Kultur | Salto Weekend

„Weltwunder“ des Straßenbaus

Vor 200 Jahren war Baubeginn der legendären Stilfser Joch-Hochalpenstraße. Ein Jubiläums-Gastbeitrag von Martin Schmiedeberg.
Strasse
Foto: Salto.bz

Die Luft zum Atmen wird merklich dünner. Für den sportlichen Radler sind fast 50 Kehren auf der beliebten Stilfser Joch-Hochalpenstraße von Spondinig/Prad aus dem Südtiroler Vinschgau bis nach Bormio ins Veltlin geschafft, der beträchtliche Anstieg beträgt genau 1842 Höhenmeter. Jetzt folgen noch weitere 34 Kehren, die Strecke geht dann nur noch abwärts bis nach Bormio. Erstmal muss er aber verschnaufen, denn immerhin ist er jetzt auf einer Höhe von 2757 Metern, dem Stilfser-Joch; auf der Passhöhe gibt es endlich Zeit, die gewaltige Bergkulisse von fast 4000 Metern hohen Berggipfeln zu betrachten. Über das Joch führt die höchste, 49 km lange, Passstraße Italiens; bis vor wenigen Jahren war die Staatsstraße SS 38 auch die höchst gelegene Passüberquerung Europas. Es sind an schönen Sommertagen hunderte gleichgesinnte sportliche Radfahrer auf dieser Quälstrecke unterwegs.


Vor genau 200 Jahren – an eine Motorisierung dachte damals noch keiner –, wurde die Straße nach nur einer einjährigen Vorplanung in fünf Jahren Bauzeit fertiggestellt. Die Trassensteigung musste sehr moderat sein, nur 7% und in einigen Kehren maximal 15%, damit Pferdewagen und auch im Winter Pferdeschlitten die Straße befahren konnten.

Die Passhöhe blieb bis heute was sie immer war: Die Grenze dreier Sprachen, im Westen Italienisch im Osten Südtiroler Dialekt und wenige hundert Meter weiter nördlich Rätoromanisch.

Nach dem Untergang Napoleons und den Folgen des Wiener Kongresses kam 1815 die Lombardei mit der ehemaligen Hauptstadt Mailand an die k. u. k. - Monarchie. Auf kaiserlicher Anordnung wollte Österreich aus militärischen Gründen eine direkte und schnelle Verbindung von Wien über Innsbruck in die nach dem Wiener Kongress neu zur Habsburger-Monarchie gehörende Lombardei mit der wichtigen Handels- und Verwaltungsstadt Mailand anlegen.


Bereits 1818 legte eine Kommission die Vorplanungen für eine Trassenführung vor; diese fand in der Zeit vom 6. - 9. Juni (!) des gleichen Jahres statt. Für Berliner Flughafen-Verhältnisse unglaublich. Es gab aber auch – anders als heute - keine Proteste der Bevölkerung in dem fast siedlungsleeren und -feindlichem Gebiet der Ortler-Alpen. Die Forderung nach einer 5m breiten Straße von Spondinig und Trafoi über das Stilfser Joch nach Bormio schien den späteren Vermessungsingenieuren in dem extrem aufsteigendem Gelände allerdings nicht für realisierbar.


Wesentlich günstigere Verbindungen durch die neutrale Schweiz wollte die Eidgenossenschaft Österreich für militärische Zwecke nicht gewähren. An eine geplante territoriale Abtretung des Münstertales war nicht zu denken. Somit musste dennoch – das Unvorstellbare – in steilstem und unwegsamen Gelände gebaut werden. Fachleute sprechen von einem der modernen architektonischen Weltwunder, das uns auch heute noch in großes Staunen versetzt. Einzigartig ist die Bauausführung dieser Straßenanlage; im obereren Teilstück der Ostrampe verläuft die Trasse nahezu senkrecht übereinander gestaffelt, dieser Verlauf hat sich bis heute erhalten. Ein weiteres Problem ist uns in heutiger Zeit nahezu fremd geworden: Man befürchtete, dass das – Anfang des 19. Jahrhunderts – noch stattfindende Gletschervorrücken die Straße oberhalb von Trafoi gefährden könnte. Ein Phänomen, das andere Ortschaften in Hochalpentälern erlebten.


Mit der Planung und Ausführung wurde Carlo Donegani aus Brescia, ein bekannter italienischer Straßen- und Schiffskanalbaumeister, betraut. Der Baubeginn war im Sommer des Jahres 1820, die Fertigstellung und Einweihung der gewaltigen Straßenanlage fand schon im Oktober 1825 statt. Die effektive Bauzeit betrug wegen der Winterpausen weniger als 2 Jahre. Es arbeiteten bis zu 2000 Arbeiter täglich an der Straße und dies z.T. auf einer Meereshöhe vom 3000 Metern. Einem latente Arbeitskräftemangel für diese schwierige Tätigkeit wurde in Bormio offiziell durch Androhung einer jahrzehntelangen bis lebenslangen Militärverpflichtung entgegengesteuert.
Die besonders stark lawinengefährdete Ostrampe erforderte für den Winterbetrieb aufwändig zu bauende hölzerne Lawinenschutztunneln mit einer Gesamtlänge von etwa 3500m. Bis 1848 war die Passstraße tatsächlich auch im Winter geöffnet und konnte mit Pferdeschlitten befahren werden. Die sechs Tunnels oberhalb von Bormio, der Braulioschlucht, stellten für die damalige Zeit die größten bautechnischen Schwierigkeiten dar. Italiener verstanden bereits in dieser Zeit Tunneldurchbrüche aus den Felsen herauszusprengen.


Für die gesamte Strecke wurden inklusive mehrerer Pferdewechsel 9 Stunden benötigt. Zweimal in der Woche fuhr neben dem täglichem Kuriertransport ein Frachtwagen von Mailand nach Innsbruck über Landeck und umgekehrt, grundsätzlich wurde dabei auf jeden Zwischenaufenthalt verzichtet; lediglich neun fest vorgeplante Pferdewechsel waren vorgesehen.
Für den laufenden Betrieb mussten ständig rund 500 Arbeiter die 2,70 m breite Straße pflegen und im Winter ständig vom Schnee befreien, um militärische Nachrichten per Schlitten in das österreichische Militärhauptquartier in Mailand zu Feldmarschall Radetzky zu bringen. Diese Straßenarbeiter wohnten gleich neben der Straße in der jeweils leicht rot angestrichenen Casa Cantoniera, die zum Teil bis heute noch stehen. Dies waren auch Pferdewechselstationen und Rast- und Übernachtungsstätten für Durchreisende.


Am 28. Juni 1832, die Straße war gerade schneefrei, besuchte der Habsburger Kaiser Franz I. das beeindruckende Bauwerk, sechs Jahre später nahm auch Kaiser Ferdinand diese imponierende Anlage in Augenschein. Dem Erbauer, Carlo Donegani, brachte das Werk den späteren vererblichen Adelstitel „Ritter von Stilfserberg“ ein.

 

1859 änderte sich die politische Landkarte; die Staatsgrenze zwischen der k. u. k. - Monarchie und dem neugeschaffenen Königreich Italien verlief dann auf der Höhe des Stilfser Jochs. Als die Lombardei 1866 von Österreich abgetreten werden musste, sank die geschichtliche Bedeutung dieser Hochalpenstraße. Im Ersten Weltkrieg zog sich die Frontlinie zwischen Italien und Österreich über die Passhöhe. Stellungen von erbitterten Kampfhandlungen zwischen Italienern und Österreichern sind bis heute noch vielfach in der Ortler-Gruppe erhalten.


Erst der Tourismus und die damit verbundene Motorisierung ab den 1920er-Jahren brachte wieder einen Ansturm auf die Pass-Straße. Es folgten sehr früh sogar Autowettfahrten und seit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg führte häufig eine Tagesetappe des bedeutenden Radrennens Giro d`Italia vom Vinschgau bis Bormio über die Hochalpenstraße.
Auf der Passhöhe wurde 1897 mit dem Hotel Ferdinandshöhe die erste Unterkunft geschaffen, später folgten weitere Hotels, Cafés und Souvenir Shops. Seit Jahrzehnten hat sich dort eines der größten Sommerskigebiete der Alpen entwickelt und wird von vielen Ski-Nationalmannschaften als Trainingsgebiet benutzt. Auf dem Joch befindet sich auch derzeit von einer italienischen Bank der höchstgelegene Bankschalter Europas.


Die Passhöhe blieb bis heute was sie immer war: Die Grenze dreier Sprachen, im Westen Italienisch im Osten Südtiroler Dialekt und wenige hundert Meter weiter nördlich Rätoromanisch.
Konflikte gibt es hier nicht mehr, auch wenn Fachleute der Tourismusbranche gegenwärtig behaupten, dass nach der betrieblichen Winterpause die Schneeräumung der Passstraße aus Richtung Bormio nur bis zur Passhöhe stattfinden würde, damit die Touristenströme nicht in das klimatisch begünstigte Südtirol abfließen.