Franchir la nuit
Franchir la nuit bedeutet soviel wie “Die Nacht überwinden” und im übertragenen Sinn “eine Hürde überschreiten” oder “eine schwierige Situation durchmachen”. Rachid Ouramdane, Choereograph und Gastkurator des diesjährigen Tanz Bozen Bolzano Danza Festivals, hat hiermit seine jüngste Kreation überschrieben, uraufgeführt auf der Biennale de la Danse in Lyon 2018. Im Bozner Stadttheater war der große Saal rammelvoll, um dieses Stück, wofür die Bühne mit Wasser bedeckt wurde, mitzuerleben. Ein einmaliges Bühnenbild, das immer wieder mit den auf die Hinterwand projizierten Bildern von Mehdi Meddaci im wahrsten Sinne ausgeweitet und in die Tiefe gezogen wird. Worum geht es hier? Migrantenströme im Meer, im Wasser, Tausende von Menschen, die ihr Glück in einem anderen Kontinent versuchen wollen und dabei ihr Leben auf das Spiel setzen. Im nassen Element, in der Nacht, ihres Lebens…
Zu Beginn kommt ein Mann auf die Bühne, im Halbdunkel, dann – eines nach dem anderen, Kinder, Jungen und Mädchen, die ihm und sich die Hand reichen und einen Reigen beginnen, einen unendlichen Reigen, ein sich Drehen, im Wasser treten. Wie ein Spiel, ein Karoussell, ein lebendiges Karoussell. Im Off ertönen die Klänge und Worte des Songs von David Bowie, “We can be hereos, just for one day”, wir können Helden sein, auch nur für einen Tag… Splash, splash, die Kinder treten weiter.
“Mama, ich brauche dieses Abzeichen nicht mehr” – platsch, “Mama, es wird dunkel” – platsch, platsch – “Mama, nimm das Boot und führe es von Küste zu Küste…” Platsch, platsch, platsch. Die Gedanken fliegen zu Bildern, die wir aus der realen Welt nur zu gut kennen.
Interessant ist in Franchir la nuit gerade das Zusammenspiel zwischen Videobildern und reellem Tanz auf der Bühne, Bilder unter und im Wasser, Tanzbewegungen und –gesten auf dem und im Wasser: dies ergibt eine Rezeption auf mehreren Sinnesebenen, die uns hier und dort sein lassen, die uns das fiktive Theaterstück und die drastischen Geschehnisse im Dunkel der Nächte im Mittelmeer verbinden lassen. Die erhobene Hand des afrikanisch aussehenden Mannes in einem der Videosequenzen spiegelt sich in denen der vielen Männer, Frauen und Kinder wieder, die in der langgezogenen Schlusstanzsequenz eine sich ständig wiederholende Drehung vollziehen - aufstehen, Kopf runterbeugen, hinsetzen, in schräger halbliegender Position, die linke Hand halb hoch heben, runter, sich hinlegen und wieder aufstehen. Wie eine Welle. Ununterbrochen, unterlegt mit einer fast hypnotisch wirkenden Klaviermelodie. Die Wellen, die zu Beginn des Stückes das Bühnenbild animieren, werden hier zur Hauptfigur. Schwaches, gut gesetztes Licht erhellt den Horizont, wie in einer dunklen Nacht, die es zu durchqueren gilt, die es zu überleben gilt. Franchir la nuit, eben…
Knocking on the door, Knocking on Heaven’s door, der Song von Bob Dylan symbolisiert eine Etappe des Ankommens. Aber wo? Das ist die Frage… Die wunderschöne Frauenstimme der Pianistin und Sängerin Deborah Lennie-Bisson aus Neuseeland lässt die Klänge zur Tonkulisse werden und zeigt durch die Worte der einzelnen Songs all das auf, was nur angedeutet wird, mit großer Sensibilität, mit Respekt und Würde all jenen gegenüber, die Tag für Tag ihr Leben riskieren und all den Abertausenden von Toten im Mittelmeer. Nichts von all dem sehen wir auf der Bühne, alles ist in den Gesten, im ekstatischen Trommeln auf dem Wasserspiegel, in den hektischen und dann wieder leisen Bewegungen zu spüren, selbst dann, wenn einige in den Wellen liegen bleiben und von den leichten Wassermengen überspült werden. Poesie, das ist pure Poesie. Gesten und Geräusche im Dunkel sprechen Bände. Geballte Energie strömt in den Saal, wo es mucksmäuschenstill ist, und das Publikum “mitschwimmt”, wa(r)tet, dem entgegen, was da noch kommen soll. Ein einziges Kommen und Gehen, in jeder Hinsicht.
Im Wasser stapfen und sich rollen, choreografierte Bewegungslinien, ebenso wie einige Tanzsequenzen gekonnt im und durch das Wasser ausgeführt werden. 15 cm hoch soll er sein, der Wasserspiegel, lesen wir im Programmheft, und nachdem er von all diesen nach Überleben ringenden Menschen durchbeutelt wurde und die Bewegung langsam ab-, die Spannung im Saal aber immer mehr zunimmt, da beruhigt sich dieser und zeigt nur mehr ein leichtes Hin und Herpflutschen. Ein fernes Blubbern hören wir in der Stille. Umso unheimlicher aber fühlt sich das an, diese mysteriöse Stille im Dunkeln. Stille Wasser, heißt es, sind manchmal gefährlicher als tobend rauschende… Aus diesen kleinen stillen Wellen heraus bildet sich die Menschenmenge, die um Hilfe ringt, während die Klaviertaste und die Stimme wieder erklingt bis ein abruptes Schwarz dem Ganzen ein Ende setzt. Ein Moment der totalen Stille und dann - lautklatschender Applaus!
Dieses Stück wurde vom CCN2, des Centre Chorégraphique National de Grenoble produziert und in Bozen als italienische Erstaufführung gezeigt, wofür die mitmachenden Kinder und Jugendlichen einen zweiwöchigen Workshop mitgemacht haben, wo sie die Tanzbwegungen erlernt haben.
Während sich nun das Festival, das seit Jahren erfolgreich von Emanuele Masi geleitet wird, dem Ende zuneigt, wollen wir noch auf zwei interessante Produktionen hinweisen, die in den nächsten Tagen immer im Bozner Stadttheater zu Gast sein werden. Da gibt es einmal das Doppelprogramm am 24. Juli mit der Gauthier Dance Company des Theaterhauses Stuttgart, wo um 20 Uhr im Studio zwei der acht Duos im Rahmen von Deuces zu sehen sind, die Eric Gauthier an international renommierte Choreographen vergeben hat, um den “Pas de deux” für seine Gauthier Dance neu zu erfinden. For D des Künstlerpaares Guy Weizman & Roni Haver und Prima von Richard Siegel, der schon 2017 in Bozen aufgetreten war und hier zu Benny Goodmans Sing Sing Sing den amerikanischen Swing auf seine avangardistische Art durchwandern will. Anschließend zweieinhalb Stunden im Powerhouse, fünf großartige Choreografien, mit denen eine weite Palette von Emotionen durchschritten bzw. durchtanzt wird, von der zerstörerischen Macht der negativen Gefühle in Malasangre bis hin zur Wild- und Freiheit der Pferde in We love Horses, über Witz und Ironie eines Dirigentenschicksals in Orchestra of Wolves, hier zum ersten Satz der 5. Symphonie von Beethoven.
Abgeschlossen wird dieses Jahr mit einer Hommage an Merce Cunningham des CNDC aus Angers am 26. Juli mit anschließendem Abschlussfest im Freien auf dem Verdiplatz, der schon während der gesamten Festivaldauer zur Lounge wurde, wo man vor und nach den Vorstellungen einen erfrischenden Drink genießen kann. Das Centre National de Danse Contemporaine wurde in der französischen Kleinstadt im Jahr 1978 gegründet und mit einer Choreografieschule bedacht. Unter der Leitung von Emmanuelle Huynh (von 2004 bis 2012) und von Robert Swinston (seit 2012) wurde der Fokus auf das Erbe des amerikanischen Meisters gesetzt, bei dem derselbe Swinston ab 1980 als Tänzer und dann ab 1992 als Choreografieassistent tätig gewesen war. Merce Cunningham war 2009 verstorben, im Alter von 90 Jahren, also wäre er dieses Jahr 100 Jahre alt geworden: er ist einer der wichtigsten Legenden des zeitgenössischen Tanzes im 20. Jahrhundert. In Bozen werden wir zwei bedeutende Werke sehen, Beach Birds und BIPED. Das erste stammt aus dem Jahr 1991 und wurde zur Musik von John Cage geschaffen, seinem Arbeits- und Lebenspartner, der geniale Allround-Sound-Musiker, der schon 1992 unseren Planeten verlassen hat. “Ich hatte drei Ideen im Kopf: Vögel, oder andere Tiere; Menschen am Strand; und etwas das ich am Meer liebe: das Beobachten eines Felsen, ihn zu umgehen und zu sehen, wie er sich die ganze Zeit verändert, als ob er lebendig wäre”, hatte Cunningham bezüglich der Genesis dieser Choreografie erklärt. BIPED hingegen wurde 1999 im Rahmen eines Experimentes mit der Motion-Capture-Technologie entwickelt, die menschliche Bewegungen mit Sensoren erfasst und in digitalisiertem 3D-Format auf dem Bildschirm wiedergibt. Die Musik der Rekonstruktion von Robert Swinton ist von Gavin Bryars, der sie auch live auf der Bühne gemeinsam mit Morgan Goff, Audrey Riley und James Woodrow spielen wird.