Kultur | Salto Afternoon

Rattenfänger und Überbleibsel

In Zusammenarbeit mit der Filmschule ZeLIG zeigte der Filmclub gestern den Dokumentarfilm "Via Argine 310". Im Beisein von Regisseur und Kameramann.
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Foto: Bartleby Film

Es ist eine vielleicht im ersten Moment unauffällige Szene, die gegen Ende des Dokumentarfilms Via Argine 310 des Regisseurs Gianfranco Pannone gezeigt wird. Sie demonstriert eine Arbeiterin, die eine Plastiktüte mit Bonbons auf einem kleinen, wackeligen Bartisch ausschüttet. „Esst“, sagt die arbeitslose und spendable Arbeiterin bestimmt und entgegenkommend zu ihren Kollegen und Kolleginnen und fordert sie auf, sich an der bunten Bonbonmenge nach Belieben zu bedienen. Es ist ein passendes Sinnbild für die zuckersüße Scheinwelt des Kapitalismus, die sich tagtäglich bunt und freundlich aufdrängt, und am Ende diejenigen, die sie zunächst sklavenhaft ausnutzt und kurzzeitig einlullt, stillschweigend fallen-, und ausgelutscht zurücklässt. Die Protagonisten und Protagonistinnen in Argine 310 sind (fast) ausschließlich Arbeiterinnen und Arbeiter des ehemaligen Fabrikablegers Whirlpool in Neapel. 1990 hatte der amerikanische Konzern die Firma Ignis Phillipps übernommen und garantierte eine Steigerung des Wachstums und neue Investitionen. Es passierte, was häufig passiert, wenn sich multinationale Konzerne anbiedern: Sie scheitern und ziehen verstohlen weiter.
 


Gianfranco Pannones Film ist ein vielschichtiges Zeitdokument, das belegt, dass sich die Politik nicht wirklich ernsthaft um die Menschen und deren Arbeitsplätze kümmert, da politische Akteure – völlig sinnbefreit und kurzsichtig – seit Jahrzehnten vieles in Obhut multinationaler Konzerne legen. Die Rechnung für die fehlgeleitete Misswirtschaft bezahlen aber jene, die "ihre Rechnungen" nicht mehr bezahlen können, da sie von einem Tag auf den anderen, von der zerstörenden Kapitalismus-Denke verschluckt werden, wie eine Tablette, bei der der Placebo- Effekt plötzlich nicht mehr greifen will. In den 1960er/70er Jahre da hätten die Menschen „noch um die Rechte gekämpft, aber als sie sie dann hatten, konnte sie die erkämpften Rechte nicht mehr halten“, heißt es in einem der vielen Statements die der in Neapel geborene Regisseur für seinen Film eingefangen hat. Nostalgisch lässt Pannone Via Argine 310 mit einem kleinen Fest zum 1. Mai enden, bei der melancholisch auf die Freundschaft angestoßen wird, sowie auf die Bestimmung, dass alle bald wieder eine Arbeit haben würden.
Die Aufnahmen zum Film drehte Tarek Ben Abdallah, der wie Pannone für das gestrige Filmgespräch (mit Renate Mumelter) nach Bozen angereist war. Die beiden Filmschaffenden sind heute Gäste bei der ZeLIG-Filmschule. Tarek Ben Abdallah wird in den nächsten Tagen außerdem als ZeLIG-Gastprofessor im Einsatz sein.
 


Der Film ist Bühne für die Arbeiterinnen und Arbeiter aus Neapel. Sie heißen Carmen, Desiree, Franco, Gianni, Massimiliano, Anita, Domenico oder Pina, und erzählen nach dem Bescheid von Whirlpool zur Firmenschließung, von wirren Abfindungsvorstellungen, die zu Alpträumen führen, da das aufgenommene Darlehen nicht mehr abbezahlt werden kann. Jede noch so kleine Geschichte, ist ein krudes Puzzlestück, das mit den in den Versammlungsräumen gezimmerten Protestideen, zu den Gewerkschaften, auf die Straßen und in die Medien führt. Im gemeinschaftlichen Großen. Unterbrochen werden die Stimmen und Szenen mit historischen Aufnahmen von Aufmärschen aus dem Archiv, mit literarischen Zeilen von Ermanno Rea (La dismissione), oder mit klassischer Musik und mit auf- und abtauchendem Trommelwirbel aus der Komponistenfeder des Musikers Daniele Sepe (Truffe & Other Sturiellett') aus Neapel. Die inszenierten Einschübe sind aufgrund ihrer stimmigen Schönheit eine beeindruckende Lehre, vor allem für jene, die nach Jahren der marktwirtschaftlichen Völlerei mit der (kapitalen) kapitalistischen Leere nie und nimmer gerechnet hätten, auch wenn die Kulturgeschichte der Arbeit – sie ist im Film als feine Fußnote präsent – ein um das das andere Mal das Gegenteil belegt. 
 


Der Kapitalismus ist aber nicht nur schlecht. Um Himmels Willen, nein. Und auch das wird im Film angesprochen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter erzählen nämlich, wie gut es ihnen vor Jahren noch gegangen ist, als sie sich die bei Whirlpool hergestellten Haushaltsgeräte selbst zugelegten. Oder wenn sie darüber berichten, welchen besonderen Stellenwert die Firma in ihrem Alltags einnahm.
Und nun? Protestschreie, Demonstrationen, Aussichtslosigkeit, Zukunftsängste. Ist das der Lohn für jahrelange Treue? Oder wäre es von Anfang an besser gewesen, die Geschicke der Firma nicht den Händen scheinbar transparenter Spekulanten*innen zu überlassen, sondern von Beginn an (selbst die Ärmel aufkrempelnd) syndikalistisch mitzumischen? 
Der Film spricht auch darüber, wie junge Menschen das Land im Eiltempo verlassen, da sie keine Zukunft in dem gescheiterten System der Elterngeneration sehen. Und die Alten? Sie können die Jüngeren nicht halten. Lustig im tragischen Zusammenhang erscheint ein Zitat für die arbeitswilligen Süditaliener und Süditalienerinnen aus dem Mund einer Aktivistin aus dem Norden. „Die Alpini“, meint sie aufmunternd zu ihren Mitstreiterinnen, würden „um ihr Ziel zu erreichen nicht zum Gipfel blicken, sondern auf den Boden, auf ihre Füße. Und dann machen sie einen Schritt nach dem anderen.“  
 


Via Argine 310 zeigt viele Menschen, die ihre Arbeit gerne gemacht haben, weggeworfen wurden und unzufrieden zurückbleiben. Es ist der zerbrechliche Sound, die gläsernen Töne eines zerbrochenen Wasserkruges, der das lange Zeit nicht geglaubte Scheitern der arbeitenden Kämpferinnen und Kämpfer (zum Schluss des Films) untermalt. Ein Scherbenhaufen liegt da, ähnlich der Bonbons auf dem Bartisch. Er ist das wahre kapitalistische Überbleibsel. Pannones Film blickt mit Ernüchterung darauf.