"Das wäre eine humanitäre Katastrophe"
Müssen Südtiroler Studenten auf dem Weg zur Universität Innsbruck künftig an der Grenze stehen, wird man zum Einkaufen auf der anderen Seite des Brenners einen Pass brauchen? Die Verschärfung der Gangart in der österreichischen Flüchtlingspolitik beschäftigen die Medien weiterhin. Und verschafft Südtirols Landeshauptmann ein Interview in der Wiener Tageszeitung Der Standard. „Solche Konsequenzen sind völlig inakzeptabel“, ordnet Arno Kompatscher darin die eingangs beschrieben Szenarien ein. Es kann nicht sein, dass das Prinzip Schengen angezweifelt wird, lautet seine Beschwörungsformel. Oder wie er es im Standard genauer ausführt:
„Es kann nicht sein, dass man aufgibt, was seit Jahrzehnten unser vorrangiges Ziel war: nämlich die Tiroler Landeseinheit wiederherzustellen, und zwar nicht durch das Verschieben von Grenzen, nicht durch das Errichten neuer Grenzen, nicht durch das Zurückfallen in nationalistische Konzepte, sondern über den europäischen Weg. Es ist schon dramatisch, dass der jetzt ein Stück weit von manchen infrage gestellt wird.“
Statt für Hotspots am Brenner oder in Tarvisio spricht sich Kompatscher in dem Standard-Interview vor allem für Registrierzungszentren in Nordafrika aus. „Wenn jetzt alle Staaten beginnen, ihre Außengrenzen stärker zu sichern, verschiebt sich das Problem zurück in den Süden. Dann haben wir die Situation, dass die Landroute unattraktiv wird und plötzlich wieder viele Menschen übers Meer nach Italien kommen, wie das schon vor eineinhalb Jahren der Fall war. Das wäre eine humanitäre Katastrophe“, wird er zitiert. Mit Hotspots jenseits des Mittelmeers könnte verhindert werden, dass weitere Menschen ertrinken.
Interessant auch Kompatschers Antwort auf die Frage des Standard, ob er weniger Angst vor Rechtspopopulisten habe als seine christdemokratischen Kollegen in Österreich.
„In Südtirol sind wir bisher von dem Phänomen Flüchtlingskrise nur gestreift worden. Wir haben zurzeit 900 Asylantragssteller, die wir betreuen. Das sind in etwa so viele, wie jede durchschnittliche bayerische Gemeinde alleine zu versorgen hat. Deshalb war es für uns einfacher, auf unsere humanitäre Pflicht zu verweisen. Klar ist aber auch, dass ab einer gewissen Größenordnung eine Gesellschaft überfordert sein kann. Dazu sollten wir es nicht kommen lassen. Dann laufen wir Gefahr, dass die Radikalen auf allen Seiten Oberhand gewinnen. Das möchte auch ich vermeiden.“
Brenner: Hotspot verhindern oder Betreuung ausbauen?
Südtirols Freiheitliche sprechen sich bereits jetzt strikt gegen die Einrichtung von Flüchtlingsregistrierungsstellen am Brenner, Reschenpass und zur Grenze nach Osttirol aus. „Das wäre für Südtirol schlichtweg nicht verkraftbar!“, schreibt Vizeparteiobmann Walter Frick am Mittwoch in einer Pressemitteilung. Italien werde die Flüchtlingsregistrierung dort einrichten, wo sie der Staat für notwendig hält – „und somit wird früher oder später auch Südtirol davon betroffen sein, wenn man es auch zum heutigen Zeitpunkt ausschließt“, warnt der Freiheitliche darin. Sollte es zu den in Aussicht gestellten Grenzkontrollen durch Österreich und Slowenien kommen, verschiebe sich der Flüchtlingsstrom auf der Balkanroute nach Westen und damit würden auch Flüchtlinge in Südtirol stranden. „Dann kann sich jeder ausmalen, was auf den Brenner und das Wipptal zukommt! Hunderte von Flüchtlingen jeden Tag, dann haben wir bis Wochenende mehr als tausend Menschen am Brenner!“, warnt Walter Frick.
In die entgegengesetzte Richtung geht die Reaktion der Grünen auf die jüngsten Entwicklungen. Sie fordern bereits jetzt, mit einer Verbesserung der Tagesbetreuung der Flüchtlinge am Brenner zu beginnen und allenfalls Unterkünfte vorzusehen. Die Notwendigkeit dafür sei mit dem Ende der kalten Jahreszeit und dem absehbaren erschwerten Grenzübertritt bereits jetzt klar ersichtlich. „Mehr als entbehrlich“ sind für die Grünen Landtagsabgeordneten die Äußerungen von SVP-Parlamentarier Daniel Alfreider, wonach 50% der Ankommenden aus Nordafrika Wirtschaftsflüchtlinge seien.
„Woher er diese Weisheit bezieht, ist völlig ungeklärt: Seine Aussage schürt jedoch Vorurteile gegen Flüchtlinge, die vornehmlich aus Bürgerkriegsländern wie Somalia, Eritrea oder Mali stammen und nicht die „soziale Hängematte“ Europas im Blick haben, sondern einen Ausweg aus existenzieller Bedrohung suchen.“
Auch die Grünen rechnen damit, dass Südtirol 2016 stärker gefordert werden wird als mit der bisher überschaubaren Zahl von 1000 Flüchtlingen. Doch das benachbarte Tirol beweise mit aktuell 6000 AsylwerberInnen, dass auch ganz andere Größenordnungen bewältigt werden können.