Ich hatte (noch) einen kleinen Hoffnungsschimmer. Jetzt aber bin ich „baff“.
Ich kenne Wolfgang Mayr seit über 40 Jahren; er war es, der mich zum Journalismus gebracht hat und wir sind - trotz völlig unterschiedlicher Sichtweisen in manchen Dingen - immer noch in Kontakt. Deshalb ist es auch völlig normal, dass Wolfi mir am vergangenen Dienstag eine kurze Mail schickt: „Guten Morgen Christoph, magst eine Provokation veröffentlichen? Mein Plädoyer für die Triage?“
Obwohl ich ahnte, was kommen würde, antwortete ich ihm, er solle den Text schicken. Als ich ihn dann in der Hand hielt, musste ich erst einmal schlucken. Kurz gesagt: Ich halte Wolfis Artikel für eine Zumutung, gefährlich, fast schon unmenschlich und wider alle Ideale, für die ich eintrete und lebe.
Ich halte Wolfis Artikel für eine Zumutung, gefährlich, fast schon unmenschlich und wider alle Ideale, für die ich eintrete und lebe.
Ich habe lange überlegt, ob Salto diesen Text veröffentlichen kann, soll, darf oder muss.
Dann habe ich - auch in Absprache mit meinem Chefredakteur Fabio Gobbato - entschieden, den Text online zu stellen. Nicht nur, weil ich überzeugt bin, dass eine der wichtigsten Säulen der Demokratie und des zivilisierten Zusammenlebens die Bereitschaft ist, Andersdenkenden zuzuhören und sich auch mit Thesen auseinanderzusetzen, die nicht ins eigene Koordinatensystem passen.
Ich habe diesen Text vor allem deshalb publiziert, weil mich die Reaktionen darauf interessierten. Denn mir war von Anfang an klar, dass Wolfi nur das schreibt, was ein Teil der Südtiroler und Südtirolerinnen denkt, was man seit Monaten am "Pudl", im linken Debattiersalon (wenn es so etwas in Südtirol denn überhaupt gibt) oder in den sozialen Medien unisono hört: „Diese No-Vax sollen krepieren!“.
Natürlich sagt man es nicht so direkt. Man umschreibt es ein bisschen. So wie Wolfi Mayr es tut. Man meint es vielleicht auch (noch) nicht zu 100% so. Aber es geht doch eindeutig in diese Richtung.
Man soll die Nichtgeimpften triagieren. Das heißt, nach den geimpften Patienten behandeln. Wenn überhaupt (die letzten Absätze von Mayrs Pasquill gehen ja in diese Richtung). Wenn dieser Virus und diese Krankheit aber so gefährlich sind, wie uns die Fachleute seit fast zwei Jahren gebetsmühlenartig erklären - und sie sind es zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen tatsächlich - , dann ist diese Priorisierung doch wohl auch eine unterlassene Hilfeleistung.
Die Reaktionen und Kommentare auf Salto.bz haben meine schlimmsten Befürchtungen aber noch deutlich übertroffen. Drei Viertel jener, die sich zu Wort melden, stimmen dem Mayr-Pamphlet freudig zu. Endlich einer, der Klartext redet. Mit wehenden Fahnen springt man auf den Kreuzzug gegen die neuen Medizin-Häretiker auf. Viele übertreffen in ihrem Geifer den Autor dabei bei weitem. Dasselbe Bild unter der Entgegnung von Florian Kronbichler.
Das neue Weltbild hat klare Koordinaten: Vor Corona waren die Ausländer oder jedenfalls eine andere Minderheit an allem schuld, heute sind es die Nichtgeimpften.
Wer etwas Anderes sagt, ist ein Verschwörungstheoretiker, ein Schwurbler oder ein Verrückter.
Eigentlich müsste man in diesen Tagen das Wort "Toleranz", das in Südtirol bereits traditionell eher im Fremdwörterbuch zu finden ist, gleich ganz aus dem Duden streichen. Nur so ist diese unmenschliche Stimmungslage erklärbar.
Das Absurde daran: Sehr viele dieser Südtirolerinnen und Südtiroler rennen am Sonntag in die Kirche, wo sie dann scheinheilig „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ beten - und das sollte eigentlich ALLE Nächsten bedeuten, auch jene, von denen man (nur teilweise zu Recht) annimmt, dass sie andere Menschen gefährden. Dabei ist es ausgerechnet die Kirche, die zeigt, dass es auch durchaus anders geht. Papst Franziskus und auch der Südtiroler Bischof Ivo Muser machen immer wieder auf die Spaltung unserer Gesellschaft aufmerksam und rufen zum Dialog auf. Dass man in der Kirche nicht nur redet, sondern diese Toleranz auch lebt, macht die kirchliche Realität deutlich.
Eigentlich müsste man in diesen Tagen das Wort "Toleranz", das in Südtirol bereits traditionell eher im Fremdwörterbuch zu finden ist, gleich ganz aus dem Duden streichen.
Oder haben Sie bisher groß etwas von No-Vax-Pfarrern, -Bischöfen oder -Kardinälen gehört? Es gibt sie natürlich. Nur geht man mit dieser Tatsache toleranter, dezenter und weniger fanatisch um.
Denn wer einen starken Wertekanon hat, den wirft selbst eine Pandemie nicht so schnell aus der Bahn.
In unserer Gesellschaft zeigt sich leider genau das gegenteilige Bild. Was bislang weder die Taliban noch der ISIS geschafft haben, scheint dieser kleine Virus im Schnelldurchgang zu erreichen. Den Wertekanon der westlichen Welt auf den Kopf zu stellen. Menschlichkeit, Humanität und Toleranz außer Kraft zu setzen.
Was bislang weder die Taliban noch der ISIS geschafft haben, scheint dieser kleine Virus im Schnelldurchgang zu erreichen. Den Wertkanon der westlichen Welt auf den Kopf zu stellen.
Jedes kritische Denken muss dem Kampf gegen den einzigen Feind untergeordnet werden. Wer „aber..“ sagt, wird sofort in die Ecke der Verantwortungslosen, Egoisten und Reichsbürger gedrängt. Es gibt nur mehr farbige Zonen. Weiß, Gelb, Orange oder Rot. Aber vor allem Schwarz und Weiß. Alles andere, jede Schattierung, wird in dieser Welt nicht mehr zugelassen. Und dabei wird auch nicht ansatzweise unterschieden zwischen fanatischen - und oft auch gewalttätigen - Impfgegnern einerseits und Menschen, die einfach nur Angst vor einer (häufig auch nur vor DIESER) Impfung haben. Alles NO-Vax, alles Asoziale, alles Spinner. Dass "believe the science" nicht nur in diesem Zusammenhang auch ein Quasi-Oxymoron ist, das fällt niemandem auf.
Dort, wo die Angst regiert, werden Fehler gemacht. Diese Gesellschaft macht im Umgang mit Covid-19 riesige Fehler, deren Langzeitfolgen auf das menschliche Zusammenleben nachhaltiger sein werden, als wir uns heute vorstellen können.
Eine historische Charakteristik von Kreuzzügen ist auch, dass jene, die daran teilnehmen, den eigentlichen Ausgangspunkt schnell vergessen.
Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass es sich bei der Corona-Schutzimpfung formal und rechtlich (noch) um eine freiwillige Impfung handelt.
Das Wort „freiwillig“ impliziert in einer Demokratie, dass es das Recht auf Impfung gibt.
Genauso aber auch das Recht auf Nichtimpfung. Nur wird ebendieses Recht seit 12 Monaten mit Füßen getreten. Menschen, die sich erlauben, es in Anspruch zu nehmen, werden ausgegrenzt, diffamiert und als moralisch minderwertig abgestempelt.
Diese Gangart wird man kaum mehr ändern können. Längst ist diese Überzeugung anerkannter Mainstream.
Was mir aber wirklich Angst macht, ist die Frage, was passiert, wenn die Covid-19-Impfung per Gesetz zur Pflicht erhoben wird?
Das Wort „freiwillig“ impliziert in einer Demokratie, dass es das Recht auf Impfung gibt. Genauso aber auch das Recht auf Nichtimpfung. Nur wird dieses Recht seit 12 Monaten mit Füßen getreten.
Schaut man sich den inzwischen völlig akzeptierten Furor in der Mitte der Gesellschaft an, so muss spätestens dann für die Impfverweigerer das Exekutionskommando aufmarschieren. Natürlich darf dann auch nicht vergessen werden, ihre Leichen umgehend zu verbrennen. Denn sonst könnte sich das Virus ja weiterverbreiten.
Mit graut es vor dieser Aussicht.
Frei nach Claus Gatterer: Schöne Welt, böse Leut. Und das nicht nur in Südtirol.
P.S. Der Autor dieses Artikels ist geimpft.