Politik | EU-Verteidigung

Das freie Europa gemeinsam verteidigen

Russlands Überfall auf die Ukraine und die Neuorientierung der USA haben es definitiv gezeigt:an einer eigenständigen Sicherheitsarchitektur der EU führt kein Weg vorbei.
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Die Welt aus der Sicht von Yuri
Foto: Yuri
  • Zu viel Abhängigkeit von den USA

    Ein Jahr geht zu Ende so konfliktreich wie selten. 21 laufende gewaltsame Konflikte mit jeweils mehr als 1000 Opfern zählte man in 2025. Wir erleben einen Rückfall in Zeiten, wo das Recht des Stärkeren regiert. Völkerrecht ist zum Fetzen Papier geworden. Militärisch stärkere Mächte überfallen ihre Nachbarn, massakrieren zehntausende wehrlose Menschen in besetzten Gebieten, bekämpfen Aufständische mit horrenden Opfern unter der Zivilbevölkerung, bombardieren vorgeblich militärische Ziele als „Präventivschlag“. Erfolgversprechend scheint das Prinzip des Alleingangs: wer sich militärisch oder wirtschaftlich stärker fühlt, schickt Drohnen, entert Tankschiffe oder marschiert durch. Alle anderen – und dazu gehört auch das freie Europa – laufen Gefahr, sich der Willkür und Übermacht fügen zu müssen.

    In dieser globalen Ellbogenpolitik ist die EU derzeit schlecht aufgestellt, weil sie demokratisch, liberal und rechtsstaatlich verfasst und als quasi-föderaler Staatenbund organisiert ist. Das heißt allerdings nicht, dass sie zu diesen Werten in allen Konflikten steht, wie die Beispiele Gazakrieg und Palästina sowie Türkei und Kurdengebiete laufend demonstrieren. Obwohl die Rüstungsausgaben der EU-Länder bzw. der europäischen NATO-Länder zusammengenommen beträchtlich sind, ist Europa militärisch nicht in der Lage, das zukünftige EU-Mitglied Ukraine alleine zu verteidigen. Denn trotz des eben beschlossenen 90-Milliarden-Kredits an Kiew können die EU und das Vereinigte Königreich allein nicht für die Sicherheit der Ukraine sorgen. 

    Seit Gründung der NATO vor 76 Jahren haben die USA in diesem Verbund die Führungsrolle inne, haben den atomaren Schutzschirm garantiert und militärische Technologie und Truppen gestellt. Im Bewusstsein ihrer eigenen Schwächen haben wir Europäer diese Abhängigkeit von den USA in der Außen- und Verteidigungspolitik in Kauf genommen und die Verteidigungsfähigkeit vernachlässigt. 

    Einstimmigkeitsprinzip nicht mehr haltbar

    Es ist verständlich, dass die USA nicht auf Dauer die Hauptlast der Verteidigung Europas tragen wollen. Und es war auch nicht erst Trump, der immer wieder auf die Erhöhung der Anstrengungen der Europäer gedrängt hat. Heute nötigt uns die Trump-Administration 2.0 ganz kompromisslos dazu, unterfüttert mit Feindseligkeit gegenüber der EU als solcher. Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, muss die EU militärisch eigenständiger werden. Die große Frage stellt sich, wie Europa seine Rolle in der Welt behalten kann, die auf Rechtsstaat, liberaler Demokratie, Multilateralismus, Handel und multilateraler Kooperation, also „soft power“ gründet. Zudem stellt sich intern die Frage, wie die EU-Staaten höhere Verteidigungsausgaben, die Energiewende und einen leistungsfähigen Sozialstaat finanziell unter einen Hut bringen können.

    Trotz dieser Zwangslage will die EU im Rahmen des EU-Programm Readiness 2030 an die 800 Mrd. Euro mobilisieren, um die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken und die Fragmentierung der militärischen Systeme zu reduzieren. Eine einfache Lösung dafür gibt es nicht. Selbst bei einer nahezu gemeinsamen militärischen Beschaffung oder gar bei Schaffung einer EU-Armee bliebe die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik dem Vetorecht eines einzelnen Mitgliedstaats ausgeliefert. Zudem bleibt die Frage offen: was würde geschehen, wenn für die Verteidigung und Außenpolitik das heutige Prinzip der qualifizierten Mehrheit eingeführt wird und in Deutschland die AfD oder in Frankreich Le Pen an die Macht kommt?

    Jenseits von 2026 führt somit auch kein Weg an der Frage des Entscheidungsmodus der EU vorbei. Schon mit 27 Mitgliedstaaten ist das außenpolitische Handeln der EU schwerfällig, mit 30 oder mehr droht die Blockade zum Dauerzustand zu werden. Nötig wäre der politische Mut, mit den Willigen voranzugehen, etwa bei der Frage des Übergangs zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung. Das Scheitern der europäischen Verfassung von 2004 wirkt bis heute nach, doch die Lage hat sich verändert: der Zeitdruck ist größer, die Spielräume kleiner.

    Eine europäische Verteidigungsunion jetzt!

    Die neue amerikanische Sicherheitsstrategie NSS hat von Neuem verdeutlicht: die USA verstehen sich nicht mehr als Sicherheitsgaranten des freien Europa, betrachten die EU eher als lästigen Rivalen, verfolgen ihre isolationistischen Ziele. Umso mehr muss in die Verteidigungsunion investiert werden, denn immer noch fließt die Mehrheit der europäischen Rüstungsausgaben an US-Rüstungsfirmen, werden jeweils nationale Rüstungsfirmen bevorzugt, statt EU-weit bei der Beschaffung zu kooperieren. Das EU-Programm Readiness 2030 geht in diese Richtung, kann die Verzettelung der Rüstungsausgaben abbauen. Aber wohl allen Beteiligten ist bewusst: das ist nur eine Notlösung, die die strukturellen Schwächen der EU nur kaschiert. 

    In der Frage der Sicherheit des freien Europa geht es längst um mehr als nur um Militärhilfen an die Ukraine und die Kooperation bei der Beschaffung. Es geht um die langfristige europäische Handlungsfähigkeit. Um diese zu erhalten, muss die bestehende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU endlich zur Verteidigungsunion weiterentwickelt werden. Auf eine „Verteidigungsgemeinschaft“ hatten sich schon die Gründungsstaaten der damaligen EWG 1952 geeinigt, richtig umgesetzt worden ist sie nie. Jetzt muss Europa seine Kräfte wieder bündeln. Eine echte europäische Verteidigungsunion, die diesen Namen auch verdient, ist ein Gebot der ökonomischen und sicherheitspolitischen Vernunft. Sie würde den Europäern in unsicheren Zeiten wieder Hoffnung geben, würde die zu allem bereiten und hochgerüsteten Diktaturen vor weiteren Angriffen abschrecken. Sie wäre der sofort notwendige Schritt, um die eigene Verteidigungs- und Handlungsbereitschaft unter Beweis zu stellen. Sie würde langfristig die klare Botschaft senden, dass Europa für die eigene Sicherheit selbst sorgen kann. Andernfalls droht Europa die permanente Erpressbarkeit seitens autoritärer Mächte, die der europäischen Idee von Demokratie und Rechtsstaat feindselig gegenüberstehen, gleich ob in Moskau, Washington oder Peking.