Kultur | Zäsur

Summer of 69

Im August 1969 häuften sich gleich mehrere kulturhistorische Einschnitte – ein wichtiger warf auch lange Schatten auf Südtirols Kultur. Nun ist ein Buch dazu erschienen.
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Foto: ASUS.SH
  • Es war ein heißer August, jener im Jahr 1969: Die Manson Family ermordete Anfang des Monats die Schauspielerin Sharon Tate, die noch wenige Jahre zuvor in Gröden für Roman Polanski Tanz der Vampire drehte. Nur eine Woche später fand vor über 400.000 Besucherinnen und Besuchern das Woodstock-Festival in New York statt, während The Beatles in London noch eifrig an den letzten Details zur Veröffentlichung des Albums Abbey Road am 26. August arbeiteten. Einen Tag darauf, am 27. August – ein Mittwoch, an dem zudem eine Mondfinsternis stattfand – eilte ein junger, kahlgeschorener Schriftsteller zum Lesepult der wenige Jahre zuvor eröffneten Cusanus-Akademie in Brixen. Sein Name: Norbert Conrad Kaser.
    „Von Kasers ungeheurer Leistung im August 1969, im Alter von nur 22 Jahren, habe ich von meinem Vater Bert Breit schon als Kind gehört“, erzählt Matthias Breit, Herausgeber des Bandes bei goethe ist stop zu norbert c. kasers brixner rede 1969. Bert Breit (1927–2004) war österreichischer Komponist, Journalist, Filmemacher, Schauspieler und Zeichner; er war auch bei den Jugendkulturwochen in Innsbruck 1969 dabei, wo er – nur wenige Wochen vor dem später als Brixner Rede bekannten Vortrag – Kaser kennengelernt hatte. „Noch im hohen Alter hat Bert Gedichte von Kaser vertont, er war also in der Familie immer präsent“, so Matthias Breit.
     

    An den SCHWEINE-HUND und dreckigsten Fock Norbert Conrad KASER

  • Kaser im Sommer (1970): "99% unserer Südtiroler Literaten wären am besten nie ge­boren, meinetwegen können sie noch heute ins heimatliche Gras beißen, um nicht weiteres Unheil anzurichten." Foto: Foto: HaymonVerlag

    „Alle Schützen aus unserer herrlichen und teuren Heimat Südtirol werden dich verfolgen, bis du hin bist. SAUSCHWEIN!!!!! HEILIGES RINDVIEH“, hieß es in einem Brief, der als Reaktion auf eine Meldung in der Tageszeitung Dolomiten von Meran aus über Brixen hinweg nach Bruneck geschickt wurde. Mit der Anrede: „An den SCHWEINE-HUND und dreckigsten Fock Norbert Conrad KASER.“ Solche und andere „aggressive Zuschriften, bis hin zu Morddrohungen“, tippte Kaser ab und sammelte sie gemeinsam mit Zeitungsausschnitten zur gehaltenen Rede in einem Konvolut mit dem Titel wie man ins wespennest hineinsticht, so sticht es heraus.
    Wie ist die Rede Kasers (aus heutiger Sicht) kulturpolitisch einzuordnen? Warum wurde sie erst relativ spät als literaturhistorisch relevant anerkannt? „Das angeblich so große Interesse in Nordtirol für und an Südtirol hat niemals Platz gehabt für das Fortschrittliche aus dem Süden. Alles jenseits einer Dornenkronen-Ästhetik blieb lange außen vor“, antwortet Matthias Breit und zeigt sich besonders von folgendem Zitat aus Kasers Rede beeindruckt:
     

    So sind unsere Dichter, so ist auch unser Dichterbild: verlogen, verkitscht und kraftlos. Gesänge an die Abendsonne im Bozner Talkessel, Trauer, Tränen und immer wieder Herbst.


    „Dieses Zitat mag ich sehr“, so Breit, „denn es beansprucht Gültigkeit weit über Südtirol hinaus. Abendsonne, Trauer, Tränen, Herbst – das steht ja auch für die Belanglosigkeiten, die oft zwischen zwei Buchdeckeln landen.“ Wie gut (oder wie schlecht) die Medien Dolomiten – Athesia – Rai in der Brixner Rede wegkommen, ist bekannt, wenn Kaser etwa auf direktem Weg poltert: „Unser Tagblatt könnte ein kulturelles Forum sein, ist es aber nicht. Unser Tagblatt könnte Kulturpolitik betreiben und betreibt sie auch: bei Goethe ist stop.“ So auch der Titel des sehr speziellen Kaser-Bandes.

  • Am Anfang war Kaser: Der Auftakt der neuen zeithistorischen Reihe "marginalien" bei Haymon. Matthias Breit vereint in diesem Band Kasers Rede, die unmittelbare wie spätere Rezeption und Bewertung und blickt auf das Beben zurück, das der junge Kaser damit verursachte. Mit einem Essay von Roland Innerhofer. Foto: Haymon

    Namen von lokalen Autorinnen und Autoren wie Wallpach, Dallago, Mumelter, Schrott-Pelzel, Wolf, Wenter, Paulin, Oberkofler, Trenker oder Leitgeb erfahren in Kasers Rede bekanntlich wenig Wertschätzung. Den bekannten Bergfex beschreibt Kaser als „Possenreißer“ und „Geschäftemacher“, der „den Deutschen die Vorurteile über uns um blankes Geld verkauft.“ 
    Kaser hatte bereits in probegaenge (1967/1968) erste Gedichte veröffentlicht; es sollten noch einige im Eigenverlag folgen. Spannend ist auch die Feststellung des in Meran geborenen Universitätsprofessors Roland Innerhofer im Beitrag Das Schlachtfest wird grandios werden. Zu Norbert C. Kasers Brixner Rede im zeitgenössischen Kontext, wenn er die Begegnung Kasers mit Ernst Jandl bei den bereits erwähnten Österreichischen Jugendkulturwochen in Innsbruck hervorhebt: „Kasers Brixner Rede weist Analogien zur Rede von Ernst Jandl auf, die dieser drei Jahre später, 1972, beim Steirischen Herbst in Graz hielt. Jandl bezeichnete in dieser kurzen Rede, die er »Erklärung« nannte, den Österreichischen PEN-Club, der eine konservative, traditionelle, sich am klassisch-realistischen Kanon orientierende Literatur vertrat, als eine »Schande für Österreich« und die PEN-Mitglieder als ein »Getümmel von bestenfalls Regionalgrößen«. Der Text war einer der Grundsteine für die Gründung der Grazer Autorenversammlung.
     

    Südtirol wird eine Literatur haben, wie gut daß es niemand weiß. Amen. 


    Diesen letzten Satz johlte Kaser am 27. August 1969 abschließend zu seinem Rundumschlag über Südtirols Literatur der Zukunft (und der letzten zwanzig Jahre) ins Mikro. Laut einem Audiomitschnitt der Südtiroler Hochschülerschaft folgte großer Beifall. Die Original-Rede Kasers kann über einen im Buch abgedruckten QR-Code nachgehört werden.