Kultur | Salto Weekend

Unterwegs nach Sexten

Eine journalistische Reise von Andreas Pfeifer als salto.bz-Gastbeitrag. Über seine Flucht aus dem Kulturjournalismus, die Annäherung an Sexten und Claus Gatterer.
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Foto: Martin Hanni

„Aus Ihnen wird niemals ein Journalist“, sagte der Landesintendant. Wenige Stunden zuvor war im Kulturjournal des regionalen ORF mein erster Radiobeitrag auf Sendung gegangen: „Aspekte postmoderner Musikästhetik im Werk zeitgenössischer Südtiroler Komponisten“. Ich hatte mich sehr um Welthaltigkeit bemüht, weil ich gerne Journalist werden wollte. Das brüske Ende meiner Laufbahn nahm ich mit studentischem Gleichmut zur Kenntnis. Dennoch fragte ich nach: „Warum nicht?“ „Ich sage Ihnen jetzt, was Kulturjournalismus im Radio ist. Es ist die sinnliche Decke, in die sich die Hausfrau beim Rühren des Kuchenteiges hüllt“, sagte der Landesintendant. Jetzt wusste ich, warum ich niemals Journalist werden würde. „Das wird niemals mein Verständnis von Kulturberichterstattung sein“, sagte ich unter Aufbietung meiner rudimentären Ressourcen an Zivilcourage. Dann schloss ich, freundlich grüßend, die Tür zum Intendantenbüro.


Es ist etwas anders gekommen. Ich wurde Journalist. Nicht, weil mich eine missionarische Inbrunst erfasst hatte, die Welt von der unbändigen Schönheit dissonierender Musik zu überzeugen. Auch nicht, um die gesellschaftspolitische Ehrenrettung verunglimpfter Hausfrauen zu befördern. Es ging zunächst noch um Grundsätzlicheres. Südtiroler werden Journalisten, um eine Sprache zu erwerben, dämmerte mir damals. Und ich brauchte eine Sprache, um Südtirol zu entkommen. Zwar gehörte ich bereits zu jener Generation, der die Kollateralsegnungen seiner Schutzbedürftigkeit in vollem Ausmaß zuteil geworden waren. Man musste nicht mehr Journalist werden, um sich im unerschrockenen Widerstand gegen Einheitsparteipotentaten, Kirchenfürsten oder Zeitungszaren zu profilieren. Aber die Enge des goldenen Käfigs, die historischen Lasten der Tabuisierung, die Instrumentalisierungen der Opfermythen waren noch deutlich zu spüren. Spracharmut schien eine gewisse Voraussetzung dafür zu sein, sich im Minderheitenparadies Südtirol gemütlich einzurichten. Immerhin hatte ich gerade die Brixner Rede von Norbert C. Kaser nachgelesen. Dort wird ein Satz von Claus Gatterer zitiert: „Die Südtiroler hatten über sich nichts auszusagen.“


Schöne Welt, böse Leut? Ich hatte das Privileg, beides hinter mir zu lassen. Der Landesintendant hatte mir, als die Tür zu seinem Büro beinahe schon ins Schloss gefallen war, nachgerufen, mir noch eine Chance geben zu wollen. Die Chance, aus dem Wolkenkuckucksheim meiner postmodernen Theorien herabzusteigen und mich auf die Realitätsebene der Regionalberichterstattung zu begeben. Mir dämmerte, dass Journalismus nicht der solipsistischen Selbstvergewisserung zu dienen hat, sondern der Übermittlung von Nachrichten an Adressaten. Also nutzte ich die Chance und wurde Journalist, zunächst im ORF Büro Bozen. Mit den heimatlichen Autoritäten sollte ich mich wenig anlegen müssen. Zwar wunderte sich der Generalsekretär der Volkspartei, den ich zu einem der römischen Regierung abgetrotzten Autonomiefortschritt befragte, noch darüber, dass ein Südtiroler ORF-Korrespondent kein Parteimitglied war. Und für die regionalen Zeitungszaren reichte mein bescheidener Ehrgeiz, mit ihnen nichts zu tun haben zu wollen, aus, einen späteren Karriereschritt mit dem Hinweis zu vereiteln, dass ich „ein unsicherer Kantonist“ sei. Ich nahm es als Kompliment. Mir dämmerte, dass rudimentäre Ressourcen an Zivilcourage auch in der Postmoderne vonnöten waren, wenn man Journalist sein wollte. Und es reichte für einen Fluchtreflex. Der paradoxale Umstand, dass das Büro Bozen damals für die gesamte Italienberichterstattung zuständig war, ebnete mir den Weg. Statt mit den Verästelungen zeitgenössischer Musik hatte ich mich fortan mit dem Siechtum eines polnischen Kirchenfürsten und mit dem Aufstieg eines lombardischen Medienzaren zu befassen. Nach einem Beitrag im Mittagsjournal des ORF war plötzlich der Generalintendant am Telefon: „Warum reden Sie so kritisch über den Berlusconi, das ist doch ein toller Bursche?“, sagte Gerd Bacher. Ich nahm meinen Mut zusammen und antwortete: „Wenn ein Medienzar seine Macht als Regierungschef nützt, um den Reichtum seiner Sender zu vermehren und seine Korruptionsprozesse verjähren zu lassen, dann muss ihn ein Journalist kritisieren. Mit meiner politischen Überzeugung hat das nichts zu tun, hier geht es um einen Kurzschluss von Demokratie.“ Eine Weile lang war es still am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Gerd Bacher: „Weitermachen.“ Und legte auf.

 

Von Claus Gatterer wusste ich wenig. Im Sommer 1984, als er starb, machte ich Matura. Mir war nicht bekannt, dass er in Zerwürfnisse mit Parteipotentaten und Zeitungszaren geraten war, weil er auf seinem journalistischen Weg durch die Südtiroler Zeitgeschichte auch die vielfältigen Pfade ihrer Verdrängung freigelegt hatte. Weil er diese Geschichte in einen überregionalen Kontext gebettet und somit ihre Einzigartigkeit relativiert hatte. Dass sein Verständnis von demokratischer Minderheitenpolitik über geografische und patriotische Grenzen ging und weder mit Nabelschau noch mit Nibelungentreue vereinbar war. Mir war nicht bekannt, dass Gerd Bacher ihm eine große Chance gewährt hatte, als er ihn zum ORF holte, um ein sozialkritisches Fernsehmagazin zu entwickeln. Und, dass es Gerd Bacher wieder einstellte, als der Sozialkritiker für den progressiven Zeitgeist jener Jahre etwas zu sozialkritisch geworden war. Etwas später erst habe ich von Gatterers journalistischem Leitsatz erfahren: „Das Fernsehen verlöre seinen Sinn, wenn es von Mächtigen für Mächtige, aber auch wenn es von Ängstlichen für Ängstliche gemacht würde.“ Damals dämmerte mir, dass sich die standesgemäße Furchtlosigkeit von Journalisten zuweilen auch gegen die Mächtigen des Fernsehens richten muss.

 

Schöne Welt, böse Leut hatte ich gelesen. Ich las es als ein Sittenbild aus einer sehr fernen Zeit. Mir fiel ein, dass mein Großvater erzählt hatte, dass er nur deshalb ein „Dableiber“ gewesen war, weil er sich von solchen Kerlen wie Hitler und Mussolini nicht vor eine Entscheidung stellen lassen wollte. Ich erinnerte mich daran, dass mir mein Vater erzählt hatte, dass er in der italienischen Volksschule von seinen Mitschülern zweifach verprügelt wurde: Von den Italienern, weil er ein Deutscher war, von den Deutschen, weil er der Sohn eines „Dableibers“ war. Ich erkannte, wie schwierig, lange und mühevoll Gatterers Weg von einem Sextner Bauernhof herab und hinaus in die weitere Welt gewesen sein musste. Was ich nicht verstand: Dass ein Fluchtreflex nicht zwingend voraussetzt, seine Heimatverbundenheit aufzugeben.


„Kennen Sie Sexten? Das berühmte Tal in den berühmten Sextner Dolomiten?“, schreibt Claus Gatterer zu Beginn seines Buches. Nein, kannte ich nicht. In Sexten war ich noch nie gewesen. Nach Sexten wollte ich nicht.

Washington, Rom, Wien. Meinem Fluchtreflex habe ich Genüge getan. Ich war Journalist geworden, fern von Südtirol, und – wie ich hoffte – unangekränkelt von den Makeln, Meriten und Privilegien meiner Herkunft. Allmählich dämmert mir, dass ich diesen einfachen Weg ins Freie nicht nur deshalb beschreiten konnte, weil die Globalisierung zügig vorangeschritten und die angestammte und längst befriedete Heimat leicht relativierbar geworden war. Dieser Weg war auch von Südtiroler Journalisten geebnet worden, denen der Erwerb von Sprache, Autonomie und Furchtlosigkeit wesentlich schwerer fiel als mir, dem Spätgeborenen, dem Genießer des Kollateralnutzens ihres Aufbegehrens.


„Tatsachen sind niemals ausgewogen“. Dieser Satz, so wird mir gesagt, stand auf der Wand hinter Claus Gatterers Schreibtisch im ORF. Ich lese ihn als Erinnerung daran, dass die journalistische Tugend der Äquidistanz Grenzen hat. Er lehrt mich aber auch, dass der globalisierte Journalismus auf Herausforderungen trifft, die Gatterer fremd waren. Den Tatsachen droht der Verlust ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz, ihre Relativierung ist heute Teil der Handlungsanleitung für den Kurzschluss von Demokratien. Silvio Berlusconi hat unterdessen Schule gemacht, die Politik ist in das Reich der Fiktionen übersiedelt. Auf der Grundlage falscher Behauptungen wurde unlängst Großbritannien aus dem Verbund der Europäischen Union herausgebrochen – dass Zeitungen und Fernsehsender Fakten und Fake News sorgsam auseinanderdividierten, hat daran nichts geändert. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat den nachweislichen Regelbruch zum Prinzip erhoben – das stärkt seine Chancen für die Wiederwahl. Im Zeitalter der Digitalisierung kämpft der Journalismus nicht nur gegen Parteipotentaten und Medienfürsten – er kämpft gegen seine fortschreitende Bedeutungslosigkeit. Vor dem Fernsehen – so steht zu befürchten – müssen sich die Mächtigen nicht mehr fürchten.

 

Mittlerweile weiß ich, dass ein Fluchtreflex nicht für ein ganzes Journalistenleben reicht. Ich bin auf Heimaturlaub in Südtirol. Ich habe erfahren, dass der Prof. Claus Gatterer-Preis und seine Verwalter in einen veritablen Skandal verwickelt sind. Man hat mich gebeten, mich für den CLAUS-Schülerpreis zu engagieren. Also mache ich mich auf den Weg nach Sexten, zum ersten Mal. Auf der Fahrt höre ich im Radio, dass sich die Medienzaren mit dem Landeshauptmann angelegt haben. Dann ruft mich ein Pressevertreter des Bundeskanzlers an. Er will wissen, warum der ORF bei einem Auslandsauftritt des Bundeskanzlers nicht mit der Kamera dabei sei. Wenn der Bundeskanzler den Eindruck gewänne, ignoriert zu werden, würde er den Generaldirektor anrufen, wird mir gesagt. Ich gewinne den Eindruck, dass der Journalismus noch immer rudimentäre Ressourcen an Zivilcourage verlangt, selbst im Zeitalter seiner postfaktischen Bedeutungslosigkeit.

Im Brunecker Umfahrungstunnel verliere ich das Radiosignal. Als ich wieder ins Freie komme, schallen mir die Kastelruther Spatzen entgegen. Mir fällt ein, dass ich gerne etwas über die Ästhetik transhumanistischer Musik schreiben möchte. Etwas später erreiche ich Sexten.

 

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Gregor Beikircher So., 29.03.2020 - 16:03

Lieber Andreas Pfeifer.
Sie formulieren und akzentuieren auch für die heutige Zeit die Zivilcourage immer noch viel zu sachte und zu leise. Auch heutzutage braucht es sie noch in einem festen und starken Ausdruck von Sicherheit gegenüber jenen, die immer noch und zunehmend wieder mehr meinen, sie könnten allen und immer bestimmend vorsitzen und diese entscheidend lenken.
In den vielen Jahrzehnten von den späten 60-iger Jahren aufwärts, wann ich als Stundent und "kleiner" Ortsobmann der SVP-Jugend glaubte damit Karriere zu machen, aber auch meine Eigenheit und mein kritisches geistiges Potential an der Eintrittspforte der so starr festgeschriebenen Parteipolitik hätte abgeben müssen, habe ich im Einsatz für Umwelt und Natur und die weniger bemittelten Menschen in usnerer Gesellschaft an vielen Eckpunkten der Südtiroler Politik viel Zivilcourage aufbieten müssen und an vorderster Front die Stirne geboten, ohne mir von herrschenden "Machern" sagen zu lassen, dass ich da draußen zu bleiben hätte. Nur dadurch konnten wir Verschiednes noch zurecht biegen und manche Kehrwende herbeiführen. Nur wenige kritische Journalisten und noch weniger Medien haben uns mit offenen Berichterstattungen dabei unterstützt, auch noch eine andere Welt und nicht nur die des "Systems" aufzuzeigen. Dass hiermit die große politische Karriere unter den Teppich fiel und auch keine "Verdienstkreuze" angeboten wurden, ist zu verkraften.

So., 29.03.2020 - 16:03 Permalink