Umwelt | Interview

“Es ist etwas im Gange”

Gerhard Tarmann erklärt, was verschwundene Schmetterlinge in Südtirol mit einem System, das immer mehr will, zu tun haben. Und was ihn als Forscher an Mals begeistert.
Gerhard Tarmann
Foto: Joachim Winkler

Er ist ein seltenes Exemplar. Seit Gerhard Tarmann denken kann, haben ihn Schmetterlinge fasziniert. Mit zehn Jahren fing er an, Raupen zu züchten, später machte er seine Passion zum Beruf, baute am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck ein Forschungszentrum für Schmetterlinge des Alpenraumes auf. Tarmanns besonderes Interesse gilt den Widderchen, den Zygeniden – eine Nachtfalter-Art, die er weltweit beobachtet. Und besonders intensiv in Südtirol.
Schon bald merkt er: Etwas stimmt nicht. In gewissen Gebieten verschwinden die Widderchen, aus unerklärlichen Gründen. Tarmann intensiviert seine Forschungsarbeit und gelangt zu Erkenntnissen, die vielen unangenehm sein dürften: Es sind die Pestizide, die die Lebensräume der Widderchen und damit die hochsensiblen Tierchen zerstören.
Am Freitag* ist Gerhard Tarmann in Mals zu Gast. Dort wird der inzwischen 68-Jährige eine eigens für Mals angefertigte Studie präsentieren – und damit Antworten auf die Frage liefern: Hat das Insektensterben, das europaweit beobachtet wird, auch den Vinschgau erfasst?


salto.bz: Herr Tarmann, wenn Sie als Schmetterlingsforscher an Südtirol denken, was kommt Ihnen in den Sinn?

Gerhard Tarmann: In Südtirol bin ich seit inzwischen rund 50 Jahren unterwegs und beobachte, wie im gesamten Südalpenraum, Schmetterlinge. Sehr auffällig ist, dass sich die Landschaft in diesen 50 Jahren sehr stark verändert hat. Damit einhergehend hat sich natürlich auch die Biodiversität an Schmetterlingen verändert, vor allem was die Gruppe betrifft, die ich speziell bearbeite: die Widderchen.

Welche Veränderungen haben Sie festgestellt?

Im Zuge meiner langjährigen Beobachtungen ist mir aufgefallen, dass die Widderchen offensichtlich sehr empfindlich gegen die Luftkontamination sind. Überall dort, wo Intensivlandwirtschaft betrieben wird, speziell Obstbau, sind die Widderchen verschwunden. Nicht nur in unmittelbarer Nähe, sondern dort, wo gespritzt wird, auch im Umkreis von bis zu vielen hundert Metern und selbst aus sehr sehr schönen Lebensräumen, wo alles blüht, wunderschön ausschaut und wo auch noch Tagfalter fliegen – aber die Widderchen sind weg.

Wie erklären Sie sich das Verschwinden?

Lange habe ich mir es nicht erklären können. Aber inzwischen bin ich ganz fest überzeugt, dass das einfach mit diesen Kontaminationen zusammenhängt.

Mit der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln in den Obstbauanlagen?

In den vergangenen Jahren habe ich mir die Sachen gezielter angeschaut und dabei den starken Einfluss der Windverdriftung festgestellt. In allen Gebirgstälern der Welt ist es so, dass in der Nacht die kalte Luft von den Bergen wie ein Fluss talab hinausströmt. Am Tag, wenn die Sonne scheint und sich die Felsen erwärmen, zieht es die Luft wieder vom Tal hinauf. Beim Aufsteigen nimmt die Luft diese Giftstoffe aus dem Tal mit hinauf. Das ist das, was mich nun seit vielen Jahren interessiert hat und wo ich genau hingeschaut habe.

Was an den Widderchen so interessant ist: Sie zeigen Dinge an, die vor sich gehen, die man anders nicht sehen kann.

Wie schaut der ideale Lebensraum für Widderchen aus?

Das ist nicht einer, sondern viele. Es gibt Widderchen, die speziell in ganz trockenen Gebieten vorkommen. Eine typische Art für trockene Magerrasen und Steppenrasen ist zum Beispiel das Esparsetten-Widderchen. Das kommt nirgendwo anders vor. Früher hat es diese Lebensräume in ganz Südtirol gegeben, entsprechend war dieses Widderchen überall das häufigste bzw. ein sehr häufiges Tier. Inzwischen kommt diese Art nur mehr vereinzelt vor. Vielleicht gibt es noch irgendwo ein Seitental, wo auf einem Felsen ein paar sitzen, die wir einfach noch nicht gefunden haben. Aber im Wesentlichen kann man sagen, für dieses Widderchen gibt es nach 1990 keinen Nachweis mehr. Außer im Obervinschgau, im Sterzinger Becken und in der Umgebung von Bruneck. Diese Gebiete waren früher die Endpunkte der Gesamtverbreitung! Und heute sind das drei Punkte, wo es keine Kontamination gibt oder zumindest eine sehr geringe.

Die Luft wird nicht nur durch Pflanzenschutzmittel kontaminiert.

Ein bisschen ist immer auch der Verkehr dafür verantwortlich. Der aber scheint auf das Verschwinden nicht einen solchen Einfluss zu haben wie diese Gifte, die eben speziell im Obstbau eingesetzt werden.

 

In welchen Gebieten in Südtirol waren bzw. sind Sie unterwegs?

Als ich mit den genaueren Beobachtungen angefangen habe, hauptsächlich in zwei Gebieten: Vinschgau und Sterzinger Becken. Ganz früher war ich auch weiter südlich unterwegs, an den Hängen um den Kalterer See, die noch in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre eine unglaublich biodiverse Fauna hatten. Was meine, aber auch andere Schmetterlinge anbelangt, ist diese Fauna jetzt aber weitgehend tot. Diese vielen Jahre an Kontamination halten diese Tiere natürlich nicht aus. Aber im Vinschgau habe ich mir das genau angeschaut.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

In den 1990er Jahren habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Peter Huemer vom Ferdinandeum eine Untersuchung gemacht, bei der wir uns verschiedenste Wiesen im Vinschgau angeschaut haben. Ich beschäftigte mich mit den Trockenrasen. Dabei ist mir plötzlich aufgefallen, dass es dort überhaupt keine Widderchen mehr gibt. Zuerst dachte ich mir, da muss irgendeine Epidemie ausgebrochen sein – das kommt ja auch vor. Aber ein Jahr später war wieder nichts da. Und da wurde uns klar, das kann nur damit zusammenhängen, dass da von unten das Gift raufkommt. Wir sind dann immer höher gegangen und haben im Obervinschgau ein Folgeprojekt gestartet.

Mit welchen Erkenntnissen?

Bei den Untersuchungen zwischen Laas und dem Reschen/Münstertal haben wir ganz deutlich festgestellt, dass sich die Lage langsam erholt wenn man drei-, vierhundert Meter von der Talsohle hinauf geht. Meist sind das steile Hänge, die oben mit einen kleinen Knick in ein Plateau übergehen. Und dort, auf diesen Plateaus fliegen die Widderchen noch. Wo also dieser Windstrom von unten durch irgendein Hindernis abgeschnitten wird, etwa einen Bergbuckel, hinter dem sich ein Tal auftut – in diesen Tälern finden sich noch Widderchen.

Sprich, wo die durch Pestizide kontaminierte Luft nicht hingelangt, leben noch Widderchen?

Für mich gibt es einfach keine andere Erklärung, welchen Zusammenhang es sonst geben könnte.

Wenn ich die Zerstörung von Biodiversität in Kauf nehme, weil mir das Geld und diese Wirtschaft wichtiger sind, muss ich das auch ehrlich zugeben. Ich kann aber nicht sagen, es ist eh alles in Ordnung.

Warum sollte es uns scheren, wenn diese eine Gruppe an Schmetterlingen, die Widderchen, die ja sehr sensibel sind, aus gewissen Gebieten verschwinden?

Zu sagen, es ist uns wurscht, wenn die verschwinden, ist natürlich Geschmacksache. Aber was an den Widderchen so interessant ist: Sie zeigen Dinge an, die vor sich gehen, die man anders nicht sehen kann. Ich kenne keine Messung, die beweist, dass das, was ich bei den Widderchen sehe, so ist. Dazu kommt noch etwas: In Mals tut sich gerade eine einmalige Chance auf.

Wie meinen Sie das?

Im Obervinschgau beobachte ich die Tiere schon sehr lange, seit 1972. Dort sieht man die Veränderung, die ich beschrieben habe, enorm deutlich. Das Interessante und die einmalige Chance, von der ich spreche, ist, dass Mals genau an einem Punkt liegt, wo der Einfluss der Kontamination da ist – im Obervinschgau –, wo wir aber rundherum immer noch eine völlig intakte Natur vorfinden. Sprich, in Mals kann man gut beobachten, was wirklich passiert. Sollte es nach den Bemühungen von Mals tatsächlich möglich werden, dass man die Gifte zurückfährt, müsste sich die Lage ja von oben herab wieder erholen und die Widderchen an die Stellen, wo sie jetzt nicht mehr sind, zurückkehren.
Und das ist einmalig – wo hat man das schon auf der Welt? Ich bin viel herumgekommen, aber ich habe nirgends einen Platz gesehen, wo man diese einmalige Chance hat, so etwas zu beobachten. Deshalb habe ich auch die Studie in Mals mit großer Begeisterung gemacht.

Mir ist natürlich klar, dass ich mit meinen paar Zygeniden den Obstbau in Südtirol nicht wesentlich verändern werde.

Wer in Südtirol keine Probleme bei der Biodiversität sieht, den belehren Sie eines Besseren. Sind Sie mit Ihren Erkenntnissen im Laufe der Jahrzehnte irgendwo durchgedrungen?

Wir führen unsere Arbeit ja nicht völlig geheim durch und haben die Erkenntnisse auch publiziert. Aber es ist nicht ganz leicht, durchzudringen. Und das hat natürlich einen Grund.

Weil Langzeitstudien, wie Sie sie machen, fehlen, um den Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zum Beispiel und Insektensterben zu belegen?

Exakt. Das ist fast auf der ganzen Welt so, da können Sie hingegen, wo Sie wollen. In Krefeld hat man sich eher zufällig hingesetzt und über 20 Jahre lang eine Studie zum Insektenschwund gemacht – und was da rausgekommen ist, wissen Sie eh…

Die Gesamtmasse der Fluginsekten hat in Deutschland seit 1989 um mehr als 75 Prozent abgenommen.

Eine in dieser Intensität vergleichbare Studie wie in Krefeld haben wir hier nicht. Aber bei den Widderchen kann ich es praktisch gleich sagen, denn die habe ich immer genauestens untersucht. Ich weiß, wo sie 1975 waren, ich weiß, wo sie 1970 waren, ich weiß, dass ab Beginn der 1980er Jahre im mittleren Vinschgau alles verschwunden ist – und überall südlich davon auch.

 

Besteht Hoffnung, dass die Widderchen in Südtirol in ihre angestammten Lebensräume zurückkehren?

Nicht für alle. Es gibt welche, die nur in den Niederungen vorkommen und deren nördlichster Verbreitungspunkt das Bozner Becken war. Die kommen sicher nicht mehr. Es sei denn man würde über Jahrzehnte den gesamten Kontaminationszyklus stoppen.
Dazu muss man sagen, dass die ersten Orte, wo Widderchen-Arten verschwunden sind, immer die großen Täler waren. Und wenn eine Art in der Lage ist, ins Gebirge zu gehen, haben die Tiere natürlich die Chance, in die Seitentäler auszuweichen. Solche Arten gibt es einige und die sind im Prinzip auch nicht unmittelbar gefährdet. Aber auch die zeigen, dass im Tal irgendetwas im Gange ist.

Sie sind in erster Linie Forscher, der aus wissenschaftlichen Ansprüchen seine Arbeit verrichtet. Wollen Sie damit auch zu einem Umdenken in Sachen Naturschutz beitragen?

Es ist natürlich beides. Als Forscher, dem etwas an der Natur liegt und der Störungen oder Zerstörungen der Natur beobachtet, muss man natürlich froh sein, wenn man Daten liefern kann, die eine Grundlage für politische Entscheidungen sein können, damit diese Teile der Natur erhalten bleiben. Mir ist natürlich klar, dass ich mit meinen paar Zygeniden den Obstbau in Südtirol nicht wesentlich verändern werde. Das ist einfach eine Intensivindustrie, ein Riesengeschäft und viele Leute leben ja davon. Aber, was kann ich machen? Als Wissenschaftler kann ich Daten liefern. Die müssen so hieb- und stichfest sein, dass 100 Leute kommen können, um das Gegenteil zu beweisen und mir das nicht beweisen können. Deswegen muss ich mich in die Landschaft stellen und schauen, was passiert dort tatsächlich, das genauestens dokumentieren und die Sachen publizieren. Mehr kann ich nicht machen.

 In Mals tut sich gerade eine einmalige Chance auf.

Sie werden nicht weitere 50, 60 Jahre auf Widderchen-Beobachtung begeben können.

Das ist klar (lacht).

Was passiert, wenn die Koryphäe der Schmetterlingsforschung in Tirol abtritt. Gibt es Interesse in Südtirol, Ihre Arbeit fortzuführen?

Das ist nicht so leicht, es gibt europaweit insgesamt wenig Leute, die solche Forschungen machen können. In Tirol haben wir das Glück, dass es am Ferdinandeum in Innsbruck ein paar qualifizierte Leute dafür gibt. In Südtirol gibt es niemanden, der professionell angestellt ist und sich mit Schmetterlingen so intensiv beschäftigt. Für die Studie zu Mals habe ich mir große Mühe gegeben und eine akribische Dokumentation zusammengestellt, über die Lebensräume, die Lebensansprüche, die Verbreitungspunkte der Widderchen und die Stellen in Mals, wo die Tierchen vorkommen müssten, wo sie aber nicht sind. Wenn jetzt wirklich nicht mehr gespritzt werden würde, wären sie wahrscheinlich bald da. Auf der Basis meiner Dokumentation können in Zukunft die weiteren Entwicklungen beobachten werden. Das war bisher nicht möglich, weil diese Basis einfach nicht da war. Und die Arten sind nicht so schwer zu bestimmen, man kann sie in Eigenarbeit finden.

War es aus finanzieller Sicht immer einfach, Ihre Forschungen mit der nötigen Sorgfalt und Unabhängigkeit durchzuführen?

Ich hatte eigentlich nie Schwierigkeiten – und das Glück, 41 Jahre lang Leiter der naturwissenschaftlichen Abteilung am Ferdinandeum zu sein. Das hat es mir zum Teil ermöglicht, im Auftrag des Museums den Alpenraum schmetterlingsmäßig genau zu erforschen. Aber auch privat habe ich viel gemacht.

Überall dort, wo Intensivlandwirtschaft betrieben wird, speziell Obstbau, sind die Widderchen verschwunden.

Welchen Appell richten Sie an Gesellschaft und Politik?

Die Vielfalt ist in allen Gebieten unseres Lebens ein wichtiger Wert. Natürlich wünsche ich mir, dass man die Natur mit Respekt betrachtet und die Sachen zugleich nüchtern und ehrlich anschaut. Wenn ich mich für eine Anbauweise entscheide, zum Beispiel für den Intensivobstbau, muss ich wissen, dass ich damit Biodiversität zerstöre – und auch rundherum einen Kollateralschaden anrichte. Wenn ich das in Kauf nehme, weil mir das Geld und diese Wirtschaft wichtiger sind als die Biodiversität, muss ich das auch ehrlich zugeben. Ich kann aber nicht sagen, es ist eh alles in Ordnung. Weil das einfach nicht stimmt. Mich ärgert es, wenn man dann noch versucht, uninformierte Leute hinters Licht zu führen, indem man “wunderbare Wanderung durch die blühenden Apfelgärten Südtirols” anpreist – und die rennen dann mitten durch die Giftwolken.

Sie vermissen die Ehrlichkeit?

Man hat das Gefühl, es ist einfach eine gewisse Gier da, die eine gewisse Grenzenlosigkeit hat. Das ist bei uns in Nordtirol nicht anders. Und da wäre ich halt sehr, sehr froh, wenn es einmal ein langsames Umdenken geben würde. Das hat viel  mit Bildung zu tun – und ich glaube, dass man viel erreichen könnte. Die Leute an und für sich machen die Natur ja nicht zu Fleiß kaputt – aber es ist einfach so verlockend. Man hat manchmal den Eindruck, es bleibt den Leuten nichts mehr anderes übrig, weil das Ganze inzwischen eine solche Eigendynamik entwickelt hat, dass ich nur mehr mit Mehr das ganze System am Laufen halten kann. Das ist im Skizirkus so, das ist natürlich auch mit den ganzen Intensivkulturen so. Aber das geht eben nicht mehr. Solche Szenarien, wie wir sie hier in Nordtirol in gewissen Skigebieten haben, wo wirklich die abstrusesten Sachen passieren, nur damit ein paar Wahnsinnige kommen und einen Haufen Geld ausgeben – das sind einfach Dinge, die mir in den Alpen nicht gefallen. Ja, was soll ich sagen? Das war eh schon alles…