Meditation
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Politik | Fritto misto

Empörungsmüd

Das sagt man, tut man, darf man nicht! Wieso das Aufschreien ausgedient hat.
  • Gründe, sich aufzuregen, gäbe es ja genug. Den papa zum Beispiel, und seinen unmöglichen frociaggine-Sager. Frittier den ordentlich!, riet mir ein Bekannter, aber ich winkte ab. Wo ich mich früher mit Freuden darauf gestürzt hätte, hatte ich heute nur ein müdes Schulterzucken übrig: Armer alter Mann. Wo der sich wohl rumtreibt, dass er so ein Vokabular draufhat? Und überhaupt, andere der Schwuchtelei zu bezichtigen, aber selbst in Kleidern rumzurennen, ist schon stark. Aber deshalb herumpoltern? Ne. Ähnlich ging es mir mit den FdI-Flegeln im Parlament, die Senatorin Unterberger rieten, italienisch zu lernen und ihren Lega-Kollegen, die im Senat eine Kneipenschlägerei austragen wollten. Peinlich? Und wie. Aber deswegen schimpfen? Ach was, disqualifizieren sich von selbst. Als dann auch noch der bärtige Pubertär-Provokateur mit einer geradezu bemitleidenswert einfallslosen „Grüße aus Sylt“-Aktion aufwarten wollte, und mir nichts als ein Gähnen entlockte, begann ich, mir leichte Sorgen zu machen: Wo war mein Wut-Mojo hin?  War ich krank? Frühjahrsmüde? Oder sind der Fähigkeit, sich über Sachverhalte zu empören, einfach natürliche, unserer Gesundheit zuträgliche Grenzen gesetzt?    

    „Ihr Kreislauf und auch Ihr Umfeld werden es Ihnen danken.“ 

    Ich befürchte letzteres, mein Wut-Fassl, es geht einfach zur Neige. Vermutlich, weil so viel vom Rage-Vorrat letzthin für den immer noch nicht einwandfrei funktionierenden Behindertentransport (und wenn er funktionieren soll, dann muss er einwandfrei funktionieren) aufgebraucht wurde, dass für anderes fast nichts mehr übrig ist. Vermutlich aber auch, weil Dauererregung und Dauerempörung einfach anstrengend ist. Mehr für den sich Aufregenden, als für den Aufreger, der meist dankbar ist für die Bühne, die ihm da geboten wird – und süchtig danach wird. Sonst nicht mit Fähigkeiten ausgestattet, die ihm zur Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verhelfen würden, hält er halt immer und immer wieder sein Stöckchen hoch: Irgendwer wird schon wie ein dressiertes Karnickel drüber springen. Aber wer stellt da wen zur Schau? Ratsamer ist es, auch wenn es schwerfällt, mal gelassen zuzuschauen, wie lange der da stehen will, mit dem dummen Stöckchen in der Hand. Was macht er, wenn niemand springt? Werfen und selbst apportieren?

    Es ist in den letzten Jahren in Mode gekommen, über alles und jeden (vorzugsweise online: geht schnell und hat Reichweite) aufzuschreien, der etwas falsch macht. Das Falsche sagt, schreibt oder tut, bewusst oder nicht, wobei das Falsche meist das vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund politisch nicht ganz Korrekte ist; meist sind es gar nicht die großen moralischen Verfehlungen, sondern ein unpassendes Wort, eine Bockerei, eine kalkulierte Provokation. Gleich stehen tutte le furie bereit, auf die man sich aufschwingen und den Ignoranten/Missetäter verbal niederprügeln möchte, weil man selbst ja auf der „richtigen“ Seite steht und das laufend demonstrieren will. Das Problem nur: Diese Empörung, sie nutzt sich ab, sie wirkt besserwisserisch, sie ruft selten Einsicht, sondern viel öfter Trotz und „jetzt erst recht“ hervor. Und alle Moden gehen irgendwann vorbei: die des öffentlichen Zurechtweisens scheint im Abstieg begriffen, dem Donnergott sei dank. Sparen wir unsere Wut (und sie ist kostbar, diese Wut, weil sie uns beflügelt und uns zum Handeln bringt) doch für wirklich empörenswerte Begebenheiten auf, damit sie uns dann nicht fehlt, bloß weil wir sie an Lappalien verschwendet haben. Für letztere stehen immer noch Nachsicht (für unabsichtliche Vergehen, verflixt, wir sind doch alle aus Fleisch und Blut), Übersehen (die Höchststrafe für zwanghafte Selbstdarsteller) oder kalte Verachtung übrig, wenn’s wirklich nötig ist, zu reagieren. Mehr Om als Mimimi, mehr Durchatmen als Schnappatmen: Ihr Kreislauf und auch Ihr Umfeld werden es Ihnen danken. Mal schauen, wie lange ich durchhalte.    

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Gasteiger josef Fr., 31.05.2024 - 18:41

Du hast recht, aber es ist für mich schwer gelassen zu bleiben, und wo ist meine persönliche schmerzgrenze, oder politisch modern gesagt, die rote linie, ab welcher ich mich verleitet sehe, nachts leserbriefe zu formulieren um sie am morgen zu schreiben aber nicht zu verschicken oder gar nicht zu schreiben. Sind das die übungen zum erreichen der gewünschten gelassenheit?

Fr., 31.05.2024 - 18:41 Permalink
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K V Fr., 31.05.2024 - 19:03

Die Empörung kann man sich und anderen gerne sparen. Genau hinsehen, achtsam bleiben und sich gegebenenfalls zu Wort melden, bleibt jedoch wichtig, besonders in diesen Zeiten.
Hoffe also auf weitere charmante Wutschriften von Fr. Kienzl. Schreiben soll ja auch für die seelische Hygiene helfen.

Fr., 31.05.2024 - 19:03 Permalink
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Salto User
Oliver Hopfgartner Fr., 31.05.2024 - 19:56

Ein sehr intelligenter Beitrag. JWA, Sellner und Co instrumentalisieren den Shitstorm, um die eigene Reichweite zu erhöhen. Der Shitstorm lässt die Zwerge gigantische Schatten werfen.

Sehr oft wäre besonnenes Kopfschütteln sinnvoller als das Heraufbeschwören eines "Kampfes gegen XY".

Leider fördern die Mechanismen der Medienfinanzierung den Shitstorm, denn differenzierte Betrachtung bringt keine Klicks.

Fr., 31.05.2024 - 19:56 Permalink
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Stefan S Fr., 31.05.2024 - 20:57

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

"denn differenzierte Betrachtung"
Die Differenzierung findet fast ausschließlich auf emotionaler Ebene statt. Fakten und fach-/sachliche Differenzierung ist in Zeiten von Klicks, Bytes und Algorithmen total out. Siehe Putin und Trump. Oder die Ausgeburt Brexit, der britische Finanzadel darf seine Steueroasen behalten und die Politik betreibt weiterhin den Ausverkauf des Staats (Volk)
https://www.morgenpost.de/vermischtes/article242007120/Ekel-Problem-bei…

Fr., 31.05.2024 - 20:57 Permalink
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Josef Fulterer Sa., 01.06.2024 - 06:35

Wie Hopfgartner richtig betont, suhlen sich JWA, Trump usw. recht gern "in der Empörung der öffentlichen Meinung."
Das passende Gegenmittel gegen diese peinlichen Dreck-Schwimmer, ist die Nichtbeachtung!

Sa., 01.06.2024 - 06:35 Permalink
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Manfred Klotz Sa., 01.06.2024 - 07:43

Antwort auf von Josef Fulterer

Das stimmt leider nicht, denn die Masse, die diese Minderbemittelten doch erreichen, reicht aus, um selbst nicht in der Versenkung zu verschwinden und sich weiterhin von der Öffentlichkeit durchfüttern zu lassen.
Nichtbeachtung als Verteidigung funktionierte als es noch nur konventionelle Medien gab. In Zeiten von Internet und Socials, nicht mehr.

Sa., 01.06.2024 - 07:43 Permalink
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Salto User
Oliver Hopfgartner So., 02.06.2024 - 14:34

Antwort auf von Manfred Klotz

Es stimmt schon. Womit du recht hast, ist die Feststellung, dass JWA und seine Fans nicht verschwinden werden, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit mehr gibt.

Es geht um die Verhältnismäßigkeit: wenn JWA nach einer schwachen Rede vor der FPÖ gefühlt zwei Wochen lang täglich in den meisten Medien prominent kritisiert wird, ist das unverhältnismäßig. Ich habe nie gesagt, dass man selbst nicht klar Stellung beziehen solle.

Außerdem muss man sagen: auch Leute wie JWA und seine Unterstützer haben in einer Demokratie ein Recht auf Repräsentation - auch wenn das manchem "Demokraten" nicht gefällt, aber das ist halt so in einer Demokratie.

So., 02.06.2024 - 14:34 Permalink
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Manfred Klotz Mo., 03.06.2024 - 07:58

Antwort auf von Oliver Hopfgartner

Es stimmt nicht. In der heutigen Zeit kannst du niemand mehr medial totschweigen. Da das nicht möglich ist, muss man falschen oder unangemessenen Äußerungen entschieden entgegentreten. Aussitzen hätte nur zur Folge, dass sich diese Aussagen festsetzen und erhärten. "Qui tacet..." hat schon seinen Sinn und "ceterum censeo" genauso.
Es geht nicht um das Recht auf Vertretung, es geht darum was der Vertreter von sich gibt. Demokratie und Meinungsfreiheit haben Grenzen. Demokratie und Meinungsfreiheit bedeuten nicht, dass man sich abseits aller Regeln verhalten oder äußern darf. Das wäre Anarchie.

Mo., 03.06.2024 - 07:58 Permalink
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Oliver Hopfgartner Mo., 03.06.2024 - 21:15

Antwort auf von Manfred Klotz

Die Berlusconis und Trumps dieser Welt sind genau dadurch groß geworden. Haider hat es auch verstanden. "Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist" funktioniert leider. Negative PR bleibt PR und im politischen Wettbewerb ist Bekanntheit wichtiger als Beliebtheit.

Außerdem habe ich im Beitrag auf den du hier gerade geantwortet hast ganz klar geschrieben, dass es völlig ok und auch sinnvoll ist, klare Kante zu zeigen, dass es aber wichtig ist, dabei ein vernünftiges Maß zu finden, eben um dem Gegenüber nicht unnötig mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Mo., 03.06.2024 - 21:15 Permalink
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Martin Daniel Sa., 01.06.2024 - 09:14

Treffende Analyse, sprachlich vorzüglich zum Ausdruck gebracht!
Es ist ja ein physikalisches Gesetz, dass eine Inflationierung (Feingeister würden es Hypertrophie nennen) einen Bedeutungsverlust des Gegenstands mit sich bringt. Nachdem das auch für menschliche Gefühle wie Empörung oder Wut zu gelten scheint, hat die woke Welle der Demokratie, in guter Absicht, wenngleich mit teils talibanischen Methoden einen Bärendienst erwiesen. Da wurden wohlwollende Menschen mit linken und moderaten politischen Ansichten an den Pranger gestellt, weil sie partout nicht in allen Punkten gewissen Überzeugungen und Verhaltensvorschriften folgen wollten (oder konnten). Die liberale Reichshälfte wurde in einen moralischen Kleinkrieg verwickelt und ist jetzt angesichts aufkeimender autokratischer Züge vielfach zu abgekämpft, um sich gegen die Einschränkung der Meinungsvielfalt und zunehmender Regierungspropaganda, Versuche der Einhegung von Justiz und Transparenz, Systemreformen zur Stärkung der Führerposition (Minister:innenpräsident:in) auf Kosten von Parlament (weniger Demokratie) und Staatspräsident (weniger Gegengewichte), der Etablierung eines Familienbilds aus dem Biedermeier (passt eh, war ja ein Polizeistaat), serienmäßige Strafnachlässe für Steuer- und BausünderPAUSEinnen, der Umdeutung der Geschichte und Verharmlosung von Faschismus und Co. - SCHNAUF! - zu stemmen und mit Entschlossenheit für den Erhalt unserer pluralistischen Demokratie zu kämpfen.

Sa., 01.06.2024 - 09:14 Permalink
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Herta Abram Sa., 01.06.2024 - 10:09

Antwort auf von Martin Daniel

Die Frage, die sich bei mir dazu gleichzeitig aufdrängt:
"Wie wirkt sich eurer Meinung ein Erstarken von rechtspopulistischen/extremen Parteien und rückwärtsgewandtes, MenschenrechtverletzendesGedankengut aus, bzw. auf die EU (- Entscheidungen) aus?"
Ich hoffe, dass die Leute begreifen: Die Europawahl ist nicht einfach eine schöne Gelegenheit für eine Protestwahl.
Wahlentscheidungen haben Konsequenzen, auch wenn viele das vielleicht nicht glauben. Doch wer da oben in Europa sitzt, entscheidet über unseren Alltag.
Deshalb kann ich nur sagen: Geht zur Wahl. Die Rechtspopulist:innen tun es in jedem Fall.

Sa., 01.06.2024 - 10:09 Permalink
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nobody Sa., 01.06.2024 - 22:25

So isses. Die Wut muss für die wirklich wichtigen Dinge aufgespart werden. Das Meiste, auch schön brav von vielen Medien verbreitet, sind nur Blendgranaten.

Sa., 01.06.2024 - 22:25 Permalink