte er. Notdurfter rief zu einem grundlegenden Nachdenken über Machtstrukturen und systemische Bedingungen auf, die sowohl Veränderungen in der Haltung als auch in den Strukturen notwendig mache. „Nur durch diese Weichenstellungen können Vertrauen und Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden.“

Bild
Salto User
Hanna Obletter Fr., 22.11.2024 - 19:25

4 Männer sinnieren über eine mögliche Lösung der sexualisierten Gewalt in kirchlichen Institutionen.
Woher die Angst, eine Frau als Referentin einzuladen? Angst vor zu viel Wahrheit?
Zahlen wurden keine präsentiert, ebensowenig konkrete Lösungsvorschläge.
Ein Armutszeugnis.

Fr., 22.11.2024 - 19:25 Permalink