Politik | Interview

"Wie definiere ich Mittelstand?"

Landeshauptmann Arno Kompatscher verteidigt die Prioritäten der Landesregierung und erklärt, warum angesichts der steigenden Kosten nicht jede*r unterstützt werden kann.
Kompatscher, Arno
Foto: LPA/Ivo Corrà

Salto.bz: Herr Kompatscher, hat Südtirol ein Inflationsproblem?

Arno Kompatscher: Europa hat ein Inflationsproblem. Wenn nicht die ganze Welt eines hat. Aufgrund der Antikrisenmaßnahmen ist eine enorme Geldmenge im Umlauf - diese schafft einen Preisdruck. Dazu kommen die Rohstoffknappheit, die Produktionsengpässe während der Pandemie und jetzt noch der Ukraine-Krieg. Diese Faktoren sind der Grund für die hohen Inflationswerte. Aber auch ohne diese Sonderkrisen hat man mit einer gewissen Inflation gerechnet. Und ich wage zu behaupten, dass die Staaten diese auch einkalkuliert haben, weil sich durch die Inflation die Staatsschulden relativieren. Aber ja, auch in Südtirol haben wir im Moment eine hohe Inflationsrate.

Das Preisniveau, das sich in Südtirol abzeichnet, wird aber nicht nur durch externe Faktoren bedingt.

Südtirol ist ein sehr begehrter Lebensraum mit einer entsprechend großen Nachfrage. Das wirkt in allen Bereichen preistreibend. Dazu kommt, dass auch die Touristen Nachfrage generieren und die Preise für Übernachtungen und andere touristische Dienstleistungen Eingang in den Warenkorb finden, was sich aus statistisch noch einmal auf die Inflationsrate auswirkt.

 

Es stimmt aber, dass die Lebenshaltungskosten in Südtirol relativ hoch sind. Aber der Vergleich hinkt.

 

Die Lebenshaltungskosten sind in Südtirol im Schnitt 20 Prozent höher als im restlichen Italien; bei den Löhnen sind die Abstände weit geringer. Ist diese Situation Ihrer Meinung nach problematisch?

Wir haben vor allem im Bereich Wohnen sehr hohe Preise. Der Grund dafür ist der knappe zur Verfügung stehende Wohnraum. Einerseits ist das verfügbare Bauland aus geografischen Gründen knapp, andererseits haben wir eine bewusste Entscheidung getroffen, den Landschaftsverbrauch einzuschränken. Diese Faktoren wirken natürlich preistreibend. Die Anhebung der Gemeindeimmobiliensteuer (GIS) für leerstehenden Wohnraum soll etwas dazu beitragen, dass wieder mehr Wohnraum zur Verfügung steht und Spekulation eingeschränkt wird. Es stimmt aber, dass die Lebenshaltungskosten in Südtirol relativ hoch sind. Gleichzeitig gibt es in Südtirol aber auch mehr Leistungen im öffentlichen Bereich. Damit will ich nicht behaupten, dass die Rechnung am Ende wieder stimmt. Aber der Vergleich hinkt. Beispiel Kindergarten oder Kleinkinderbetreuung: Diese kosten in anderen Regionen ein x-faches!

Die Frage bleibt: Bräuchte es in Südtirol eine Lohnerhöhung?

Auch bei der Arbeit ist der Preis, das heißt in diesem Fall der Lohn, das Ergebnis von Angebot und Nachfrage. Es gibt in vielen Bereichen einen tollen Wettbewerb für Fachkräfte, der dazu führt, dass qualifiziertes Fachpersonal in Südtirol auch gut bezahlt wird. Als öffentliche Hand verlieren wir diesen Wettbewerb leider oft. Aber es gibt in Südtirol effektiv ein Problem im Niedriglohnsektor - das heißt, im Reinigungssektor oder bei der Kasse im Kaufhaus zum Beispiel. Dort gibt es sehr wohl verfügbare Arbeitskräfte und deshalb auch einen fehlenden Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Hier bräuchte es territoriale, das heißt, landeseigene Kollektivverträge, die den höheren Lebenshaltungskosten in Südtirol Rechnung tragen. Die nationalen Standards sind hier zu niedrig. Im gehobenen Lohnsektor ist das nicht der Fall, weil dort sowieso schon mehr bezahlt wird. Ich habe diesbezüglich versucht, auf politischer Ebene einzugreifen und Unternehmen, die mit zu niedrigen Löhnen arbeiten, durch eine IRAP Erhöhung abzustrafen. Es gab einen Riesenaufschrei - sowohl vonseiten der Unternehmen als auch von Seiten der Gewerkschaften. Sie wollten keine politische Einmischung auf der kollektivvertraglichen Ebene.

 

Es gibt in Südtirol effektiv ein Problem im Niedriglohnsektor.

 

Wird man hier in Zukunft doch eingreifen?

Wir haben inzwischen die IRAP allgemein erhöht, das heißt, dass der Handlungsspielraum nicht mehr wirklich gegeben ist. Hier die IRAP nochmals zu erhöhen, wo die Unternehmen wieder eine Wirtschaftskrise erwarten, ist schwierig. Aber sobald es die Haushaltslage zulässt und wir die IRAP wieder senken könnten, wäre wieder eine Überlegung möglich. Das Thema ist für mich noch nicht vom Tisch.

In der Zwischenzeit wird allein bei den Energiekosten für einen Zweipersonenhaushalt mit einem mittleren Energieverbrauch 2022 ein Preisanstieg von 1.500 Euro erwartet. Glauben Sie, dass die unteren und mittleren Einkommensklassen in der Lage sein werden, diesen Anstieg finanziell zu stemmen?

Gerade für die Geringverdiener ist die Situation dramatisch. Deshalb haben wir für diese Gruppe schnelle und unbürokratische Sofortmaßnahmen beschlossen. Was war die Reaktion? “Der Mittelstand geht wieder mal leer aus.” Wenn wir diese Maßnahme auf das nächste ISEE-Level ausdehnen würden, ginge es aber nicht mehr um 10 Millionen Euro, sondern um 40 bis 50 Millionen Euro. Das würde in anderen Bereichen - wie beispielsweise den öffentlichen Dienstleistungen, den Kollektivverhandlungen, dem Gesundheitswesen oder den Sozialleistungen - Einsparungen bedeuten, womit die Betroffenen wieder abgestraft würden. Das hätte keinen Sinn.

 

Wir können nicht alle unterstützen.

 

Inwieweit ist es die Aufgabe der Politik, die Preise auch für jene Menschen aufzufangen, die es nicht unbedingt notwendig haben?

Wir müssen in Südtirol zwischen unterstützenden Leistungen - wie Kindergeld oder Wohnbauförderung - und Sozialleistungen unterscheiden. Und wir müssen endlich verstehen, dass Sozialleistungen für jene Menschen vorgesehen sind, die es ohne diese Hilfe nicht schaffen. Wir werden es im Moment nicht schaffen, all jenen Menschen zu helfen, die zwar Schwierigkeiten haben, bei denen sich die Schwierigkeiten aber auf nicht essenzielle Leistungen wie beispielsweise den Urlaub niederschlagen. Natürlich - die Preissteigerung tut allen weh; selbst den Wohlhabenderen im Land. Aber wir können nicht alle unterstützen. 

Wo aber die Grenze ziehen?

Die Frage ist, wie definiere ich Mittelstand. Diese Diskussion ist auch bei der Anhebung der GIS wieder aufgeflammt. Für einige Interessensvertreter scheint Mittelstand auch zu beinhalten, zwei, drei leerstehende Wohnungen zu besitzen. Das ist schon absurd.

Haben ihre Parteimitglieder eine andere Definition von Mittelstand? Inwiefern weicht diese von der Ihren ab?

Ich glaube, dass hier ganz unabhängig von der Parteizugehörigkeit die Tendenz vorliegt, Mittelstand so zu definieren, wie man es gerade braucht. Wir haben in Südtirol immer noch den durchaus legitimen Anspruch auf ein Eigenheim mit Garten und Garage und einen oder besser zwei Pkws. Ein größerer und ein kleinerer Urlaub im Jahr ist inzwischen schon fast Standard. Skikurs, Musikunterricht, Handy und, und, und. Auch beim Wohnbau haben wir sehr hohe Standards. Wenn wir Personen, die von außen kommen, erklären, was bei uns in den geförderten Wohnbau hineinfällt, sind viele perplex. Aber natürlich, wir vergleichen uns mit unseren Nachbarn im Norden und auch deren Standards sind hoch. Wir haben in Südtirol einen Wettbewerb befeuert, bei dem es ganz viel ums Haben und vielleicht etwas weniger ums Sein geht. Was will ich damit sagen? Auch jene Personen, die diesen Standard gewohnt sind, tun sich zunehmend schwer. Und zwar trotz der vielen Förderungen, die es in Südtirol bis zu einem Einkommen von 80.000 Euro im Jahr gibt. Hier müssen wir uns auch mal fragen, an welchen Wünschen wir arbeiten wollen. Wunschlos glücklich haben wir immer definiert als “jeden Wunsch erfüllt”.

Das heißt, Ihre Antwort zur Preissteigerung ist Genügsamkeit?

Nein, das wäre jetzt unfair. Sie haben gehört, was wir alles tun, um die Menschen zu unterstützen. Aber ich glaube, dass wir uns mit unserem Lebensstil in Südtirol oft selbst fertigmachen. Wir setzten uns mit unseren Ansprüchen einem Leistungsdruck aus, an dem viele zerbrechen. Und das bereitet mir Sorgen. Auch unsere hohe Suizidrate hat mit diesem Leistungsdruck zu tun. Deshalb ist meine Antwort nicht Genügsamkeit, sondern die Frage danach, ob uns dieser Leistungsdruck und dieser Lebensstil noch guttun.

 

Die Frage ist, ob uns dieser Leistungsdruck und dieser Lebensstil noch guttun.

 

Betrachten wir die hohen Preise von einem anderen Blickwinkel: Normalerweise passen sich die Löhne an das Preisniveau an, um genügend Kaufkraft zu schaffen. In Südtirol ist das aufgrund des Tourismus - über den Kaufkraft importiert wird - nicht unbedingt der Fall. Das heißt, Preise steigen und Löhne stagnieren unter anderem deshalb, weil die Unternehmen nicht allein auf die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. Wird der Tourismus in Südtirol zu viel gefördert?

Die Frage ist: Stimmt es, dass der Tourismus Preistreiber ist? Für gewisse Bereiche trifft das sicher zu. Gleichzeitig ist der Tourismus aber auch Arbeitgeber und Motor der Wirtschaft sowie derjenige, der die Infrastruktur für den Erlebnispark Südtirol auch für die Einheimischen zur Verfügung stellt. Auch die Südtiroler gehen skifahren oder wandern und nützen dabei genau jene Infrastruktur, die es ohne Tourismus nicht geben kann. Natürlich, die Preise sind dadurch in bestimmten Bereichen etwas höher. Aber direkte Tourismusförderungen gibt es außer beim Marketing so gut wie keine mehr.

Auch in touristische Infrastruktur wird direkt investiert; eine neue Seilbahn in Tiers zum Beispiel, die wiederum andere Tourismusbetriebe ermöglicht.

Ja, wir geben Beiträge für Seilbahnen. Davon sind aber nur zwischen 10 und 20 Prozent der Anlagen betroffen. Früher wurden fast alle gefördert, heute ist das nicht mehr der Fall. In den meisten Fällen geht es übrigens um den Austausch von bestehenden Anlagen; neue Anlagen werden kaum geschaffen.

Klausberg, Sexten… 

Das sind Projekte, die seit Jahren im Raum stehen. Seilbahnen sind außerdem eine umweltfreundliche Beförderungsmethode. Eine der Argumentationen, die Bahn zu fördern, war die Reduktion des Straßenverkehrs. Eine Seilbahn kann in 20 Jahren wieder weggeräumt werden. Der landschaftliche Eingriff ist also geringer als bei einer Straße. Die Frage ist aber, wie wir den Tourismus insgesamt gestalten wollen. Was wir nicht mehr tun dürfen und wollen, ist quantitatives Wachstum. Hier haben wir jetzt die Bremse gezogen.

 

Der Tourismus stellt die Infrastruktur für den Erlebnispark Südtirol auch für die Einheimischen zur Verfügung.

 

Das heißt, touristische Infrastruktur wird in Südtirol nicht zu viel gefördert. Gleichzeitig bleibt aber kaum Geld, um die Löhne im öffentlichen Sektor zu erhöhen. 

Wir geben allein für die Gehälter im öffentlichen Dienst jährlich 1,3 Milliarden aus. Für den Gesundheitsdienst kommen 1,5 Milliarden, für die Bildung  knapp 1 Milliarde, für Familie und Soziales 700 Millionen, für die Gemeinden und den öffentlichen Nahverkehr jeweils 400 Millionen dazu. Die Förderung der Seilbahnen macht durchschnittlich 15 Millionen Euro pro Jahr aus. Das sind bei einem Landeshaushalt von insgesamt 6,5 Milliarden Euro 0,2 Prozent. 

Natürlich geht es aber nicht nur um Seilbahnen, sondern auch um Straßen und andere touristische Infrastruktur.

Der Investitionsanteil ist unter meiner Landesregierung gesunken, während die laufenden Ausgaben gestiegen sind. Ich werde also meistens mit genau dem gegenteiligen Vorwurf konfrontiert. Für den Straßenbau geben wir insgesamt weniger aus als in den 1990er-Jahren und den Nullerjahren; und 70 Prozent der Ausgaben betreffen heute Instandhaltungen.

Auch deshalb, weil Finanzierungsmöglichkeiten für Neubauten von außen dazukommen wie…

… Olympia 2026: 220 Millionen für die Zugverbindung Riggertalschleife. Weitere 15 Millionen für andere Schienenprojekte. Und ja, in der Tat, 40 Millionen für den Straßenbau. Aber es geht auch hier nicht um neue Erschließungen, sondern um einen Ausbau. Überhaupt werden diese Projekte seit den 1980er-Jahren diskutiert.

 

Wir sind seit 50 Jahren im ständigen Kurswechsel.

 

Das heißt, das hohe Preisniveau im Land erfordert keinen Kurswechsel - weder bei den Investitionen noch bei den Prioritäten der Landesregierung.

Wir sind seit 50 Jahren im ständigen Kurswechsel. Regierungsmaßnahmen werden ständig neu ausgerichtet. Es wird oft so getan, als ob Politik und Verwaltung statisch wären. Aber dem ist nicht so. Wir machen auch heute wieder eine ganz andere Politik als noch vor 10 Jahren. Aber nicht, weil die Vorgängerregierung etwas falsch gemacht hätte, die Umstände haben sich geändert. Auch zur Zeit stellen wir vieles um: Öffentliche Dienste wie Trinkwasserversorgung werden im Sinne der Nachhaltigkeit auf Kostenwahrheit umgestellt, wir tätigen immense Investitionen in den öffentlichen Personennahverkehr - vor allem Schiene und regenerative Antriebssysteme. Ein Kurswechsel hat also längst stattgefunden! Natürlich braucht es eine noch weitergehende Wende in Richtung Nachhaltigkeit. Aber wir sind mittendrin.