Mehr Mut zur Unordnung
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Endlich ist es soweit, der Urlaub ist da. Getrieben von Fernweh und geprägt von vergangener Erfahrung fällt die Wahl des Urlaubsorts nicht schwer, es soll wieder Südtirol sein, das von Bergen gesäumte Land. Über den Reschenpass kommend erstreckt sich die Anfahrt über die von noch Grasland geprägte Landschaft der Malser Haide. Je wärmer es wird und je südlicher man gelangt, desto mehr werden die Talböden des Landes durch die für sie typische Kulturlandschaft geprägt. Baum an Baum (bzw. Strauch an Strauch) und Reihe an Reihe erstrecken sich, oft kilometerweit, die Südtiroler Obst- und Weingüter, für welche das Land ja auch zu Recht bekannt ist.
Zwischen den Reihen und am Rand der Anlagen lassen sich zumeist sehr gepflegte, kurzgehaltene Grasstreifen erkennen, welche nahezu dem englischen Standard entsprechen. Doch dann erblickt das Auge ein etwas anderes Bild: Eine Anlage zwischen den anderen, deren Rand von wild verwachsen erscheinenden Pflanzen geprägt wird. Daneben ein ungeordneter Steinhaufen und verschiedenste Hecken. Auch zwischen den Reihen der Bäume finden sich hochgewachsene Pflanzen, welche ihre Blütenköpfe der Sonne entgegenstrecken. Die Vermutung liegt nahe, dieser Landwirt kümmere sich kaum um die Pflege seiner Obstanlage.
Das was wächst, einfach mal stehenlassen.
Im Hotel angekommen wird zuerst der traumhafte Blick auf die noch verschneiten Gipfel der Südtiroler Berge genossen. Doch beim Senken des Hauptes fällt ein Garten auf, welcher in ähnlichem Stil der zuvor beschriebenen Obstanlage „bewirtschaftet“ wird. Zwischen großen, verstreuten Steinen und einem morschen Baum, dessen Tage sicherlich schon lang gezählt sind, finden sich derart viele und verschiedene Pflanzenarten, dass nur ein kleiner, ausgemähter Bereich ein Durchdringen ermöglicht. Es muss sich um den Wohnort des zuvor erwähnten Landwirts handeln. Ein wahrer Faulpelz!
Doch weit gefehlt. Sowohl die Situation der Obstanlage als auch des Gartens sind ein wohl durchdachtes Konzept, welches sich das Ziel setzt, die Biodiversität „unseres“ wunderschönen Landls zu erhalten oder gar zu fördern! Die im ersten Moment sehr unordentlich erscheinenden Flächen sind das Ergebnis eines Managements, das sowohl den Tieren und Pflanzen, als auch der Bodenfruchtbarkeit, also der Mutter allen Seins, entgegenkommt.Ökologie und Ökonomie Hand in Hand.
Der/die Landwirt/in entschied sich dazu, durch eine Einsaat der Lebewelt seiner Anlage eine Chance zu geben. Die Vielfalt an Blüten, die er durch diese einbrachte, stellt nicht nur die Nahrungsgrundlage unserer Honigbienen dar, sondern dient auch unzähligen anderen Insekten minderer Berühmtheit als Wohn- und Speiseort. Als Beispiel seien die bei den meisten Menschen als „Lästlinge“ abgetanen Fliegen genannt. Eine Familie dieser, die Schwebfliegen, vermag es nahezu gleich viele Pflanzen zu bestäuben wie die Honigbiene. Aber nicht genug, in einem jüngeren Stadium ihrer Entwicklung ist sie in der Lage, an die 200 Läuse pro Tag zu vertilgen, wodurch kostspielige Behandlungen wegfallen können. Durch die Wahl der Zusammensetzung der Einsaat ist der/die Landwirt/in aber nicht nur in der Lage, die Biodiversität zu fördern, sondern kann zum Beispiel durch die Einsaat von Leguminosen (also Hülsenfrüchtlern) einen wesentlich geringeren Einsatz von Düngern erzielen.Denn die Freundschaft dieser Pflanzen mit Bakterien führt zu einer Fixierung von Stickstoff im Boden, auf natürliche Art und Weise. Ökologie und Ökonomie, Hand in Hand. Auch ungemähte Reststreifen in Wiesen, Feldern und Ackerbegrenzungen bieten Leben und Habitat für viele Insekten und Pflanzenarten. Viele Kleintiere halten sich gerne in ungemähten Wiesen auf. Wer beim Mähen Reststreifen stehen lässt, verbessert die Lebensbedingungen für viele der dort lebenden Arten. Dort können Eier, Raupen oder Puppen von Insekten sowie Spinnen ihre Entwicklung vervollständigen. Die ungemähten Streifen sind wichtig für gefährdete Pflanzenarten weil sie als „Saatgut-Reserve“ dienen. Z.B. blühen einige Enzianarten oder Dorst erst im Spätsommer. Wenn die Wiese dann ganzflächig gemäht wird, können die Pflanzen keine Samen bilden. Ebenso dient der ungeordnete Steinhaufen, der morsche Stamm sowie die verschiedensten Hecken als Zufluchts-, Wohn- und Speiseort für viele Tierarten. Bei näherer Betrachtung kann also eine primär unordentlich wirkende Landschaft sehr durchdacht und in Hinblick auf die Biodiversität sehr sinnvoll sein!
Die Devise lautet „Mehr Mut zur Unordnung, mehr Vielfalt, mehr biodiversen Landbau!“Julian von Spinn, Beratung Ökologie & Biodiversität, Bioland Südtirol