Time for a break
salto.bz: Herr Zaudig, Ihr Thema bei der Tagung zum 15-jährigen Jubiläum des Therapiezentrums Bad Bachgart in Brixen war der Horror potentialitatis – der Burnout des optimierten Menschen. Was genau ist denn das?
Michael Zaudig: Der Begriff Horror potentialitatis stammt nicht von mir, der wurde bereits in den späten Siebziger Jahren in der Sozialphilosophie geprägt, als Angst vor der Überfülle. Doch er passt heute mehr denn je für ein Thema, das uns alle gewaltig im Griff hat. Egal, ob wir ins Internet gehen, einkaufen oder unser E-Mail-Konto öffnen: Wir werden mit einer Überfülle konfrontiert, es ist alles zu viel und zu schnell. Das bringt sehr viel Irritation und daran scheitern auch immer mehr Menschen. Vor allem, weil das nicht der einzige Mega-Trend ist, der uns unter Stress setzt.
Was gibt es noch?
Wir haben auch einen Überfluss an Informationen und an Wissen. Das führt gleichzeitig zu einer Verarmung. Denn wir sammeln zwar enorm viel Wissen, doch im Gegensatz zu früher bleibt da kein Raum mehr, darüber nachzudenken. Das heißt, wir kumulieren nur noch und haben keine Erkenntnis mehr. Die Folgen davon hat unter anderen der Philosoph Byung-Chul Han unter dem Stichwort Müdigkeitsgesellschaft beschrieben. Und dann gibt es natürlich noch diesen Selbstoptimierungsdruck.
Sie meinen: Wir müssen uns beruflich realisieren, wir müssen privat glücklich sein, wir müssen fit sein und so weiter?
Ja genau. Und das kann ich natürlich nicht alles erfüllen. Das Problem ist aber, dass wir vielfach nicht mehr imstande sind zu fühlen, was wir eigentlich erfüllen wollen. Statt dessen lassen wir uns leiten, von dem was die Medien vorgeben, was Trend ist. Dann mache ich halt Yoga oder gehe ins Fitnessstudio, aber nicht, weil ich das wirklich will, sondern weil man es eben tut heutzutage. Das heißt, wir galoppieren da so vor uns hin, haben immer weniger eine eigene Meinung und verlieren den Zugang zu uns selber. In der Fülle liegt zugleich die Leere.
Insgesamt eine sehr deprimierende Diagnose ...
Nein, nicht deprimierend. Doch es ist wichtig, dass wir wahrnehmen, was mit uns passiert. Dass wir unsere E-Mails im Bus und vor dem Schlafengehen checken, dass die Trennung zwischen Privat und Beruf immer mehr verschwindet und der Job nie ein Ende hat. Früher hat man sich ausgebeutet gefühlt, wenn man über die Arbeitszeit hinaus arbeiten müsste. Heute machen wir das freiwillig. Aber irgendwann kommt die Quittung, denn es gibt ja nicht nur ein Rädchen das sich da ständig dreht, es sind zehn oder mehr, und manche nehmen wir wahr und von anderen wissen wir nicht einmal was.
Warum machen wir da mit? Wer bringt uns dazu, da mit zu galoppieren?
Das sind Sie (lacht). Das sind die Medien, das ist der Optimierungsgeist, der aus der Wirtschaft des 19. Jahrhundert kommt. Immer schneller, immer mehr, immer effizienter. Nur dass sich das Rädchen mittlerweile auch bis in die Freizeit hineindreht. Ich habe bei meinem Vortrag in Brixen eine Folie hergezeigt – mit der Frage: Wer kennt heute noch das Wort „Müßiggang“. Schweigen in einem Saal mit 300 Leuten. Ich kann heute nicht mehr meine Beine auf den Tisch legen oder mich irgendwo auf eine Wiese legen und sagen: So, jetzt mache ich einmal nichts. Das geht nicht. Diese Freiheit zu sagen, ich habe keine Lust, die ist uns abhanden gekommen. Müßiggang ist inzwischen anachronistisch.
Stattdessen leisten wir uns ein Burnout-Syndrom?
Ja, obwohl der Burn-out inzwischen auch schon wieder out ist. Vor fünf Jahren war das noch ein Riesen-Hype, seit rund zwei Jahren dagegen spricht kaum mehr jemand über das Phänomen Burnout. Da gähnt nur mehr jeder, kennen wir schon, brauchen wir nicht.
Und warum?
Das ist eine interessante Frage. Warum ist der Burnout out, obwohl er weiterhin da ist? Da wirken auch wieder diese Mechanismen. Vor allem denke ich, wollen wir nichts Negatives hören, es soll ja immer alles positiv und nett sein. Und Burnout ist klar negativ besetzt. Deshalb ist man nun wieder beim Begriff Stress angelangt, der ist neutraler. Heute spricht man eben wieder von Stresskrankheiten, obwohl auch das Burnout-Syndrom nicht anderes ist als ein Stressprozess, der irgendwann zu einer Störung führt.
Der Bayer Michael Zaudig ist Psychiater, Psychosomatiker und Verhaltenstherapeut. Er leitete von 1992 bis 2016 die Psychosomatische Klinik Windach und hat einen Lehrauftrag für Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war einer der Referenten auf einer Fachtagung, die das Therapiezentrum Bad Bachgart zu seinem 15-jährigen Jubiläum am Donnerstag und Freitag dieser Woche organisierte.
Schlägt sich die Diagnose, die Sie unserer Gesellschaft stellen, auch in Patientenakten nieder?
Wir haben in den letzten 20 Jahren eine massive Steigerung bei Anpassungsstörungen. Also, die Gesamtmenge an psychischen Krankheiten ist gleich geblieben, doch innerhalb dieser Krankheiten hat es eine Verschiebung hin zu solchen Leiden gegeben. Depressive Anpassungsstörungen sind heute in deutschen Psychotherapiepraxen die am häufigsten gestellte Diagnose. Als ich vor 30 Jahren noch in der Psychiatrie arbeitete, gab es diese Diagnose kaum noch. Damals haben wir vor allem schwere, endogene Depressionen behandelt. Doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Zahl an Anpassungsstörungen um 180 % zugenommen.
Was passiert bei einer Anpassungsstörung?
Es kommt da ganz einfach zu einer Anpassungsreaktion auf verschiedene psychosoziale Stressoren, wie wir sie nun auch beschrieben haben. Das kann in Form einer Depression erfolgen, das können Angstzustände sein oder körperliche Symptome. In jedem Fall hat es klar mit Stress zu tun. Wenn ich dem Stress nichts entgegensetzen kann, entwickle ich Symptome.
Was würden Sie unserer Gesellschaft also verschreiben, um davon wieder zu heilen?
Vor allem mehr Prävention. Wir müssen stärker bewusst machen, was diese Stressoren sind, wir müssen den Menschen vor Augen fahren, welch gigantischen Veränderungen sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgesetzt waren. Denn wir merken ja nicht einmal, wie sehr sich das Tempo gesteigert hat, wie sich die Arbeitszeit allein durch die Ablösung des Briefverkehrs durch Mails beschleunigt hat. Es gibt Daten, dass Studierende heute vier Mal so viel leisten müssen wie vor 20 Jahren. Auf so etwas reagiert der Mensch, und der kluge Mensch sagt: Na, dann nimm ich halt noch etwas, damit meine Leistung gesteigert wird. Und dann steigt der Verbrauch von Anti-Depressiva um 80 %, weil sie nun auch von nicht-depressiven Menschen zur Leistungssteigerung entdeckt wurden; genauso übrigens wie Ritalin, auf das auch jede Menge Menschen ohne ADHS zurückgreifen.
Wie können wir also wieder gesunden?
Indem wir wieder den Weg zu uns selber finden. Indem wir uns verdeutlichen, welchen Stressfaktoren wir ausgesetzt sind, und lernen anders mit all diesen Anforderungen umzugehen. Indem wir uns der Chefin oder dem Chef auch mal trauen sagen: Ich bin kein Roboter, ich brauche mal eine Pause.
Oder indem wir einfach auf die vielzitierte Insel aussteigen?
Nein, zumindest wenn das nicht mein erklärter Lebenstraum ist. Wenn es dagegen eine Flucht ist, ist es Vermeidung, und die ist schlecht. Einer der stärksten Faktoren der Psychotherapie ist die Selbstwirksamkeit: Der Mensch muss erleben, dass er mit dem, was er tut, etwas erreicht. Das heißt, es wird uns nichts anderes überbleiben, also zu lernen mit dem Veränderungen unserer Umwelt so umzugehen, dass es uns damit gut geht.