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„Vites scutedes via“

Die ladinische Autorin Rut Bernardi erzählt von ihrem Buch „Totgeschwiegene Leben“, über die Schicksale ihrer Figuren und wie sie zu diesen Geschichten fand.
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Foto: edition raetia
„Totgeschwiegene Leben“, auf Ladinisch „Vites scutedes via“, ist eine im Jahr 2020 bzw. 2021 erschienene Sammlung von Essays, geschrieben von der ladinischen Autorin Rut Bernardi. Es handelt sich um fünf Geschichten, die in einem Zeitraum von 250 Jahren, jeweils die Lebensgeschehnisse einer Person aus dem Grödental verfolgen. Von Maria Theresia Sanoner, die 1785 ins Kloster Säben ging um Nonne zu werden und sich 1809 das Leben nahm, um den französischen Soldaten zu entkommen. Zu Matie Ploner, Organist und der erste ladinische Autor und Dichter, dann über Rosalia Nogler, die ihren Mann und Familie in St. Ulrich verließ, um mit einem österreichischen Offizier nach Salzburg wegzulaufen. Zu Anna Maria Wanker, die Schuldirektorin während der Option war, bis hin zu Pepi (Josef) Demetz, der wegen seiner Epilepsie nach Zwiefalten gebracht wurde und dort die Unmenschlichkeiten des nationalsozialistischen Regimes miterleben musste.
Was diese Figuren verbindet, ist eine komplizierte Beziehung zu ihrer Heimat, die sie trotz allem aber immer zu Gröden verbunden fühlen ließ.
 
 
Salto.bz: Frau Bernardi, Sie unterrichten Ladinisch an der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Bozen. Wer widmet sich denn dem Studium der ladinischen Sprache?
 
Rut Bernardi: Alle Ladiner:Innen die Volksschulleher:In, oder Kindergärtner:Innen werden wollen, müssen in Brixen die Bildungswissenschaften besuchen und alle drei Abteilungen belegen, Italienisch, Deutsch und Ladinisch, weil sie ja dann in der Schule alle drei Sprachen unterrichten müssen.
 
Gibt es aber Studierende der ladinischen Sprache?

Man kann zwar die Diplomarbeit in Brixen auf Ladinisch schreiben, aber dieses Studium gibt es nur in Zürich, Padova und Fribourg. Bei uns wird es aber langsam aufgebaut, die Fakultät in Brixen gibt es auch erst seit 15 Jahren.
 
Es ist ganz einfach: Ich schreibe auf Ladinisch, weil dies meine Muttersprache ist.
 
Warum haben Sie sich dazu entschieden, auf Ladinisch zu schreiben?
 
Das ist so eine Frage, die mich zum Lächeln bringt. Ein deutscher Autor wird nie gefragt, warum er auf Deutsch schreibt. Es ist ganz einfach: Ich schreibe auf Ladinisch, weil dies meine Muttersprache ist.
 
Und wie sind Sie auf die Idee des Buches „Totgeschwiegene Leben – Vites scutedes via“ gekommen?
 
Das ist eine gute Frage. Ich habe von 2008 bis 2013 “Die Geschichte der ladinischen Literatur“ geschrieben. Fünf Jahre lang habe ich Tag und Nacht über den Schreibtisch gebeugt gearbeitet. Dort bin ich dann auf Matie Ploner gestoßen, den ersten ladinischen Autor und Poeten. Von ihm habe ich von Dr. Toni Sotriffer aus Bozen seine ganzen Tagebucheinträge bekommen. Er schrieb fast jeden Tag auf Deutsch, meistens ein paar Zeilen. Geboren wurde er 1770 und verstorben ist er 1845.
Er hat die ersten Gedichte auf Ladinisch geschrieben, von denen man sagen kann, dass sie einen ästhetischen Anspruch haben.
Als das Werk “Die Geschichte der ladinischen Literatur“ dann 2013 erschienen ist, habe ich ein Buch von Ulrich Ladurner, einem Meraner Journalisten, gelesen, der die Südtiroler Geschichte durch die Geschichten einzelner Menschen literarisch erzählt. Das ist mir dann sofort als eine gute Idee vorgekommen und so habe ich mich der Geschichte Matie Ploner’s gewidmet, weil ich bereits die ganzen Tagebucheinträge hatte.
Als ich mit ihm fertig war, dachte ich mir, dass ich auch andere machen könnte.
Dadurch bin ich auf die Geschichte der Nonne Maria Theresia gekommen, weil ich jeden Tag wegen meines Rückens zum Kloster Säben hinaufspazieren muss: Beim Hinaufgehen habe ich mir immer vorgestellt, wie sie selbst hinaufspaziert ist, als sie dem Orden 1785 beigetreten ist. Von ihr habe ich einiges aus der Chronik von Säben bekommen, von Ingrid Facchinelli, die die Dokumente transkribiert. Zu ihrer Zeit herrschten aber die napoleonischen Kriegsjahre, also fand ich nur sehr wenig über sie.
 
Ich habe richtig geweint.
 
Im Buch steht sogar, dass während des Angriffs seitens der Franzosen einige Dokumente des Klosters verloren gingen.
 
 Ja genau. In den Faszikeln anderer Nonnen steht viel mehr, über Maria Theresia leider nur sehr wenig. Da habe ich viel selbst dazugeschrieben, was aber auch der Sinn dieses Buches ist. Es handelt sich bei diesen fünf Portraits nämlich um Essays und diese sind, laut Michel de Montaigne und der französischen Literatur, ein literarischer Versuch.
Für jedes Essay habe ich also Fakten gesammelt und diese dann literarisch ausgearbeitet.
Für Matie Ploner hatte ich wie gesagt seine Tagebucheinträge, von Maria Theresia Sanoner die Faszikel. Rosalia Nogler war hingegen meine Urgroßmutter, Anna Maria Wanker meine Großtante, also habe ich in Bezug auf sie vieles von Verwandten erfahren. Die Geschichte von Pepi habe ich im Internet gehört. Er hat in den 80er Jahren seine Geschichte auf Band aufgenommen. Als ich sie mir angehört habe, hat mich das sehr mitgenommen. Ich weiß noch, wie ich in der Stube saß und mich einfach reingeklickt habe. Ich habe richtig geweint.
 
 
Also haben Sie einen direkten Bezug zu fast all diesen Figuren?
 
Ja doch, es gibt aber keinen zusammenhängenden Faden zwischen ihnen, muss ich zugeben. Matie Ploner, zum Beispiel, hatte ein privilegiertes Leben, das kann man kaum mit dem Leben von Pepi Demetz vergleichen.
 
Wie lange haben Sie gebraucht die Unterlagen zu sammeln und die Essays zu schreiben?
 
Insgesamt habe ich fünf Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben, ein Jahr pro Essay. Im Landesarchiv in Bozen habe ich viel über die Familien und Höfe gefunden. Zudem habe ich dann viel von Verwandten erfahren und in Bibliotheken selbst recherchiert.
 
Die Geschichte von Rosalia Nogler, Ihrer Urgroßmutter, ist doch ziemlich skandalös, speziell für die damalige Zeit. Wie einfach war es Verwandte dazu zu bringen, Ihnen von ihrer Geschichte zu erzählen?
 
Meine Tante war die erste, die mir über Rosalia erzählte, sonst hat nie jemand ein Wort über sie verloren.
Aber die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Einige haben mir gesagt „Du wirst wohl nicht die richtigen Namen verwenden wollen!“. Da dachte ich mir bloß „Nach hundert Jahren, da werde ich wohl sagen können was passiert ist“.
Bei den Verwandten aus Salzburg hat mir eine Person geschrieben „Sie werden die Familie doch nicht durch den Dreck ziehen!“, eine andere hat hingegen geschrieben „Endlich kommt es ans Licht, was damals wirklich passiert ist!“
 
In der deutschen Übersetzung sind einige Worte und Sätze doch noch auf Ladinisch geblieben?
 
Ja, die Namen, einige Ortschaften. Matie Ploner hatte in seinem Tagebuch, ganz auf Deutsch geschrieben, Worte, von denen er nicht wollte, dass man sie versteht, auf Ladinisch gelassen. Zum Beispiel schrieb er den Satz „La cuega de Calonia à parturì n pitl y ie muceda a Caprile.“ – Die Pfarrersköchin hat ein Kind geboren und ist nach Caprile geflüchtet, auf Ladinisch, man kann sich denken, weshalb.
Diese habe ich auf Ladinisch gelassen und in den Fußnoten übersetzt.
 
Warum hat denn Matie Ploner sein Tagebuch auf Deutsch geführt? Es wird zwar erklärt, dass man damals wichtige Dokumente und Briefkorrespondenzen auf Deutsch geführt hat, aber ein Tagebuch ist doch ein persönliches Dokument?
 
Ja, das ist merkwürdig. Es ist schwierig sich in den Kopf von jemandem reinzudenken, der vor über zweihundert Jahren lebte. Obwohl er es ja war, der die ersten Gedichte auf Ladinisch geschrieben hat. Es handelt sich dabei meist um lustige Gedichte, um Spaß zu machen, wie zum Beispiel das Gedicht für seinen besten Freund zum Namenstag.
Seine zwei Gedichte, die heute noch berühmt sind, „La Vedla Muta“ und „L Vedl Mut“, die „Die alte Jungfer“ und der „Der Junggeselle“, sind sechs und zwölf Strophen lang, beide mit Reimen und beide auf Ladinisch geschrieben und sind vom literarischen Sichtpunk aus, sehr komplexe Werke. Wer weiß weshalb er dann das Tagebuch auf Deutsch geschrieben hat.
 
Wer weiß, vielleicht hatte er sich gedacht, dass falls jemand seine Tagebücher irgendwann lesen wollte, wäre Deutsch leichter zu verstehen gewesen, da diese Sprache von viel mehr Personen gesprochen wird.
 
Das könnte sein, genauso wie die Autoren jetzt, die schreiben auch auf Deutsch oder Italienisch, weil sie mit dem Ladinischen nicht weiterkommen.
 
Am Kloster konnte sie sogar lesen und schreiben lernen. Das war für sie sicherlich ein großer Schritt in die Freiheit.
 
Vorhin haben Sie gesagt, dass es keinen Leitfaden gibt, der die Figuren miteinander verbindet. Mir ist aber vorgekommen, dass sie, wer mehr und wer weniger, eine von Konflikten begleitete Beziehung mit ihrer Heimat hatten. Haben Sie deswegen ihre Geschichten ausgesucht?
 
Natürlich. Ich habe die Leute ausgesucht die Schwierigkeiten hatten, deswegen heißt das Buch ja „Vites scutedes via“, also „Totgeschwiegene Leben“. Ich habe nicht über Jemanden geschrieben, dessen Leben nur gut verlief, außer vielleicht der Matie Ploner, aber er ist interessant, weil er der erste Ladinische Autor ist.
Das könnte tatsächlich der rote Faden sein: Leute, die in ihrem Leben nicht anerkannt wurden, oder Schwierigkeiten in ihrem Leben hatten, das das Schicksal auf andere Bahnen geleitet hat.
Wie meine Urgroßmutter, die von zuhause weggelaufen ist oder auch die Nonne zum Beispiel. Da schreibe ich im Buch „ein Schritt in die Freiheit“, denn wenn man an damals denkt, als Frau auf einem Hof in Wolkenstein, da war sie dann als Nonne doch privilegiert. Im Kloster konnte sie sogar lesen und schreiben lernen. Das war für sie sicherlich ein großer Schritt in die Freiheit.
 
Sie mussten in ihrer Geschichte viele „Löcher“ ausfüllen, ist denn ihr Ende wahr?
 
Absolut, sie ist zur Zeit der napoleonischen Kriegen, am 5. Dezember 1809 vom Felsen des Kloster Säben hinuntergesprungen. Am Kloster steht sogar eine Plakette, es steht zwar „Senoner“, aber in den Archiven hieß sie Sanoner.
Natürlich wissen wir nicht genau, wie und warum sie sich das Leben nahm, das ist in diesem Fall dichterische Freiheit. Die kirchliche Bestattung ist aber auch wahrheitsgemäß, das hat die Altäbtissin Pustet geschrieben.
 
Gibt es eine der fünf Erzählungen, die es Ihnen besonders angetan hat?
 
Komischerweise dachte ich, dass die Klosterfrau von meinem Denken und meiner Sozialisation her, von mir am weitesten entfernt wäre, denn was haben wir mit Kloster und Kirche zu tun?
Doch zum Schluss war sie mir am nächsten, denn ich konnte mich am meisten in ihre Geschichte hineinversetzen. Ich habe sie zur Ökonomin gemacht, also für die Tiere verantwortlich, doch tatsächlich wissen wir nicht, was ihre Aufgabe war. Ich habe ihr diese Aufgabe gegeben, denn es wäre das gewesen, was mir gefallen hätte. Stallkühe, Tiere, ihre Versorgung.
 
Die Nonne Maria Theresia hat doch auch eine Katze namens Luzifer, ist die auch dazuerfunden?
 
Ja, das ist reine Autorenphantasie. Ich habe an die Sonne gedacht, wenn sie in der Früh Richtung Villnöss aufgeht und dann ist mir Luzifer, der Lichtträger eingefallen. Ich habe selbst auch gerne Katzen um mich, also war das naheliegend, dass ich der Geschichte eine Katze hinzufüge.
 
Der Pepi, vor ihm hatten sie damals Angst nach dem Krieg, denn er hatte all diese Schrecken miterlebt und konnte sich an alles erinnern.
 
Es gibt zwei Stellen im Buch, die meine Aufmerksamkeit erregt haben. Eine findet sich am Ende der Geschichte über Pepi Demetz, wo du sein Grab in St. Ulrich besuchst. Im Buch schreiben Sie „(…) lese ich noch die Grabinschrift: „Endlich wieder Daheim!“ Zynismus kennt keine Grenzen.“
 
Den letzten Satz lese ich bei Lesungen nicht mehr. Es handelt sich um die wahre Inschrift seines Grabes und als ich die gelesen habe, dachte ich mir nur, dass das ja unglaublich ist. Da ist es nicht nötig, dass ich „Zynismus kennt keine Grenzen“ dazu lesen, denn wer verstehen will, wird verstehen.
Sein letzter Wunsch war im Grab seiner Stiefmutter mitgelegt zu werden. Die Antwort des damaligen Bürgermeisters war, dass er das könne, er müsse sich aber vorher einäschern lassen. Als er das hörte, wurde Pepi fast ohnmächtig. Er hat den Massenmord an den Juden selbst miterlebt und der Bürgermeister sagte ihm, er solle eingeäschert werden!
Als er dann 1998 verstarb, dauerte es vier Jahre, bis er nach St. Ulrich gebracht werden konnte, ohne eingeäschert werden zu müssen… Der Pepi, vor ihm hatten sie damals Angst nach dem Krieg, denn er hatte all diese Schrecken miterlebt und konnte sich an alles erinnern.
 
Im Buch erzählt er, wie lange er gebraucht hat, um aus Zwiefalten rauszukommen und St. Ulrich besuchen zu dürfen. Er erklärt auch, wie die unmenschliche Behandlung weiter anhielt.
 
Erst in den 70er Jahren durfte er endlich einen Monat im Jahr nach St. Ulrich kommen. Nur weil der Krieg zu Ende war und man erfahren hatte, dass es schlimm war, hieß das nicht, dass die Köpfe der Menschen geändert wurden. Viele von ihnen blieben Nazis oder Antisemiten. Dafür braucht es Generationen.
 
 
Der zweite Punkt, den ich ansprechen wollte, findet sich ganz am Anfang, im Motto des Buches: „Wie kann sich der verhältnismäßig schwache Mensch gegen die Übermacht der bedrohlichen Wirklichkeit behaupten? Gelingt es ihm tatsächlich nur mithilfe einer Kultur, die sich nicht unmittelbar auf die Welt einlässt, sondern Abstand zu ihr hält?“ was meinen Sie damit?
 
Das ist etwas, was noch niemand angesprochen hat, aber das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich glaube, dass wenn wir bewusst Ladiner wären, ich sage, wären, denn die jetzigen Umstände sind weit davon entfernt, aber wären wir es, so könnten wir in unserer Kultur und unserer Sprache die Dinge, die in anderen, größeren Kulturen oft schief gehen, besser machen. Wir hätten diese Chance, denn wir müssten uns nicht auf die Welt einlassen, auf diesen ganzen Wirbel und auf die Missstände, die passieren.
Natürlich besteht dann die Gefahr, dass man sich zu sehr verschließt. Es ist schwierig das richtige Gleichgewicht zu finden, aber wir hätten die Chance.
 
Jetzt eine etwas persönliche Frage, warum als Ladinerin in Klausen leben?
 
Das ist ganz einfach, das Haus gehörte meinem Vater, der es mir in den 90er Jahren vererbte. Als ich es übernahm, war ich noch skeptisch, ich war 30 und arbeitete gerade in Zürich. Dann haben sich aber verschiedene Arbeiten ergeben und ich bin sozusagen hängen geblieben. Es war für mich auch nicht schlecht, denn ich hatte endlich die Stabilität und Ruhe, um mich dem Schreiben zu widmen.
Ich dachte mir „So, jetzt zieh ich das durch“, und fing an, das zu machen, was ich wollte, also lesen und schreiben. Damals war ich 30, jetzt bin ich 60. Im Leben muss man irgendwann eine Entscheidung treffen, in meinem Fall beinhaltete diese auch, mich „gegen“ Familie und Kinder zu entscheiden. Bis jetzt habe ich nichts bereut.
 
Was sind denn Ihre Projekte für die Zukunft?
 
„N lëur mez fat, ti mostren mé a n mez mat“ – Eine halbfertige Arbeit, zeigt man nur einem Halbverrückten (lacht).