Kultur | Salto Weekend

Vom Wachsen der Kinder und Gitter

Vor über 30 Jahren hat Ludwig Thalheimer Kinder in Costa Rica fotografiert. Im vergangenen Jahr hat er Land und die damaligen Protagonisten wieder besucht. Eine Zeitreise
t1.jpg
Foto: Privat: Ludwig Thalheimer

„Das war 1986,“ sagt Ludwig Thalheimer beim Salto-Besuch in seinem Atelier, „ich war damals in Costa Rica, auch wenn ich das eigentlich nicht geplant hatte. Eigentlich wollte ich eine Foto-Reportage machen und mich mit meinem damals besten Freund Michael Nothdurfter (1961-1990) auf Kuba treffen.“
Zum Treffen kam es nicht. Thalheimer hatte Probleme mit einem Militärpolizisten, Nothdurfter kam verspätet in Havanna an und die beiden Freunde verfehlten sich um 30 Minuten. Nachdem Thalheimer Kuba innerhalb von 24 Stunden verlassen musste, nahm er das nächste Flugzeug nach Panama und reiste dann über den Landweg weiter: „Ich bin einen Monat in Costa Rica festgesessen und habe auf Nachrichten meines Freundes gewartet. Vergeblich. Irgendwann habe ich begonnen Kinder auf der Straße zu fotografieren und ihre Geschichten zu sammeln. Ich hatte die Idee zu einem Kalenderprojekt, mit jeweils einem Kinderportrait monatlich.“

Aus dem Kalender wurde nichts. Allerdings sah Thalheimers ehemaliger Geschäftspartner Peter Bay die Fotos aus Costa Rica wenige Jahre später. Die beiden fertigten eine Publikation im Eigenverlag und verschenkten das Buch für eine freiwillige Spende an Freunde. Das war 1992.

Im Herbst 2016 kam dem Fotografen beim Durchblättern des Fotobuches eine neue Idee, nämlich die von ihm einst abgelichteten Menschen auf seinen Fotos zu suchen und wiederzufinden: „Ich hatte ihre Namen und ihre Geschichten. Und ich hatte wahnsinniges Glück, dass ich alle gefunden habe.“ In insgesamt drei Recherche-Etappen brachte der Fotograf die Bildgeschichten von früher und jene der Gegenwart zusammen.

Knapp vor seiner Abreise verschickte Ludwig Thalheimer rund 100 E-Mails an Journalisten und Medien. Unter dem spärlichen Feedback fand sich auch die Antwort des italienischen Journalisten Lorenzo Pirovano, der zum Zeitpunkt der Anfrage als Praktikant bei der großen Tageszeitung La Nación arbeitete und den Fotografen an die Kollegin Mercedes Agüero vermittelte. Die investigative Journalistin hatte Zugang zu den verschiedensten Datenbanken und nahm sich Thalheimers „Herzensprojekt“ an. 

Ich hatte von allen die Namen und Geburtsdaten und Details aus ihrem früheren Leben.

Viele der Kinder hatten kaum Erinnerungen an Thalheimers frühere Aufzeichnungen und Fotos. Erst nachdem sie die alten Bilder sahen und Notizen lasen, kamen ihnen ihre alten Lebensgeschichten wieder in den Sinn. „Es war tatsächlich sehr viel Glück im Spiel“ sagt der Fotograf stolz. Seine fotografische Reiseblicke von damals und heute zeichnen sich durch einen großen Respekt, viel Geduld und ein beharrliches Interesse aus.

Einige der wiedergefundenen Erwachsenen leben mittlerweile in sehr prekären Verhältnissen, „in Stadtvierteln, die sogar die Polizei meidet.“ Einen seiner Protagonisten fand Thalheimer in einem solchen Viertel: „Dieser Erwachsene hat Drogenprobleme, lebt auf der Straße und ich fand ihn über den Kontakt einer Cousine. Als er das alte Foto sah, war er zutiefst gerührt. Er hatte noch nie ein Foto, von sich als Kind, gesehen, da sich niemand für ihn interessierte.“

Zudem hat der ausgebildete Architekt auf seinen jüngsten Fotoreisen nach Costa Rica auch städtebauliche Veränderungen festgehalten. Beim Gegenüberstellen der alten und neuen Aufnahmen werden sogar gesellschaftliche Veränderungen spürbar, etwa „die sehr starke Amerikanisierung in der Kultur, die vielen Imbissketten und der wachsende Sicherheitsapparat“, wobei man sich wie Thalheimer fragen kann: Wieviel ist empfundene Hysterie, wieviel ist wirkliche Gefahrensituation?

„Es wachsen die Gitter!“ sagt der Fotograf lakonisch und erzählt von den Vierteln der Reichen, der starken Polizeipräsenz und den mit Eisengittern eingezäunten Häusern, den abgeschotteten Bereichen, den Schranken, Elektrozäunen und weiteren Schutzmaßnahmen. Sie geben ein trauriges Bild einer noch traurigeren gesellschaftlichen Entwicklung.
„Hinter der Abschottung“ sagt er, „steht dann meist eine moderne Villa. Wer Zutritt haben möchte, muss sich anmelden, den Pass abgeben und die Telefonbestätigung der bewaffneten Wache abwarten.“

Die rund 30 Fotogeschichten will Ludwig Thalheimer demnächst als Buch herausbringen. Dazu arbeitet er gemeinsam mit der Autorin Maxi Obexer an den aus der Ich-Perspektive erzählten Begleittexten der Kinder, bzw. Erwachsenen.
Das Buch soll die Menschen und ihre Geschichten zeigen. Und das Land Costa Rica im Jahr 1986 und 2017. 
„Ich möchte das nächste Mal mit einem Koffer Bücher nach Costa Rica fahren, es ist mir ein großes Anliegen jedem meiner Protagonisten diese Dokumentation mitzubringen.“