Politik | salto-Gespräch

"Ohne Ehrlichkeit funktioniert es nicht"

Wie lebt sich Politik als parteilose Quereinsteigerin? Madeleine Rohrer über das Gefühl gegen Wattewände zu laufen, eine Herkulesaufgabe und weibliche Aha-Erlebnisse.
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Foto: Foto: Salto.bz

salto.bz: Bald drei Jahre sind vergangen, seit Sie als parteilose Quereinsteigerin in eine für Südtirol ungewöhnliche Regierungsmannschaft eingestiegen sind. Wie sehr hat Sie diese Arbeit verändert, spreche ich heute noch mit derselben Madeleine Rohrer wie Sie es damals waren?
Madeleine Rohrer: Ich würde zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Auf der fachlichen bin ich tatsächlich nicht mehr ganz dieselbe wie damals. Ich habe dazugelernt. Auf menschlicher Ebene hingegen glaube ich, dass ich geblieben bin, wer ich war. Das mögen aber andere beurteilen.

Doch fachlich fordert die Tätigkeit als Gemeindeassessorin schon ganz anders als jene als CIPRA-Funktionärin? Oder Geschäftsführerin des Vereins „Alpenstadt des Jahres“? 
Es geht dabei inhaltlich um ganz andere Bereiche. Als ich zu Anfang in einer Gemeinderatssitzung etwas zur Urbanistik erklären oder meine ersten Pressekonferenzen bestreiten musste, war ich schon sehr aufgeregt. Doch man lernt alles. Und heute sagen der Paul (Rösch, Anm. d. Red.) und ich uns immer wieder, welch großes Privileg es doch ist, diese Arbeit machen zu dürfen.

Warum? 
Man hat Gelegenheit, mit vielen kompetenten Menschen zusammen zu arbeiten, sich mit wichtigen Themen und auch Personen zu beschäftigen, mit denen man sonst nie zu tun bekommen hätte. 

Zumindest aus der Bozner Perspektive wirkt es so, als würden Sie die Öffentlichkeit nicht besonders suchen, eher viel im Stillen arbeiten. Ist das so ein typisch weibliches Muster: Viel zu buckeln, aber es nicht entsprechend zu verkaufen? 
Vielleicht hat das mit meinem Charakter zu tun. Mir gefällt diese aufgeregte Art, Politik zu machen, einfach nicht. Ich gehe gerne zu Bürgerversammlungen, weil man mir dort Fragen stellen kann. Aber ich bin nicht jemand, der auf tausend Hochzeiten tanzt und jede Einladung annimmt. Und an den Wochenenden lasse ich mich selten wo sehen, weil ich Zeit für mich und mein Privatleben brauche. 

Doch Politik ist auch ein arbeitsintensives und oft aufreibendes Feld?
Natürlich. Auch wenn ich in diesen Jahren gespürt habe, wie wenig Vertrauen in die Politik es gibt. Vertrauen darauf, dass nicht alle nur in die eigene Tasche wirtschaften und nur ans Eigene statt an das Gemeinwohl denken. Mir ist ganz wichtig zu vermitteln: Wenn wir diese Arbeit machen und wenn wir viel arbeiten, dann, weil wir glauben, unser Meran damit ein bisschen besser zu machen. 

Bringen die Menschen einer parteilosen junge Frau mehr oder weniger Vertrauen entgegen als einem eingefleischten Berufspolitiker?
Das zu beurteilen steht mir nicht zu.

Weil Sie ja nicht in der Haut eines Karl Zeller oder – um in der Stadtregierung zu bleiben – Stefan Frötscher stecken? 
Genau. Ich muss aber sagen: Es hat etwas Befreiendes, wenn man niemanden etwas versprochen hat und niemanden etwas versprechen muss. 

„Statt sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen, wie viele Autos durch eine Straße fahren können, wird debattiert, ob ich hässlich oder schön bin. Da denke ich mir dann schon: Aha! Und vor allem: Welcher Politiker erlebt so etwas?"

Wenn Sie noch einmal antreten, müssten aber auch Sie einen Wahlkampf bestreiten.
Ich musste keinen Wahlkampf führen, bevor ich dieses Amt antrat, und ich muss diese Arbeit auch nicht ewig machen.

Das heißt, Sie denken nicht an Ihre Stimmen bei der nächsten Wahl, wenn Sie sich für Tempo 30 in Merans Straßen stark machen? 
Ich habe für mich entschieden, dass ich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vor den kommenden Wahlen nicht darüber nachdenke, ob ich noch einmal antrete. Denn sonst hätte ich tatsächlich das Problem, in die Denke zu kommen: Wenn ich jetzt das sage oder jenes nicht verspreche, könnte es mich Stimmen kosten. Und deshalb finde ich es sauberer, einen Zeitraum festzulegen, in dem man arbeitet. Irgendwann kommt dann der Zeitpunkt, an dem ich auch überlegen werde, wie es weitergeht. 

Doch Sie wissen jetzt schon, dass Sie nicht um jeden Preis Gemeindeassessorin bleiben wollen? 
Ja, ich brauche dieses Amt nicht dafür, dass es mir gut geht. Wenn ich in zwei Jahren etwas anderes mache, ist das für mich vollkommen in Ordnung. Vor allem kann und will ich nicht anders arbeiten, als ich es mache. Als man mir beispielsweise das erste Mal erklärt hatte, dass eines der großen Probleme beim Wiedergewinnungsplan in Sinich die vielen Bauvergehen sind, hat mir das zunächst schon den Schlaf geraubt. Wie gehe ich in ein Stadtviertel und erkläre den Leuten, dass sie etwas getan haben, das nun nicht mehr so geht – auch wenn sie wahrscheinlich im guten Glauben waren oder ihnen jemand gesagt hat, dass es in Ordnung geht? Wenn man die Leute in so einer Situation nur als Wähler im Kopf hat und nicht als Menschen, dann wird es schon schwierig, ehrlich zu bleiben. 

Die Frage ist, wie ehrlich Politik überhaupt sein kann?
Für mich kann es ohne Ehrlichkeit nicht funktionieren. Wenn Menschen zu mir in die Sprechstunde kommen und etwas wollen, von dem ich weiß, dass es nicht möglich ist, sage ich ihnen das auch klar ins Gesicht. Ohne lange zu versprechen, „dass ich mich bemühen werde“. Ich bekomme aber auch Rückmeldungen von Leuten, die mich fragen: Warum tust du dir das an? Bring doch ein bisschen Wasser auf Deine Mühlen. Aber so bin ich halt nicht.

Sehen Sie es als eine der Ursachen für die steigende Politikverdrossenheit, dass viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu sehr damit beschäftigt sind, wiedergewählt zu werden? 
Ich denke, das eigentliche Problem ist die Kompliziertheit der Welt, in der wir leben. Und dass es immer schwieriger wird, zu durchschauen, was es braucht und wie vieles miteinander in Zusammenhang steht. Mir fällt da eine Pressekonferenz am Anfang der Legislatur ein, in der wir groß angekündigt haben, dass wir jetzt den Lenoirsteg, also die ehemalige Thermenbrücke, für Fahrräder aufmachen. Voller Stolz und Überzeugung, im Sinne eines durchgängigen Fahrradnetzes und so weiter. Doch was passiert? Erst einmal sechs Monate nichts, weil es so lange gedauert, hat bis wir endlich das dafür notwendige Verkehrsschild bekommen haben.

Warum das?
Habe ich mich auch gefragt. Doch da muss alles ausgeschrieben werden, und ist noch diese und jene Prozedur einzuhalten, und so vergehen Monate, obwohl jeder sagt: Wir machen so schnell wie möglich. Am Ende steht auf Facebook: Ihr Politiker seid alle unfähig. Bringt nichts weiter. 

Stattdessen ist es das viel kritisierte System, das uns alle unfähig macht? 
Es bremst uns PolitikerInnen jedenfalls her. Wir haben oft selber das Gefühl, wir laufen gegen Wattewände und es geht gar nichts voran. 

Die zunehmende Komplexität unserer Welt führt aber auch dazu, dass immer mehr BürgerInnen eine Politik wollen, die ihnen einfache Antworten und Lösungen serviert. 
In diesem Sinne sollte ich einfach nur versprechen: Wir lösen das Meraner Verkehrsproblem. Wir bauen die Nord-West-Umfahrung, und alles ist gut. Doch so ist es nun einmal nicht. Die Nord-West-Umfahrung kommt in sechs oder vielleicht acht Jahren, und auch sie wird nicht alle Probleme lösen. Außerdem nimmt der Verkehr bis dahin weiterhin jedes Jahr um mindestens einen Prozent zu, wie uns die Statistiken zeigen, und irgendwann bricht wirklich alles zusammen. Wir haben also eine wahre Herkulesaufgabe vor uns. Das bitte ich die Menschen zu verstehen.

„Ich denke, es braucht schon auch eine Kostenwahrheit. Jemand, der  Stau und Umweltgifte produziert, sollte auch mehr zahlen als jemand, der sich mit Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt.“

Es wird schon einigermaßen klar, wenn man über Ihre Facebook-Seite scrollt und die vielen Projekte sieht, über die Sie dort berichten: Städtischer Verkehrsplan, Pedibus, Kreativwettbewerb, wie das Miteinander im Verkehr funktionieren kann....Ist der Verkehr ein besonderes Herzensanliegen, soll Meran Südtirols Vorreiter in Sachen grüne Mobilität werden?
Das wäre mein Ehrgeiz, und es war ja auch ein vorrangiges Wahlversprechen von Paul Rösch. Der Unterschied, den Meran hier im Vergleich zu vielen andern Gemeinden vielleicht macht: Uns geht es nicht nur um Infrastruktur, sondern noch viel mehr um Emotionen, um die Vermittlung von Werten.

Welche Emotionen das Auto auslöst, hat man ja zuletzt bei der Tempo-30-Diskussion gesehen, wo Sie letztendlich wieder einen Rückzieher machen mussten. Bei solchen Gelegenheiten entsteht das Gefühl, das Auto hat für viele Menschen eine vergleichbare Symbolik wie die Schusswaffe  für viele Amerikaner. Also, über seine Funktion hinaus verkörpert es bestimmte Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung, was auch immer....
Das ist klar, irgendwie. Die Meraner verbringen jeden Tag 1,5 Stunden mit Mobilität, im Durchschnitt mit 3,5 Wegen oder in Summe aller Meraner mit 130.000 Wegen pro Tag. Das heißt, wir sind alle ständig unterwegs. Die Frage, wie ich von einem Ort zum anderen komme, aktiviert Reflexe, mit dem viele Emotionen einhergehen. Die so richtig losgehen, wenn plötzlich jemand sagt, wir unser sollen Mobilitätsverhalten ändern.

Und zum Beispiel langsamer fahren ... 
Bei unserem Vorschlag Tempo 30 haben wir auch deshalb eingelenkt, weil uns die BürgerInnen aufgezeigt haben, dass es auf bestimmten Durchzugsstraßen wie etwa der Romstraße einfach zu kompliziert wird, wenn ich auf einem Abschnitt 30 und auf anderen 40 oder 50 fahren kann. Das haben wir eingesehen. Wir waren anfangs von dem Grundsatz ausgegangen, je näher der Innenstadt, desto langsamer. 

 

Gehen wir noch einmal zurück zu den Werten. Was genau möchten Sie da vermitteln? 
Zum Beispiel, das Gefühl, dass Radfahren eine praktische, komfortable, schicke und soziale Art der Fortbewegung ist. Wir sehen, dass sich die Radfahrer in allen Städten, in denen es einen hohen Anteil an Radverkehr gibt, wertgeschätzt fühlen. Oder dass zum Beispiel der Bus vielerorts als weit weniger sexy gilt als eine S-Bahn. Also, es geht auch darum, an der Wahrnehmung von Verkehrsmitteln zu arbeiten.

Wohl aber auch an der Realität, wenn man beispielsweise an die überfüllten Busse von Bozen nach Meran denkt ...
Sicher. Ich fahre in Meran den ganzen Winter über mit dem Bus zur Arbeit, und manchmal ist es wirklich eine Zumutung. Viele Busse sind 15 Jahre alt, es ist laut, es klappert überall, und wenn sie dann auch noch zu spät kommen, haben sie bei vielen Menschen verständlicherweise schon verloren.

Also, braucht es  pünktliche und neue Busse, um das Image des Busses zu ändern und so mehr Menschen zum Umsteigen zu bewegen? 
Unsere Vision wären CO2-neutrale Verkehrsmittel wie Elektrobusse. Wenn man die noch mit einer spannenden Kommunikation verbindet und dafür eine eigene Marke schafft, könnte man so manches in den Köpfen der Menschen und somit im Mobilitätsverhalten verändern.  

Es gab bereits in der Vergangenheit viele Bemühungen in Richtung Green Mobility und dennoch steigt der Individualverkehr von Jahr zu Jahr. Woran happert es hier, warum bewegen wir uns ausgerechnet bei dieser Wende  in solch einem Schneckentempo? 
Wir haben unsere Städte 60 Jahre lang für Autos geplant, haben die dafür passenden Infrastrukturen geschaffen und unser Verhalten darauf ausgerichtet. Es ist schwierig, das alles von heut’ auf morgen umzustellen. Das braucht Zeit.  Ich hoffe, dass wir dafür nicht wieder 60 Jahre brauchen. 

„Ich muss aber sagen: Es hat etwas Befreiendes, wenn man niemanden etwas versprochen hat und niemanden etwas versprechen muss.“

Womit könnte man diese Entwicklung beschleunigen?
Zum Beispiel, dass öffentliche Verkehrsmittel dorthin fahren, wo man mit dem Auto nicht hinkommt. Doch in Meran haben wir im Zentrum viele Parkgaragen. Wie also erkläre ich jemanden, dass er den Bus oder das Fahrrad nehmen soll, wenn er mit dem Auto vielerorts noch näher hinkommt. 

Was ist die Lösung? Die Parkagaragen im Zentrum zu schließen?
Ich denke, es braucht schon auch eine Kostenwahrheit. Jemand, der  Stau und Umweltgifte produziert, sollte auch mehr zahlen als jemand, der sich mit Rad oder öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegt. 

Sprich, er soll höher besteuert werden?
Es könnte eine Umweltsteuer sein, warum nicht? Die Einnahmen daraus müssten dann allerdings wieder in den Ausbau der Radinfrastruktur oder öffentlicher Verkehrsmittel fließen, so dass ein kleiner Kreislauf entsteht. So würden bestimmte Fortbewegungsarten zwar teurer, aber wir können echte Alternativen bieten statt nur einen Bus, der so voll ist, dass ich nicht einmal sitzen kann. 

In dieser Legislatur werden Sie das aber wohl nicht mehr erleben? 
Ich bin überzeugt, dass sich Meran – wie auch Bozen – die Frage stellen muss, was uns wirklich wichtig ist, gerade in Hinsicht auf die Stickstoffdioxid-Problematik. Ist uns die Gesundheit unserer BürgerInnen wichtiger oder dass wir mit unserem Auto überall hinkommen? Die Frage muss sich jede und jeder selbst stellen. Aufgabe der Politik ist es, darauf Antworten zu finden. 

Geht das auf Gemeindeebene leichter oder würden Sie lieber auf Landesebene an den entsprechenden Gesetzes arbeiten? 
Mir gefällt die Gemeindepolitik gerade deshalb, weil man sich hier mit konkreten Fragen auseinandersetzt. Wir gefällt es, mit Kindern in einem Workshop herauszufinden, was sie sich für einen Platz wie den Brunnenplatz wünschen, oder die Neugestaltung des Dorfplatzes von Sinich gemeinsam mit seinen Anrainern anzugehen. Je weiter weg man „vom Alltag“ sitzt, um so schwerer ist das möglich. 

Wie schwierig ist es aber, wenn die konkreten Vorstellungen der Menschen, mit denen Sie zusammen arbeiten, so gar nicht den eigenen Visionen entsprechen? Wie am Dorfplatz vom Sinichden Sie doch gerne von Parkplätzen befreit hätten. 
Wenn man sich auf so einen partizipativen Prozess einlässt, wie wir es in Sinich machen, wo rund 60 Menschen Vorschläge für die Dorfplatzgestaltung eingebracht haben, muss man auch die Bereitschaft mitbringen, einen Schritt von den eigenen Vorstellungen zurück zu machen. Wer überzeugt ist, dass nur die eigene Idee richtig ist, braucht mit Partizipation erst gar nicht anzufangen. Es ist nicht einfach, aber die einzige Möglichkeit, die Demokratie zu retten. In Sinich habe ich anfangs bei den Bewohnern das ganz starke, ja fatalistische Grundgefühl wahrgenommen: Die Verwaltung hat ohnehin schon entschieden; die Verwaltung weiß eh schon, dass sie die Autos vom Platz weg haben will.

Wollte sie wohl auch.
Unsere Vision ist es, dass Menschen den Platz nutzen, statt dass ausschließlich Blechkisten ihn besetzen. Doch wenn die Bedürfnisse der Menschen in die Richtung gehen, dass es eine bestimmte Zahl an Parkplätzen braucht, ist das ernst zu nehmen. 

Also gilt es Kompromisse zu schließen?
Auch das, aber die Diskussion, was mit dem öffentlichen Raum passiert, ist zu führen. Derzeit dient der Dorfplatz ausschließlich als Parkplatz, also als Ort, auf dem Menschen private Dinge abstellen. Entsprechend wenig passiert dort auch – obwohl der Platz das Potential hätte, dass viel passiert.  

Das heißt, Sie wollen den Menschen auch Perspektiven eröffnen, die vielleicht über ihre unmittelbar gefühlten Bedürfnisse hinausgehen? 
Für uns alle ist es schwierig, an das Ganze zu denken. Uns ist ja allen das Hemd näher als der Rock. Die Herausforderung ist, einmal die Brille des anderen aufzusetzen und auch durch diese auf die Realität zu schauen. 

Ist das in Sinich gelungen?
Wir sind noch nicht ganz am Ende. Bisher sind zwei Lösungen herausgekommen, die in etwa gleich viele Gegner wie Befürworter haben. So etwas bringe ich nicht in die Stadtregierung, denn damit ist niemand glücklich. Deshalb wird es im Herbst ein weiteres Treffen geben, wo man sich aufeinander zubewegen wird müssen. 

"Wer überzeugt ist, dass nur die eigene Idee richtig ist, braucht mit Partizipation erst gar nicht anzufangen."

Sie gehören einer Generation an, in der Mädchen auf gleicher Augenhöhe mit Buben aufgewachsen sind – wenn sie ihnen nicht schon voraus waren. Ist für Sie Ihr Geschlecht bei der Arbeit als Politikerin überhaupt noch ein Thema? 
Leider wird es das nun stärker. Ich bin tatsächlich aus einer Arbeitssituation gekommen, in der Geschlecht keine Rolle gespielt hat. Bei der CIPRA waren wir fast nur Frauen. Dort war man dann bei Sitzungen im Ministerium eben die Vertreterin der NGO oder die Geschäftsführerin des Vereins der Alpenstädte und es war kein Thema. Das ist nun mit der Politik anders geworden.

Inwiefern? 
Da wird mir zum Beispiel gesagt, ich könne die Verkehrsproblematik in Meran nicht verstehen, weil ich nicht Mutter bin, die ihre Kinder durch die Stadt zur Schule bringen muss. Oder auf Facebook beginnt unter einem Artikel, in dem ich Zusammenhänge zur Tempo-30-Frage erklärt habe, eine breite Diskussion über mein Aussehen. Also, statt sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen, wie viele Autos durch eine Straße fahren können, wird debattiert, ob ich hässlich oder schön bin. Da denke ich mir dann schon: Aha! Und vor allem: Welcher Politiker erlebt so etwas? 

 

Das ist wohl tatsächlich immer noch Frauen vorbehalten ... 
Wie zum Beispiel auch bei Haushaltsdebatten von der Opposition gesagt zu bekommen: Die Rohrer hat ihre Hausaufgaben gemacht, aber Visionen hat sie keine. Ist halt ein braves Schulmädchen. Die Message, die rüberkommen soll: Mama Kury sagt, wo es langgeht, und Mädchen Madeleine folgt brav.

Und solche Aussagen führen Sie auf Ihr Geschlecht statt auf Ihr Verhalten zurück? 
Eindeutig. Auch im Stadtrat, da sind wir zwei Frauen aus zwei unterschiedlichen Parteien und mit entsprechend unterschiedlichen Vorstellungen, wie sich die Stadt entwickeln soll. Sprich: Es ist klar, dass sich SVP und Grüne manchmal zusammenraufen müssen. Aber dann heißt es nicht: Die zwei Assessorinnen debattieren oder diskutieren, nein, sie „streiten“ schon wieder, oder es ist gar ein „Zickenkrieg“. Es gibt halt immer noch große Unterschiede, wie man in der Politik als Frau im Vergleich zu Männern gesehen und behandelt wird. 

Für die Landtagswahlen im Herbst werden derzeit wieder einmal mehr oder weniger verzweifelt Frauen gesucht. Gab es schon Versuche, Sie von der Gemeindepolitik abzuwerben? 
Ich habe gelesen, dass man mich nominiert hat im Rahmen der Kandidatensuche der Grünen. Doch für mich ist klar, dass ich jetzt sicher nicht von Meran weggehe. Das wäre nicht korrekt gegenüber  all jenen, mit denen wir in den vergangenen Jahren etwas aufgebaut haben. Und auch für uns in der Gruppe wäre es nicht gut, wenn der eine oder die andere wegbricht.

Sie haben nach wie vor kein Parteikartel. Ist das etwas, das Ihnen entspricht, würden Sie sich schwer tun, sich definitiv einer Partei anzuschließen? 
Ehrlich gesagt, habe ich über diese Frage noch nicht ernsthaft nachgedacht. Doch es ist kein Geheimnis, dass ich den Grünen nahe stehe. 

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Hermann Rochholz So., 27.05.2018 - 12:10

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«Unsere grossen Demokratien neigen immer noch zur Annahme, dass ein dummer Mensch ehrlicher ist als ein kluger, und unsere Politiker nutzen dieses Vorurteil aus, indem sie sich dümmer stellen, als sie von Natur aus schon sind.»
Betrand Russell, britischer Philosoph
Von dieser Internetseite:
Im Bemühen, dem Zuschauer, dem «Volk» zu gefallen, reden Parlamentarier gerne schlechter, als sie können. Es ist eine Art freiwilliges Downgrading. «Ich spreche nicht das Hochdeutsch, das ich von der Uni gewohnt bin», sagt [der Grüne Nationalrat Balthasar] Glättli. Man habe ihm schon früh gesagt, dass er damit als Besserwisser wahrgenommen werde. «Seither habe ich mich angepasst.» (Quelle: «Tagesanzeiger», 23.09.2016)
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Völlig richtig: Madeleine Rohrer beim salto-Gespräch: "Ich denke, das eigentliche Problem ist die Kompliziertheit der Welt, in der wir leben. Und dass es immer schwieriger wird, zu durchschauen, was es braucht und wie vieles miteinander in Zusammenhang steht."

Hmm: Sie ist nicht nur "kompliziert", sondern auch komplex.
Das ist aber nicht das Grundproblem ("Root Cause"): Für alle diese Dinge gäbe es Spezialisten, die diese lösen könnten. Die Problem liegt darin, dass sich die Entscheidungsträger weigern, sich mit den Problemen zu beschäftigen, um dann trotzdem "aus dem Bauch heraus" eine Entscheidung zu treffen.
Weil's ja so superbequem ist und der, der das erklärt, das ja "sowieso viel zu kompliziert erklärt".
Und jede dieser Entscheidungen löst einen Dopaminschub aus - Politiker sind fast alle danach süchtig. Das behaupte ich jetzt einfach einmal.

Dazu gibt es eine nette Anekdote: Ein Physiker trug vor dem Europäischen Parlament über Hochspannungsleitungen vor, die den „Windstrom“ verteilen sollen. Er erklärte, dass bei diesen Leitungen Grenzen der Übertragungsmenge an Strom vorhanden sei, da die Elektrizität dem „Kirchhoffschen Gesetz“ gehorcht. Darauf wäre ein Parlamentarier (EU-Parlament) aufgestanden und hätte gesagt: „Dann müssen wir dieses Gesetz eben ändern“. Die "Basics" fehlen...

So., 27.05.2018 - 12:10 Permalink