Wirtschaft | Arbeitslosigkeit

Systematische Streichungen

In Südtirol arbeitslos zu sein ist ein schwereres Los als im restlichen Staatsgebiet, sagt die Gewerkschafterin Wilma Huber. Und strebt einen Rekurs gegen die Provinz an.

Sie zählt zu den positiven Entwicklungen, die auch der Landeshauptmann bei der Bilanz der bisherigen Regierungsarbeit gerne erwähnt. Immerhin hatte sich die steigende Arbeitslosigkeit rund um den Amtsantritt der Regierung Kompatscher zu einem der brennendsten wirtschaftspolitischen Themen im langjährigen Paradies der Vollbeschäftigung entwickelt. Mehr als zwei Jahre später spricht keiner mehr über das Thema, erinnert Arno Kompatscher bei seiner Tour durch Südtirols Gemeinden an die Trendwende am Arbeitsmarkt. Die wird auch im aktuellen Arbeitsmarktbericht des Landes bestätigt: Im letzten Halbjahr,  zwischen Oktober 2015 und März 2016, ging die Gesamtzahl an Arbeitslosen um 8,5 % zurück. Statt über trimestrale Arbeitslosenraten von über 5 % berichten zu müssen, kehrte man bereits im Vorjahr wieder unter die Schwelle von 3 % zurück.

Weit kritischer fällt die Bilanz auf Gewerkschaftsseite aus. „Die Arbeitsmarktpolitik des Landes zielt vor allem darauf ab, möglichst viele Menschen aus den Arbeitslosenlisten zu streichen“, klagt Wilma Huber,  Generalsekretärin des SGB/Cils für die Bezirke Eisacktal und Pustertal an. „Das oberste Ziel sind nicht die Menschen, sondern nach außen gut dazustehen.“ Allein in ihrem Bezirk, wo am 28. März mit Saisonende zwischen 3000 und 3500 Menschen arbeitslos würden, schaffe man sich „gut 800 bis 1000 vom Hals“, sagt die Gewerkschafterin. Und zwar mit rigiden und weit strengeren Regeln als auf nationaler Ebene – die laut Hubers Einschätzung spätestens mit Inkrafttreten des Jobs Act nicht einmal mehr legal sind.

Fünfmonatiges Warten

Ein harter Angriff, den die Cisl-Bezirkssekretärin mit zahlreichen Beispielen untermauert.  Gerade im Bereich Saisonarbeit gäbe es in Südtirol seit Jahren große Probleme mit der Auszahlung des Arbeitslosengeldes. Auch weil hierzulande im Gegensatz zum restlichen Staatsgebiet keine automatische Suspendierung bzw. Erneuerung von Arbeitslosengesuchen möglich sei, gäbe es zu jedem Saisonende einen enormen Rückstau beim INPS.  Immerhin reichen allein im Bezirk Pustertal zwei Mal im Jahr gleichzeitig mehrere tausend Menschen ein Arbeitslosengesuch ein. Ein allseits bekannter Fakt, dem jedoch laut Wilma Huber personalmäßig von Rom aus keineswegs Rechnung getragen wird. „Deshalb vergehen in Bruneck bis zu fünf Monate, bis die Leute überhaupt erfahren, ob ihr Antrag angenommen wurde und damit das Arbeitslosengeld ausbezahlt werden kann“, sagt die Cisl-Gewerkschafterin.  Das INPS selber verpflichte sich dagegen in einem internen Verhaltenskodex zu einer Frist von maximal 30 Tagen. Gravierende Auswirkungen kann diese Überziehung vor allem im Zusammenspiel  mit einer weiterer Frist haben: Denn laut geltendem Gesetz kann ein Arbeitslosengesuch nur innerhalb von 68 Tagen ab Beendigung des Arbeitsverhältnisses gestellt werden. „Immer wieder erfahren die Gesuchsteller dann nach fünf Monaten, dass ihr Gesuch wegen eines Formfehlers abgelehnt wurde – und haben wegen der bereits verstrichenen 68 Tage keine Chance mehr, diesen zu korrigieren und erneut ein Gesuch einzureichen.“ Ein Problem, das laut Wilma Huber auch der Landesverwaltung gut bekannt ist. „Doch man schaut dabei einfach zu statt zu reagieren und sich in Rom für eine Lösung stark zu machen.“

"Natürlich ist es eine schwere Entscheidung, gegen das Land vorzugehen, doch wir haben nun beschlossen, dass wir einfach nicht mehr länger zuschauen können und wollen.“

Doch dies ist laut der Gewerkschafter bei weitem nicht die einzige Hürde, wegen der so mancher Arbeitslose nicht in den Statistiken aufscheint. Noch viel weitreichender sind Bestimmungen, mit denen zumindest bis zum Inkrafttreten des Jobs Acts im vergangenen September weit strengere Bestimmungen für Arbeitslose in Südtirol galten als im restlichen Italien.  Dort wird einem Arbeitslosen, der nicht zu einem vereinbarten Termin am Arbeitsamt erscheint, das erste Mal ein Viertel des monatlichen Arbeitslosengeldes abgezogen. Passiert dies ein zweites Mal, wird eine ganze Monatsrate gestrichen: Erst bei einem dritten Nicht-Erscheinen wird die betreffende Person laut Wilma Huber aus den Listen gestrichen. In Südtirol erfolge die Streichung auf Basis eines Dekrets des Landeshauptmanns  dagegen bereits beim ersten Versäumnis. „Wer einmal nicht erscheint, wird für drei Monate aus der Arbeitslosenliste gestrichen“, erklärt Huber. Selbst neue Arbeitsverhältnisse, die das Anrecht auf einen weiteren Arbeitslosenantrag geben würden, werden in diesen drei Monaten nicht anerkannt.

Eine Regel, die laut der Gewerkschafterin vor allem seit dem vergangenen Jahr  massiv genutzt wurde, um Saisonarbeiter aus anderen EU-Ländern „loszuwerden“. Denn obwohl sich die betroffenen Personen mittels Leistungsvereinbarung beim Arbeitsamt dazu verpflichtet hatten, nach Ende der Saisonpause wieder bei ihrem Arbeitgeber weiterzuarbeiten, seien sie gezielt während der Pause zu Terminen beim Arbeitsamt gerufen worden. „Aber nicht, um ihnen eine Arbeit vorzuschlagen“, sagt Wilma Huber. „Es ging nur darum, sein Gesicht zu zeigen.“ Sprich: Saisonarbeiter, die die Pause für einen Heimaturlaub nutzten, mussten aus allen Teilen Europas anreisen, um am Arbeitsamt salopp gesagt zu grüßen. „Das ist Schikane“, findet die Gewerkschafterin. Das zeige sich allein daran, dass arbeitslose Saisonbeschäftigte mit italienischer Staatsbürgerschaft nicht vorgeladen wurden. Vor allem aber müsste es auch Sicht der Gewerkschaft ausreichen, die gesetzlich vorgeschriebene Verfügbarkeit für eventuelle Arbeitsangebote mittels telefonischer oder schriftlicher  Erreichbarkeit zu garantieren. „Auch hier geht es aber darum, möglichst viele Saisonarbeiter, die den Termin nicht einhalten können, von der Arbeitslosenliste zu streichen“, glaubt Huber.

Gewerkschaftlich finanzierter Rekurs

Der Kragen geplatzt ist der CISL-Sekretärin aber schließlich bei einer weiteren Maßnahme, die die Generalsekretärin des Bezirks Eisack-Rienz als klare Diskriminierung bezeichnet. Im Unterschied zum restlichen Staatsgebiet wird in Südtirol als Voraussetzung für den Bezug der Arbeitslosen nicht nur ein fester Wohnsitz oder ein Domizil verlangt. Statt dessen wurde in der Vergangenheit der sogenannte domicilio stabile eingeführt. Wer beispielsweise drei Viertel des Jahres in dem Hotel wohnt, in dem er arbeitet, wird damit automatisch vom Bezug des Arbeitslosengelds ausgeschlossen. „Da das Hotel einige Wochen schließt, wird es mittlerweile nicht mehr als stabiler Wohnsitz anerkannt“, sagt Wilma Huber. Betroffene Saisonarbeiter müssten deshalb in einem extrem bürokratischen Procedere, um Arbeitslosengeld in ihrem Herkunftsland ansuchen, das dann – soweit die dortigen Kriterien überhaupt erfüllt werden – von Italien zurückerstattet wird.

EU-Bürger, die in Südtirol um Arbeitslosengeld ansuchen oder es bezogen haben, werden dagegen strengsten Kontrollen unterzogen, erzählt die Cisl-Gewerkschafterin. „Man sagt ihnen: Wir schicken euch die Polizei, um zu kontrollieren, ob ihr an Eurem Aufenthaltsort anzutreffen seid. Und wenn ihr nicht zu Hause seid,  streichen wir Euch von den Listen.“ Die Kontrollen würden jedoch nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit betreffen. „Das Land ist so weit gegangen, dass sie sich Leute rausgepickt haben und bis zu fünf Jahre rückverfolgt haben, ob sie sich in den Saisonpausen tatsächlich ständig am angegeben Domizil aufgehalten haben“, sagt Wilma Huber. Ergeben die Kontrollen beispielsweise, dass das betreffende Hotel in der Zeit geschlossen hatte, müssten die Betroffenen nicht nur das gesamte bezogene Arbeitslosengeld dieser fünf Jahre, sondern auch noch eine Strafe in derselben Höhe zahlen. „Wir haben nun drei Pilotfälle, die über fünf Jahre Summen zwischen 11.000 und 20.000 Euro bekommen haben und nun das Doppelte zurückzahlen sollen“, erzählt Huber. Gegen diesen Bescheid will der SGB/Cisl Eisack-Rienz nun Rekurs einlegen. In einem ersten Schritt vor der Landesarbeitskommission, in deren nächster Sitzung das Thema auf der Tagesordnung stehen wird. Wilma Huber schließt aber auch einen Gang vor Gericht keineswegs aus, weshalb bereits ein Anwalt mit der Causa beauftragt wurde. „Die Spesen übernehmen für diese Fälle wir“, sagt sie. „Natürlich ist es eine schwere Entscheidung, gegen das Land vorzugehen, doch wir haben nun beschlossen, dass wir einfach nicht mehr länger zuschauen können und wollen.“

Vor allem weil die strengen Südtiroler Bestimmungen laut Einschätzung der Gewerkschaft mit Inkrafttreten des Jobs Acts ohnehin nicht mehr rechtlich gültig sind. „Zumindest bis zum Erlassen neuer Bestimmungen gilt bei uns nationales Recht, weil ein vorher gültiges Dekret des Landeshauptmanns mit dem Jobs Act außer Kraft gesetzt wurde.“ Deshalb hat die Gewerkschaft in der Landesarbeitskommission gefordert, dass alle seit September vorgenommenen Streichungen auf Arbeitslosenlisten wieder rückgängig gemacht werden. Erfolg hatte sie damit nicht, sagt Wilma Huber. „Man hat uns gesagt: Dann würden die Arbeitslosenzahlen viel zu stark nach oben gehen.“