Warum wir über Fleisch reden sollten

Akademische Veröffentlichungen, die es in sich haben, fliegen trotzdem meist unter dem medialen Radar. Ende letzten Jahres hat Gaya Harrington im renommierten Journal of Industrial Ecology einen solchen Artikel veröffentlicht. Der Inhalt in Kürze: „Wir sind auf Kurs.“ Auf Kurs sind wir für ein Katastrophenszenario, welches das World3 Modell des Club of Rome von 1973 vorausberechnet hat und das die beste Erklärung für den gegenwärtigen Stand und Trend aller ökonomischen, demographischen und ökologischen Parameter ist, die sie aus der Datenlage von 2020 zusammentragen konnte. Diese sprechen nur leider für jenes Szenario aus dem seinerzeitigen Report, in dem Sie nicht leben wollen: Willkommen im Perfect Storm aus Bevölkerungsexplosion, Ressourcenmangel, Energiemangel und ökologischem Multiorganversagen noch vor der Mitte des 21. Jahrhunderts! Wir haben ein ernstes Problem und wir haben es, weil wir 50 Jahre so getan haben, als hätten wir keines. Wir scheinen weiterhin unfähig, es anzugehen, weil wir immer noch nicht begriffen haben, dass wir nicht von einer fernen Zukunft sprechen. Der Moment, in dem nach dem Modell von 1973 die Kurven beginnen, ihren katastrophalen Verlauf zu nehmen, ist genau jetzt. Morgen ist heute geworden und wir alle fühlen – auf die eine oder andere Weise – den Moment der Schwerelosigkeit im Magen, bevor das Boot, in dem wir alle sitzen, in das tiefe Wellental stürzt.
Wenn Sie also aus meinen Vorschlägen meine persönliche Einstellung zu Bier, Katzenvideos und Sex ableiten wollen, ist Ihnen das ebenso unbenommen, wie ich umgekehrt unterstellen darf, dass Ihnen der Fleischverzehr nur deswegen ein Dorn im Auge ist, weil er für Sie leicht verzichtbar ist.
Das sind die Prämissen. Wenn Sie diesen nicht folgen können oder wollen, brauchen Sie nicht weiterzulesen. Wenn Sie diese Prämissen teilen, besteht leider weiterhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass wir uns mit bedauerlich großer Leidenschaft über einen Punkt streiten werden, über den sich Menschen schon die letzten 10.000 Jahre des Agrarischen Zeitalters oft und gerne gestritten haben: über das Fleischessen. Wir werden uns aber nicht darüber streiten, dass ich Sie vielleicht davon überzeugen möchte, dass Sie ruhig Fleisch essen können – wenn Sie nicht wollen, dann halt nicht; sondern ausschließlich darüber, dass Sie mich mit großer Leidenschaft davon überzeugen wollen, dass ich und auch sonst alle, keines essen sollen. Das ist im gegenwärtigen Overton-Window des öffentlichen Diskurses akzeptabel. Wenn Sie mich – mit ähnlicher Vehemenz – davon überzeugen wollten, dass ich keinen Alkohol trinken oder keinen Sex haben sollte, würde das wohl eher Befremden auslösen, auch wenn die Ablehnung des Rausches und der Fleischeslust eine zumindest ebenso lange und wechselvolle Geschichte hat, wie die Ablehnung der anderen Lust auf Fleisch. Zumal ich – um Ihren Einwand vorwegzunehmen, dass das in Hinblick auf unser Problem ja wohl nicht dasselbe sein kann – Ihnen ähnlich schlüssige Argumente vorlegen kann, warum ein Verzicht auf Sex und Alkohol gut für’s Klima und die Welternährung sind. Dass weniger Sex weniger Kinder bedeutet, muss ich Ihnen nicht mit Berufung auf päpstliche Autorität darlegen und Bevölkerungswachstum ist leider der wesentliche Driver all unserer Probleme. Und haben Sie sich schon mal Gedanken darüber gemacht – wenn wir schon Kuhpupse und Hektar Soja für Tierfutter zählen – wie viele Millionen Tonnen Gerste, Reis, Kartoffeln und Korn sinnlos zu Alkohol vergoren werden, nur damit sich ein paar Leute besaufen können? Schockierende Zahl: Eine mittelständische Brauerei setzt für jeden Hektoliter Bier eine Tonne CO2 frei! Man kann auch ohne Alkohol leben und es ist vielleicht sogar gesünder! Ich hätte noch einen Vorschlag, gerade für die jüngeren, medienaffinen von Ihnen, in denen sich statistisch der Großteil der Fleischverweigerer findet: Schalten wir das Internet ab! Ein Vielfaches von dem, was wir uns seit den 90ern durch effizientere Autos, Wärmedämmung und quecksilberhaltige Energiesparlampen eingespart haben, haben wir verbrannt, um uns zu jeder Tages- und Nachtzeit von zuhause aus Katzenvideos, Netflix-Serien und nackige Leute ansehen zu können. Ich bin alt genug, mich zu erinnern, dass es völlig problemlos möglich war, in einer Welt zu leben, in der man sich Pornoheftchen beim Bahnhofszeitungsstand geholt hat, eine Woche auf die nächste Folge seiner Lieblingsserie wartete und Bilder von Katzen nur ansehen musste, wenn man wirklich an solchen interessiert war. Ich wage zu behaupten, dass dies nicht nur gut für’s Klima, sondern auch für unsere (geistige) Gesundheit wäre. Wenn Sie angesichts dieser Vorschläge Schnappatmung bekommen, kann ich Sie beruhigen: Ebenso wie die Idee einer veganen Welt ist dies weder sinnvoll noch wahrscheinlich.
Das Internet, Alkohol und Sex haben andere, wichtige, soziale und kulturelle Funktionen und durchaus einen praktischen Nutzen, genauso – wie Sie sicher einsehen werden, wenn Sie sich ein wenig, mit dem Funktionieren traditioneller, agrarischer Systeme und nachhaltiger Landwirtschaft beschäftigen – wie es Viehhaltung und am Ende der Verzehr des Nutztieres haben. Was wir führen, ist eine „Seewurfdebatte“. Unser Boot stürzt in das Wellental und jeder schaut sich panisch um nach Gütern, die über Bord geworfen können, um den Untergang zu verhindern. Der Bick fällt dabei nachvollziehbar zuerst auf die Güter, die einem selbst verzichtbar erscheinen; und zum Feind wird der, der diese verteidigt, weil er aus unserer Perspektive alle in Gefahr bringt. Wenn Sie also aus meinen Vorschlägen meine persönliche Einstellung zu Bier, Katzenvideos und Sex ableiten wollen, ist Ihnen das ebenso unbenommen, wie ich umgekehrt unterstellen darf, dass Ihnen der Fleischverzehr nur deswegen ein Dorn im Auge ist, weil er für Sie leicht verzichtbar ist. Das unwürdige Schauspiel, das sich indes entspinnt, ist ein Schiff in stürmischer See, dessen Passagiere und Mannschaft darüber streiten, ob zuerst die Funkanlage, die Bar oder die Fleischkonserven über Bord gehen. Das beruhigende an dem Drama ist, dass es wahrscheinlich zu dem Outcome führen wird, der von Anfang an der anzustrebende gewesen wäre: Alle verlieren. Und das ist nicht einmal schlecht. Unser Problem ist nämlich nicht das Fleisch, das Internet, der Alkohol oder die Fleischeslust – mit denen leben und hadern wir schon seit mehr oder weniger langer Zeit – sondern zu viele von uns, die zu viel davon haben wollen. Der einzige Kurs voraus führt aber in eine Welt, in der wir alle weniger von allem haben werden. Außer vielleicht Sex.