Im vergangenen Oktober kürte das renommierte Wirtschaftsmagazin Forbes Angela Merkel zur mächtigsten Frau der Welt. In der Tat steht die deutsche Kanzlerin an der Spitze des bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich mächtigsten Landes der EU. Kritiker, von antikapitalistischen Basisbewegungen bis hin zu Staatspräsidenten á la Francois Hollande, sagen – offen oder hinter vorgehaltener Hand: die Merkel pfeift und die ganze EU muss danach tanzen. Aber wie kam es zu dieser Rolle Deutschlands als unbestrittene Führungsmacht Europas?
Werfen wir einen Blick zurück. Noch vor 10-15 Jahren galt Deutschland als „der kranke Mann Europas“. 4 Millionen Arbeitslose, eine stotternde Wirtschaft und ein enormes Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Regionen, eine landes-weite Depression. Das war nicht nur, aber doch hauptsächlich, auf die Folgen der deutschen Wiedervereinigung zurückzuführen. Da beschloss die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder zwischen 2003 und 2005 - gegen heftigsten Widerstand in den eigenen Reihen und der Gewerkschaften - ein gewaltiges Reformprogramm, die Agenda 2010 mit den Hartz IV-Bestimmungen als Herzstück. Der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert, der Kündigungsschutz gelockert und die Sozialhilfe für Arbeitslose und Arme drastisch eingeschränkt. Dauer und Höhe des Arbeitslosengeldes wurden gekürzt, Arbeitssuchende mussten (und müssen) auch bis dahin als „unzumutbar“ geltende Jobs annehmen, wenn sie weiter unterstützt werden wollen. Wer Sozialhilfe beantragt muss alle seine Besitztümer und Konten (auch jene der Kinder) offenlegen. Keine Sozialhilfe solange das Privatvermögen nicht aufgebraucht ist. Wer zu teuer wohnt, muss in eine billigere Wohnung umziehen, wer ein zu teures Auto fährt, dieses verkaufen etc.
Billiglöhne, Mini-Jobs und „working poor“
Diese Maßnahmen haben zwar die Arbeitslosigkeit um 1 Million gesenkt, schufen aber einen großen Billiglohnsektor mit Hunderttausenden unterbezahlten, prekären, zeitlich begrenzten und geringfügigen Jobs, sowie ein Heer von Leiharbeitern. 22 % aller Jobs sind sogenannte „atypische Beschäftigungsverhältnisse“. Und: 1,3 Millionen Beschäftigte verdienen mit ihrer Arbeit nicht genug um leben zu können. „Aufstocker“ werden sie genannt, weil ihr bescheidenes Einkommen vom Staat durch Sozialhilfe auf den Satz von Hartz-IV aufgestockt wird – also arm, obwohl arbeitend, allgemein „working poor“ genannt.
Der deutschen Wirtschaft verhalf das zu einem spürbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber vergleichbaren Ländern und zu einem raschen Aufschwung mit einer beträchtlichen Steigerung der Exporte. Aber gepaart mit Einschnitten im Pensionswesen und Sparmaßnahmen bei den Sozialausgaben des Staates führten diese Maßnahmen zu einer zusehenden Verarmung ganzer Bevölkerungsteile oder Regionen. Schon im Jahr 2003 unterzeichneten 400 WissenschaftlerInnen den Appell „Sozialstaat reformieren statt abbauen“. Der aktuelle Armutsbericht 2013 ist dementsprechend alarmierend.
Alarmierender Armutsbericht
Im Armutsbericht 2013 des deutschen Wohlfahrtsverbandes werden 15,2% der Bevölkerung – das sind immerhin 12 Millionen von 80!! oder jeder 7. Haushalt – als arm oder armutsgefährdet eingestuft. Deutschland sei noch nie so gespalten gewesen: zwischen Arm und Reich und zwischen armen und reichen Regionen des Landes. Details dazu unter:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-12/armutsbericht-paritaetischer-wohlfahrtsverband
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armutsbericht-verteilung-von-armut-und-reichtum-in-deutschland-a-939995.html
Deutschland als Vorbild?
Angesichts dieser Entwicklung muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob „das deutsche Modell“, als nachahmenswertes Vorbild für ganz Europa gelten kann – gerade jetzt im Vorfeld der Wahlen zum EU-Parlament. Und ebenso erlaubt muss die Frage sein, mit welcher Berechtigung – außer jener der Übermacht – Königin Angela und ihr Finanzarchitekt Wolfgang Schäuble ihren EU-Partnern „Hausaufgaben“ zur Sanierung der Wirtschaft und zur Bewältigung der Finanz- und Euro-Krise diktieren können. Hausaufgaben, die da lauten: noch mehr Liberalisierung der Wirtschaft und Konsolidierung des Staatshaushaltes (Schulden) durch eisernes Sparen, Sparen, Sparen – auch wenn das vor allem den Wohlfahrtsstaat trifft.
Dabei gäbe es zahlreiche, von den namhaftesten Ökonomen und Nobelpreisträgern geforderte, Alternativen dazu. Finanztransaktionssteuer, Vermögenssteuern, Beteiligung der Gläubiger bei Banken-Crashs und Banken-Rettungen, „Austrocknen“ der Steuerparadiese usw. usf. – aber das ist eine andere Geschichte.