Kultur | Salto Weekend

72 Stunden. Eine Anklage.

Die Koproduktion von Stadttheater Bruneck, Theater in der Altstadt Meran und Carambolage Bozen beginnt mit einem Schrei. Was dann kommt ist zum Schreien tragisch.
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Foto: Carambolage/TidA/Stadttheater Bruneck

Am Ende des Abends laufen unendlich viele Vornamen von Frauen über eine Leinwand. Die beinahe endlose Auflistung, gleich einem Abspann eines Kinofilms, ist toten Protagonistinnen gewidmet, jenen Frauen, die (im Schnitt alle 72 Stunden) männlicher Gewalt zum Opfer gefallen sind – verstummte Protagonistinnen, deren Stimmen vorher niemand hörte (oder hören wollte). Die Wissenschaftlerin und Aktivistin Barbara Plagg hat die bedrückende Thematik Frauenmord für das Stück 72 Stunden. Eine Anklage. bühnengerecht bearbeitet. Faktenreich zählt sie auf, was rund um den Mord an der toten Eva passiert. Das Publikum zählt und rechnet mit, in einer „Tat-Sache“, die tragischer nicht hätte enden können. Die Autorin verwebt Prozentsätze, Zahlen und Gegebenheiten geschickt in ein dichtes Netz an Dialogen. Dazwischen stellen sich kurze Musikeinlagen, aneinandergereihte und nicht abbrechen wollende Chronikmeldungen aus dem Radio, sowie gut ein Dutzend frauenfeindlicher "Witze", die von einer holprigen Computerstimme vorgetragen und von einem grölend, klatschenden Beifallssturm untermalt werden. Pointierter Abschaum. 
 


Ein digitales Zeitfenster zählt das Bühnenstück im Countdown vom Anfang ans Ende oder vom Ende an den Anfang. In der Zeitspanne dazwischen bewegen sich die Schauspieler und Schauspielerinnen in einem Netz an Gerüchten, heuchlerischen Meinungen und überholten Mustern. Regisseur Torsten Schilling hat für den harten Stoff eine behutsame Regie vorgesehen. Sabrina Fraternali, Viktoria Obermarzoner, Julia Augscheller, Florian Eisner und Horst Herrmann demonstrieren in ihrem Rollenspiel das Spiegelbild einer patriarchal zementierten Gesellschaft, die sich im „fadenscheinigen“ Bühnenbild bis zur Hoffnungslosigkeit verstrickt. Satz um Satz wird ein mörderisches (Gesellschafts-)System offengelegt.
 


Das Stück mäandert von einer Ohnmacht zur nächsten. Ob Bekannte des Mordopfers, Zeugen am Tatort, fragende Journalisten, die feministische Anwältin, die jungen Bloggerinnen der Powersisters-Gruppe im Netz; sämtliche Antworten auf die Frage nach dem „Warum?“ münden in Schuldzuweisungen und suchen nur selten nach Auswegen. Mit Fehl- und Vorurteilen wird dadurch die scheinbar weiße Weste aller Protagonisten und Protagonistinnen ein ums andere Mal beschmutzt. Der scheinheilige Politiker einer Partei, der sich der rechten Mitte zuordnet, die Mitte aber schon längst aus den Augen verloren hat, steht in seinen Aussagen den platten Äußerungen der Dorfpolizei um nichts nach. Nicht weniger scheinheilig ist der Pfarrer mit seinen mittelalterlichen Weissagungen, sowie der Sensations-Journalist, der durch seine affektiert verblendete Sichtweise, mit jedem veröffentlichten Artikel abstruse Gedanken zur Mordtat in seine Tastatur haut und verworrene Sätze über Opferschutz faselt. Heftig: die aggressiven und sinnbefreiten Beschimpfungen aus einem MC Rotzbua-Song, die einem Tourette-Ausbruch gleichkommen.
 


Nur selten gibt es hoffnungsvolle Töne und Melodien aus der Musikbox, doch unmittelbar nachdem sich eine Freundin der Ermordeten dahingehend informiert, ob das Erstatten einer Anzeige tatsächlich kostenfrei sei, tönt der anfangs hämmernde Musikteppich leichter dahin. Das Codewort Erika – eine Hilfestellung für Frauen in Gewaltsituationen – wird anhand einer Szene genau erläutert. Es bleibt im Stück ein gutgemeinter Wink für mehr Zivilcourage.
Gegen Ende von 72 Stunden. Eine Anklage. verkommt das Mordopfer Eva (an den gezogenen Fäden des sperrigen Bühnengestells) zum Sinnbild einer gesellschaftlichen Marionette. Der nächste Mord wird – gemeinsam mir dem Publikum – herbeigezählt. 
 


Der Applaus war bei der Premiere in der Carambolage in Bozen verhalten. Verständlicherweise. Wer mag schon bei derart wahrhaftigen Inhalten begeistert applaudieren? Der schlichte Beifall gehörte jedenfalls den Macherinnen und Machern, den Schauspielerinnen und Schauspielern dieses tragischen "Reality"-Theaters. Es fehlten leider die sogenannten Mannsbilder im Publikum. Dabei ist das Stück – gerade für Männer – mehr als sehenswert.
 

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Jochen Lantschner Mi., 09.11.2022 - 16:52

Ein großartiges Stück, das Frau Dr. Plagg da geschaffen hat, super umgesetzt. Leider wird das Stück so schnell nicht an Aktualität verlieren, was die letzten Tage wieder gezeigt haben.
Am Ende sitzt man(n) da und weiß nicht so recht, soll/darf man klatschen (was angesichts der schauspielerischen Leistung des Ensembles mehr als angebracht wäre) oder lässt man es angesichts des tragischen Stücks lieber bleiben. Ich war jedenfalls beeindruckt und auch ein Stück weit sprachlos. Sehr beeindruckend waren auch die anschließenden Interviews mit Mutter bzw. Schwester zweier Südtiroler Opfer. Absolut empfehlenswert auf jeden Fall!

Mi., 09.11.2022 - 16:52 Permalink