Gesellschaft | In memoriam
„Gib mir die Hand!“
Foto: upi
„Völlig unerwartet und doch friedlich“. So vermeldete die Familie letzte Woche in einer bescheidenen Parte den Tod von Paul Marsoner. Jemand starb „völlig unerwartet und doch friedlich“? Ist eine unübliche Formel für eine Todesanzeige. Nachdem aus Todesanzeigen gern Art und Hergang des Sterbens eines Menschen herausgelesen wird, ist jede Wortkombination eine Diagnose. Steht „friedlich“ allein, weiß der Leser: also normal. „Unerwartet“ kommt in der Regel in Verbindung mit „plötzlich“. „Plötzlich und unerwartet gestorben“ heißt es dann, und der geübte Todesanzeigen-Leser fühlt sich veranlasst zu mutmaßen: hoppla!
Die Verwandtschaft schrieb ihm in der Todesanzeige, wohl in aufrichtiger Verehrung, sowohl Doktor- als auch Adelstitel hinzu: Dr. Paul von Marsoner. Er selber führte beides nie.
Deshalb: „Völlig unerwartet und doch friedlich“ von Gott zu sich gerufen – liest sich gleich mehrfach ungewöhnlich. Passend ungewöhnlich wird die Beschreibung finden, wer den Verstorbenen gekannt hat: Paul Marsoner. Die Verwandtschaft schrieb ihm in der Todesanzeige, wohl in aufrichtiger Verehrung, sowohl Doktor- als auch Adelstitel hinzu: Dr. Paul von Marsoner. Er selber führte beides nie. Paul Marsoner war ein sehr ungewöhnlicher, besser: außergewöhnlicher Mensch. Er stammte aus Ulten, Jahrgang 1951, und starb am 3. Februar in Traona. Das ist ein Dorf in der Valtellina, Provinz Sondrio, am Fluss Adda, schon nahe am Como-See. Und um das Rätsel vom „völlig unerwartet und doch friedlich“ gleich zu lüften: Paul fühlte sich an dem Tag nach dem Mittagessen nicht recht wohl und bat seine Frau Chiara: „Gib mir die Hand!“ Chiara gab sie ihm. Und Paul starb.
Man wird Paul Marsoner und das Verhältnis zu seiner Frau Chiara (Martinetti) ein bisschen kennen müssen, um seine so wundersame Art des Sterbens nicht für beschönigend wiedergegeben, sondern für sehr bezeichnend und für nicht anders als hochverdient zu empfinden. Paul war außerordentlich von klein auf. Wohl sein schweres Asthma-Leiden, gepaart mit großem geistigen Talent, machten ihn schon in der Volksschule in St. Walburg in Ulten zum Außenseiter. Der Kleine stotterte, das aber seltsamerweise nur im heimatlichen Dialekt und nicht auf Hochdeutsch oder Italienisch. Statt mit den Dorfkindern herumzubalgen, verzog sich das Büblein schon von den ersten Klassen auf in die Bibliothek seines Onkels Ferdinand. Dieser, Ferdinand von Marsoner, war, was man einen studierten Bauer hieß. Gescheit, belesen, Latein-Kenner, aber dabei keineswegs weltfremd, sondern bewandert und immer vorn dran genauso im bäuerlichen Wirtschaften. Er war ein Pionier besonders der Elektrifizierung, mischte sich ins politische Geschehen ein im Ort wie auf Landesebene, und das beileibe nicht nur zum Vergnügen der Herrschenden. Seine Leserbriefe waren berüchtigt für Witz und klare Aussprache.
Statt mit den Dorfkindern herumzubalgen, verzog sich das Büblein schon von den ersten Klassen auf in die Bibliothek seines Onkels Ferdinand.
Das zusätzlich sechste Volksschuljahr in Ulten holte der helle Paul später sportlich auf am Gymnasium-Lyzeum in Meran, wo er sich die letzte, achte Klasse ersparte, aus der siebten direkt zur Matura antrat und diese als Bester bestand. Mit 13 hatte er den Vater verloren. Den heimatlichen Hof zu übernehmen, was ihn gefreut hätte, verhinderte sein Asthma-Leiden. So ging Paul nach Wien zum Studium – offiziell Philosophie, aber de facto noch ein halbes Dutzend Fachbereiche dazu. Vor allem Wirtschaft und Soziologie. Aufs Doktorat aus Philosophie setzte er zwei Jahre am „Ford-Institut“ drauf, das heute Institut für Höhere Studien heißt und für Nachwuchsführungskräfte in der Wirtschaft gedacht ist. Der Ultner hätte ein schmeichelhaftes Angebot aus der EU-Zentrale in Brüssel gehabt. Er schlug es aus, machte Militär und blieb in Bozen als Deutsch- und Geschichtelehrer am Realgymnasium.
In Bozen fand der Wien-Heimkehrer bald Zugang zu kulturellen und politischen Kreisen. Er schrieb Artikel in der damals (Ende 1970er, Anfang 80er Jahre) neu erschienenen „Volkszeitung“, später „Tandem“. Auch in den „Sturzflügen“ veröffentlichte er. Politisch umwarben den analytischen Kopf ein bisschen alle linken und alternativen Parteien und Grüppchen. Als er sich entschloss, der Sozialdemokratischen Partei SPS beizutreten und konsequent für diese auch einmal kandidierte, war es mit der SPS dann allerdings bald zu Ende und mit Pauls parteipolitischem Engagement definitiv auch. Er schrieb ein Büchlein mit dem Titel: „Die nächsten 100 Jahre“, Untertitel: „Skizzen einer politischen Futurologie“. Ein wahrhaft verwegener Anspruch an Prophetie. Das Werk hat weniger Leser gefunden als verdient. Den Autor entmutigte das nicht. Nicht, weil er etwa arrogant gewesen und den Publikumsgeschmack verachtet hätte. Paul war ein weiser, bescheidener Mensch, so ein Wissender, der sich eher fragte, als dass er Sentenzen erteilt hätte.
Paul Marsoners Biografie wäre unvollständig und somit nicht wahr, würde nicht auch auf seine ganz besondere Religiosität eingegangen. Er war kein Taufchrist. Ein eifriger Ministrant zwar, aber lang nicht auffällig, im Gegenteil: Als er später einmal von Wien mit langen Haaren heimkam, bat die Mutter den Pfarrer, er möge dem Bub diese Modeflause austreiben. Der Pfarrer versuchte das und verweigerte, zur Therapie, dem zotteligen Paul die Kommunion. Das Ergebnis war, dass der so Gemaßregelte radikal jede weitere Verbindung mit Pfarrer und Kirche abbrach.
Als er später einmal von Wien mit langen Haaren heimkam, bat die Mutter den Pfarrer, er möge dem Bub diese Modeflause austreiben.
Wann genau und wie Paul dann zu Religion und Kirche wieder zurückfand, und zwar sehr konsequent, das wissen selbst seine Schwestern nicht, mit denen er sonst ein inniges Verhältnis pflegte. Es war jedenfalls zu der Zeit, als er in Meran auf seine spätere Frau Chiara Martinetti traf. Die Mailänderin, von Kind auf schwer körperlich beeinträchtigt, lag für eine Operation in der Böhler-Klinik. Die beiden heirateten 1986 und lebten bis zu Pauls Tod letzte Woche ein Eheleben, wie es inniger schwer vorstellbar ist. Chiara, ähnlich geistig hochbegabt, aber pflegebedürftig und meistens im Rollstuhl, war fortan Pauls Lebensinhalt und –aufgabe. Paul war zum Beter geworden. Er verließ mit Erreichen der Mindestrente im Jahr 1992 den Unterricht und bald auch Bozen. Mit Chiara zog er zunächst nach Birchabruck, der guten Luft und der Ruhe wegen. Wenn man ihn ab und zu in Bozen sah, scheu, aber immer freundich, dann war das, um in der Herzjesu-Kirche einer Anbetung beizuwohnen. Zum Ehering trug er einen Rosenkranz-Ring. An seinen späteren Wohnorten in Ligurien und in der Valtellina beteiligte er sich aktiv in den jeweiligen Pfarrgemeinden, in Genua sogar als Wortgottesdienst-Leiter.
Dem eigenen Asthma zum Kampf und Chiara zuliebe kauften die beiden eine Wohnung am Alten Hafen in Genua. Am Meer litten sie weniger. Paul pflegte Chiara und tat im übrigen das, was er am besten konnte: studieren und schreiben. Religion, Philosophie, Wirtschaft, Politik, alles, und vor allem Sprachen. Es dürfte keinen Südtiroler geben, der mehr Sprachen sprach und schrieb als Paul Marsoner. Von den großen europäischen Sprachen die meisten. Klassisch Griechisch und Latein sowieso. Er fertigte eine eigene Bibelübersetzung aus dem Hebräischen an. Sanskrit, das alte Arabisch. Sein Prinzip war, alles, was ihn interessierte, in der Ursprungssprache zu verstehen. Um seiner Frau ein Heilmittel zu verschaffen, das nur in China verwendet wird, lernte er Chinesisch.
Es dürfte keinen Südtiroler geben, der mehr Sprachen sprach und schrieb als Paul Marsoner.
Der Ultner war zeitlebens Forscher und Lehrer. In seinen Bozner Jahren brachte er Kollegen und Freunden den Umgang mit den ersten Computern bei. Bei aller Geistigkeit hatte er nie das praktisch Handwerkliche vernachlässigt. Der Intellektuelle blieb immer auch Bauer. Die Heu- und Grumet-Ernte am Hof daheim war ihm liebstes Pflichtprogramm von Studienzeit auf. Im Sommer, „wenn Heu war“, fuhr der Student von Wien per Autostopp heim und zu Prüfungen wieder retour. Was er schrieb, und er schrieb viel, blieb, außer seine „nächsten hundert Jahre“, weitgehend unveröffentlicht. Paul brauchte keinen Zweck für seine Arbeit. Gelebt haben er und Chiara von ihren beiden bescheidenen Pensionen. Ein Leben in Frieden füreinander muss das gewesen sein, eines vergleichbar jenem von Philemon und Baucis in der griechischen Mythologie. Miteinander zu sterben hatten sie sich gewünscht. Ganz gelang das nicht, aber Paul mit Chiara, Hand in Hand - auch schön.
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paul&john würden den florin
paul&john würden den florin wohl die Hand reichen. niemand hätte ihren Liedtext mehr Tiefgang geben können. Unser Paul, der Marsoner, er ruhe nun gut! RIP
Oh, yeah, I'll tell you somethin'
I think you'll understand
When I say that somethin'
I want to hold your hand
I want to hold your hand
I want to hold your hand
Oh, please, say to me
You'll let me be your man
And please, say to me
You'll let me hold your hand
You'll let me hold your hand
I want to hold your hand
And when I touch you
I feel happy inside
It's such a feelin' that my love
I can't hide
I can't hide
I can't hide
Yeah, you got that somethin'
I think you'll understand
When I say that somethin'
I want to hold your hand
I want to hold your hand
I want to hold your hand
And when I touch you
I feel happy inside
It's such a feelin' that my love
I can't hide
I can't hide
I can't hide
Yeah, you got that somethin'
I think you'll understand
When I feel that somethin'
I want to hold your hand
I want to hold your hand
I want to hold your hand
I want to hold your hand
Danke Florian für diesen
Danke Florian für diesen liebevollen Nachruf für diesen so außergewöhnlichen Menschen Paul Marsoner. Sein Buch "Die nächsten hundert Jahre" dürfte, mit dem China-Bezug, sehr aktuell sein. Gerne werde ich´s erwerben und lesen.
Antwort auf Danke Florian für diesen von Karl Trojer
Mit seiner "Politischen
Mit seiner "Politischen Futurologie" hat Paul Marsoner vor fast 40 Jahren Vieles an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen richtig vorausgesehen, was sich jetzt konkret abzeichnet, z.B. das Ende des auf fossile Energie gestützten Turbokapitalismus und den Anbruch des "solaren Zeitalters" (na ja, ganz soweit sind wir noch nicht). Viele seiner damaligen Analysen waren zutreffend. Wie schade, dass er seine visionären Überlegungen zu sehr für sich behalten hat. Ruhe in Frieden, Paul.