Gesellschaft | Begabtenförderung

"Talente bereichern unsere Gesellschaft"

Siglinde Doblander von der Fachstelle für Inklusion und Gesundheitsförderung über Klischees in der Begabtenförderung, verunsicherte Eltern und Kinder die eines wollen. Gesehen und angenommen werden, wie sie sind.

 

Frau Doblander, seit fast sieben Jahren ist jetzt der Bereich der Begabungs- und Begabtenförderung im Deutschen Schulamt angesiedelt. Welche Entwicklung macht sich bemerkbar?
Ich muss sagen, die Sensibilität für das Thema steigt zunehmend. Immer mehr Eltern und Lehrer treten an uns heran. Möchten Beratungsgespräche in Anspruch nehmen, möchten mehr wissen. Das zeigt uns auch die Tagung der Eurac, die am 10. Februar statt findet. Wir haben schon über 300 Anmeldungen und viele, die auf der Warteliste stehen. Das Thema „Begabung“ wird immer sensibler aufgenommen.

Was sind denn nun Kinder mit Begabung?
Ich möchte hier die Individualität stark hervorstreichen. Kinder und Jugendliche mit besonderen Begabungen sind oft höchst individuelle Persönlichkeiten mit hoher Sensibilität und Gefühlsintensität. Sie verfügen über ein außergewöhnliches Potenzial, das in kognitiven, kreativen, motorischen, emotionalen und sozialen Bereichen angelegt sein kann und sich deutlich von der Altersnorm abhebt.

Begabte Kinder sind also nicht in allen Bereichen begabt, sondern können durchaus auch Schwächen haben?
Wer ist schon perfekt? Gerade die Unvollkommenheit macht den Menschen zum Menschen. Der Klischeevorstellung eines begabten „perfekten“ Wesens, wie auch der Vorstellung des begabten Außenseiters oder des begabten Verhaltensauffälligen möchten wir entgegenwirken.
Begabte Menschen nehmen Informationen zwar schnell auf, haben oft eine brennende Leidenschaft für ein Thema, aber das bedeutet nicht, dass diese Kinder und Jugendlichen immer die Hochleistenden in der Schule sind. Ein Teil der begabten Schülerinnen und Schüler erbringen wirklich die erwarteten Leistungen. Aber es gibt auch begabte Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwäche zum Beispiel.

Gerade die Unvollkommenheit macht den Menschen zum Menschen.Der Klischeevorstellung eines begabten „perfekten“ Wesens, wie auch der Vorstellung des begabten Außenseiters oder des begabten Verhaltensauffälligen möchten wir entgegenwirken.

Es geht also auch begabten Schülern nicht alles leicht von der Hand?
Lernen bedeutet auch für begabte SchülerInnen Einsatz, Auseinandersetzung und Arbeit. Auch begabte Schüler reflektieren ihre Lernstrategien und ihre Arbeitsorganisation. Als Ziel sehe ich es, dass sich begabte Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeit entfalten, dass sie sich im Leben beruflich und privat verwirklichen und dass sie als zufriedene, in die Gemeinschaft integrierte Menschen heranwachsen.

Lernen bedeutet auch für begabte SchülerInnen Einsatz, Auseinandersetzung und Arbeit.


Berührungsängste mit besonders begabten Kindern dürften Ihnen nichts Unbekanntes sein?
Berührungsängste gibt es durchaus und besonders dann, wenn Heterogenität auf allen Begabungsniveaus als Belastung, wenn Abweichung von der Norm als lästig empfunden wird, wenn das Besondere verunsichert.
Berührungsängste entstehen, wenn noch keine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattgefunden hat. Auch sehr begabte Kinder und Jugendliche brauchen Normalität und Akzeptanz. Jemanden festzunageln oder in eine Schublade zu stecken, hemmt Entwicklung. Der Wunsch „dazuzugehören“ ist ein ureigenes Bedürfnis des Menschen. Damit man Menschen in ihrer Würde nicht verletzt, sollen sich Kinder und Jugendliche zeigen dürfen, so wie sie sind …..auch mit ihren Stärken.

Der Wunsch „dazuzugehören“ ist ein ureigenes Bedürfnis des Menschen. Damit man Menschen in ihrer Würde nicht verletzt, sollen sich Kinder und Jugendliche zeigen dürfen, so wie sie sind …..auch mit ihren Stärken.

Begabt zu sein, kann schnell peinlich werden, wenn man in der Klasse ständig als Leuchtturm dargestellt wird?
Den Lehrpersonen kommt natürlich eine zentrale Rolle in der Schule zu. “Ausgestellt zu werden“, ist für jedes Kind, wie für jeden Erwachsenen, ein sehr unangenehmes Gefühl. Dieses Gefühl kann sich sehr kontraproduktiv auf die Entwicklung von Kinder und Jugendlichen auswirken. Wertschätzung ist wesentlich.

Wo liegen denn aber nun die Herausforderungen, sei es für die Eltern, als auch für die Schule, wenn sie begabte SchülerInnen gut begleiten wollen?
Die Herausforderung ist, Heterogenität grundsätzlich als Chance zu sehen. Wenn die Kinder und Jugendlichen aufmerksam beim Arbeiten beobachtet werden, wenn Lehrer und Eltern sensibel bleiben und sich um einen Dialog auf Augenhöhe bemühen, ist viel erreicht.

Der Kontakt, die Beziehung zu den SchülerInnen muss stets im Vordergrund bleiben?
Ohne Beziehung kann kein Lernen stattfinden. Es geht nicht darum, SchülerInnen ziellos zu beschäftigen, Leistungen mit Druck einzufordern oder hohe Fähigkeiten zu erfinden, wo sie sich nicht zeigen. Wichtig ist, Schüler in ihren Interessen zu bestärken, eine vertiefte Auseinandersetzung einzufordern, doch niemals geht es um Quantität. Und vor allem geht es, Motivation zu erhalten. Ohne Motivationsförderung bleibt die Begabtenförderung als Theorie im Raum.

Ohne Motivationsförderung bleibt die Begabtenförderung als Theorie im Raum.

Sie sprachen vorhin von Leid: worüber stolpern begabte Kinder und Jugendliche denn noch?
Begabte Kinder und Jugendliche bringen nicht immer die erwarteten Ergebnisse. In der Schule kommt es vor, dass Fachlehrpersonen den Einsatz und die Leistungen begabter Schüler sehr unterschiedlich erleben. Die betroffenen Schüler registrieren diese Diskrepanzen ja auch. Merken, dass sie eigentlich alles verstanden haben, und den Stoff doch nicht wiedergeben können. Sie brauchen eben auch Unterstützung, wie alle anderen SchülerInnen auch.

Mit welchen Ängsten sind Eltern begabter Kinder konfrontiert?
Begabte Kinder sind in ihrer Wahrnehmung sehr wach und sensibel. Diese Sensibilität wird in unserer Gesellschaft nicht immer geschätzt, sondern oft als Schwäche abgestempelt. Auch sind Eltern oft über die schnelle Entwicklung ihrer Kinder verunsichert. Wenn Dreijährige über einen guten, fast ausgefeilten Wortschatz verfügen, was dann? An Stelle von Freude schleicht sich Sorge ein, oder gar die Angst, dass das eigene Kind von der Norm abweichen könnte oder von den Gleichaltrigen als Außenseiter abgestempelt wird. Eltern versuchen sich dann oft fast zu rechtfertigen, wenn ihr Kind früh lesen will oder Zahlen zusammen zählt und noch im Kindergarten ist.

Wenn Dreijährige über einen guten, fast ausgefeilten Wortschatz verfügen, was dann? An Stelle von Freude schleicht sich Sorge ein, oder gar die Angst, dass das eigene Kind von der Norm abweichen könnte oder von den Gleichaltrigen als Außenseiter abgestempelt wird.

Kann eine IQ-Testung Sicherheit geben?
Grundsätzlich macht es keinen Sinn ein Kind aus reiner Neugierde testen zu lassen.Eine Testung ist ein Versuch der Entwicklung des Kindes in Bezug auf die Gleichaltrigen zu bestimmen. Aber es ist immer eine Momentaufnahme. Die Testung kann aber auch Entspannung, Klärung und Erleichterung bringen, wenn es Schwierigkeiten, Unsicherheiten oder eine Diskrepanz zwischen hohen Fähigkeiten und schlechten Ergebnissen gibt.

Ein anderes Klischee: Begabte sind einsam – was sagen Sie dazu?
Ich habe vor kurzem mit einem Maturanten, einem sehr begaben jungen Mann genau über diese Klischee gesprochen.
Seine treffsichere Anmerkung, „Je nach dem was wir unter Freunden verstehen. Ich habe seit dem Kindergarten fünf wirklich gute Freunde. Ist das wenig? Und zudem brauche ich einfach viel Zeit fürs Schreiben, meiner Leidenschaft. “ Dieser junge Mann unternimmt vielleicht mit Freunden nicht so viel, weil er wenig freie Zeit hat. Ist er deswegen aber einsam oder sozial inkompetent? Ich hatte nicht den Eindruck. Eines kann ich behaupten: Dieser junge Mann schien sehr reflektierte und im Sozialen kompetent.

Klischees halten sich hartnäckig.
Leider ja, aber noch einmal. Es gibt nicht den Streber, der immer nur hinter den Büchern sitzt und keine Kontakte hat oder das Mathegenie, das alles mit links handelt. Begabte Kinder und Jugendliche sind so wie alle, unterschiedlich und interessant. Ich wünsche mir, dass die Interessen und der Einsatz motivierter Schülerinnen und Schüler geschätzt und ihre Gedanken zugelassen werden, auch wenn sie nicht immer konform sind.

Sie plädieren für mehr Freude im Umgang mit begabten Kindern und Jugendlichen?
 „Talente bereichern unsere Gesellschaft“ und begabte Kinder und Jugendliche bereichern unsere Schulklassen. Weil uns begabte Kinder und Jugendliche oft als Eltern und Pädagogen fordern, können wir uns mit ihnen weiterentwickeln. Weil begabte Menschen von der Norm abweichen, lassen sie uns immer wieder erkennen: „Wir sind nicht alle gleich!“…aber wir können alle viel voneinander lernen.