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Kaum ein Weg zurück

Könnte sich Südtirol selbst mit Getreide versorgen? Warum zwar ein Umdenken stattfindet, ein Umlenken aber umso schwieriger ist. Und wie eine Nische doch funktioniert.
Weizenähre
Foto: Othmar Seehauser

Selbst ist der Südtiroler schon lange nicht mehr. Zumindest wenn es darum geht, Land und Leute zu ernähren. Die Globalisierung hat weder am Brenner noch an der Salurner Klause Halt gemacht. Und mit ihr auch nicht die Folgen von Krisen, die sich tausende Kilometer entfernt abspielen. Wegen des Krieges in der Ukraine steigen die Weizenpreise stark an. Bei denen, die daraus unser täglich Brot backen, macht sich Verunsicherung breit. Genauso bei denen, die es verzehren. In Bozen hat es zuletzt Hamsterkäufe von Mehl, Nudeln und anderen haltbaren Getreide-Produkten gegeben. “Die Nachfrage steigt auch bei uns”, berichtet Rudolf von Berg von der Meraner Mühle. Rund 38.000 Tonnen Getreide werden dort im Jahr verarbeitet. Das Korn stammt größtenteils aus Italien, Deutschland, Österreich und Ungarn. Nur ein Hundertstel kommt aus Südtirol.   

Noch vor 100 Jahren wurde in Südtirol mehr Getreide angebaut, als im Land gebraucht wurde. Insbesondere im Vinschgau, der nicht umsonst als “Kornkammer Tirols” galt. Das Getreide, das dort unter idealsten Bedingungen wachsen konnte, wurde exportiert – bis ins Englische Königshaus und in den Vatikan. Kann das, was war, wieder werden? Theoretisch wäre es möglich, dass Südtirol beim Getreide (wieder) zum Selbstversorger wird, bestätigt Manuel Pramsohler vom Versuchszentrum Laimburg. Aber realistisch ist es kaum. “Was aktuell passiert, rüttelt wach”, findet indes ein nachdenklich wirkender Landesrat Arnold Schuler.

 

Apfel statt Korn

 

Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 verbraucht ein Deutscher im Jahr 114,2 Kilogramm Getreide. Um dieses anzubauen, ist eine Fläche von knapp 295 Quadratmetern nötig. Hochgerechnet auf Südtirol bräuchte es bei ca. 535.000 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2020) rund 15.800 Hektar, um die Versorgung mit Getreide komplett autark zu gestalten. Manuel Pramsohler, der sich am Versuchszentrum Laimburg um den Bereich Acker- und Kräuteranbau kümmert, hat einen ähnlichen Flächenbedarf berechnet. Diese Flächen gibt es. Man bedenke nur, dass das heimische Apfelanbaugebiet 18.400 Hektar groß ist. Und noch im vorigen Jahrhundert wurde in Südtirol deutlich mehr Getreide angebaut. “Wollen wir uns selbst mit Getreide versorgen, müssten wieder dorthin zurück, wo wir schon einmal waren”, nickt Pramsohler.

 

An der historischen Entwicklung der Ackerflächen, die in Südtirol für Getreide verwendet werden, lässt sich die fortschreitende Industrialisierung, Technisierung und Weltmarktorientierung der heimischen Landwirtschaft hervorragend ablesen. Im Jahr 1900 gab es landesweit fast 30.000 Hektar Getreideanbaufläche. 1929 und auch in den Nachkriegsjahren der 1950er waren es noch über 20.000 Hektar. Dann begann der Wandel. 1970 wurde auf nur mehr gut 6.000 Hektar Getreide angebaut – zugleich gab es auf knapp 5.500 Hektar Obstbau. 1982 hatte das Obst bzw. der Apfel längst die Überhand gewonnen: Rund 2.000 Hektar Getreide standen 16.400 Hektar Obst gegenüber. Im Jahr 2000 waren ganze 243 Hektar Getreideanbaufläche übrig, die bis 2010 auf geschätzte 200 Hektar weiter zurückgingen.

“Früher waren die meisten Höfe Selbstversorger und haben alle selbst Getreide angebaut. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert”, erklärt Pramsohler. Andere Arten der Landnutzung wurden lukrativer. Außerdem kamen in der Landwirtschaft immer mehr Maschinen zum Einsatz – “in Steilhängen, wo Getreide früher in Handarbeit angebaut und geerntet wurde, ist eine maschinelle Bearbeitung nicht mehr möglich”.

Im Bericht zur Landwirtschaftszählung aus dem Jahr 2000 heißt es: Zum Großteil wurde die Ackerfläche, die “in den letzten 30 Jahren und insbesondere im letzten Jahrzehnt” verschwunden ist, in Dauerwiesen umgewandelt oder “in Gebieten mit günstigen klimatischen Bedingungen (…) durch Obstanlagen ersetzt”. Aus einem nachvollziehbaren Grund: Mit Äpfeln lässt sich mehr verdienen. “Im Vinschgau hat die Bewässerungstechnik den Obstbau möglich gemacht und viele Landwirte sind umgestiegen, da der Apfel viel mehr Erlös pro Fläche bedeutet”, sagt Pramsohler. Der Getreidepreis ist vergleichsweise niedrig, der Ertrag um ein Vielfaches höher: “Während in Südtirol etwa bei Roggen drei bis vier Tonnen pro Hektar im Jahr geerntet werden, sind es bei Äpfeln knapp 50 Tonnen.”

Zugleich aber weist der Fachmann darauf hin, dass für den Getreideanbau ungleich weniger Arbeits- und Ressourcenaufwand nötig ist.

 

Genügsam, aber nicht konkurrenzfähig

 

Heute wird in Südtirol vor allem Roggen und Dinkel angebaut. “Diese beiden Getreidearten sind recht widerstandsfähig und eignen sich gut für typische Südtiroler Produkte”, sagt Pramsohler. Zusätzlich wächst Weizen, Gerste und etwas Hafer sowie Mais für Polenta. Jede Getreideart braucht unterschiedliche Voraussetzungen, betont Pramsohler. Winterroggen, der zwischen Mitte September und Mitte Oktober ausgesät wird, wächst recht gut auf mageren Böden und auf bis zu 1.500 Metern Meereshöhe. Winterweizen kann hingegen auf 800 bis 900 Metern ideal gedeihen und braucht Böden, die tiefgründig gut mit Nährstoffen versorgt sind. Neben geeigneter Höhenlage und Bodenbeschaffenheit muss die Fläche maschinell bearbeitbar sein, um für den Getreideanbau genutzt werden zu können. “Die Bodenvorbereitung, die Aussaat und auch die Ernte wird heutzutage mit Maschinen gemacht – das geht zum Beispiel nicht, wenn die Fläche zu steil ist”, erklärt Pramsohler.

Das Saatgut für den heimischen Getreideanbau stammt vor allem aus Deutschland und Österreich. In der Laimburg lagern – tiefgefroren bei minus 20 Grad Celsius – zwar lokale historische Sorten, die in einer Daten- und Genbank. “Aber diese Landsorten sind an die Bedingungen der heutigen Landwirtschaft nicht so gut angepasst als dass sie großflächig ausgesät werden könnten”, meint Pramsohler. Sind die Körner einmal im Boden, brauchen vor allem Roggen und Dinkel recht wenig. “Bewässerung ist nicht üblich – und damit fällt ein zentraler Faktor aus dem Obst- und Weinbau weg –, genauso wenig der Einsatz von Dünger”, zeigt Pramsohler auf. Auch Pflanzenschutzmittel braucht es in Südtirol keine: “Bei uns ist der Getreideanbau heute eine Nische, deshalb gibt es kaum Schädlinge und Krankheiten. In großen Anbaugebieten in Deutschland und Österreich ist es durchaus üblich, dass Fungizide und bei Bedarf Insektizide eingesetzt werden.”

Sein Fazit: Für den Nebenerwerb eignet sich der Getreideanbau allemal. Davon leben kann trotz aktuell fallender Obst- und steigender Getreidepreise kein Landwirt. Auch deshalb ist es weder für Pramsohler noch für Landesrat Schuler realistisch, dass Südtirol zum Selbstversorger beim Getreide wird.

 

Eine Kostenerhebung der Laimburg hat für den Getreideanbau einen mittleren Deckungsbeitrag von 2.800 Euro pro Hektar ergeben. Diese Summe bleibt dem Landwirt nach Abzug der variablen Kosten vom Umsatz übrig, um die Fixkosten zu decken. “Das ist ein Fünftel von dem, was im Obst- oder Weinbau erzielt werden kann”, zeigt Pramsohler auf. “Früher baute jeder Bauer an seinem Hof Getreide zum Eigengebrauch an. Heute kannst du dir das nicht mehr leisten”, meint Landwirtschaftslandesrat Arnold Schuler. Er hat selbst Berechnungen angestellt: “Würde ein durchschnittlicher Südtiroler Obstbau-Betrieb mit 2,5 Hektar Fläche Getreide zu Weltmarktpreisen anbauen, würde er im Jahr 2.000 bis 3.000 Euro Umsatz pro Hektar machen – ewig weit weg von jeglicher Wirtschaftlichkeit.”

 

Umdenken ja – und umlenken?

 

Schuler ist hörbar besorgt. “Wir spüren jetzt die Folgen der Globalisierung und der ethisch fragwürdigen Auslagerung von Produktionsprozessen in Länder, die auf großen Flächen billig produzieren können und auf deren Kosten wir seit Jahrzehnten leben.” In seiner Funktion als Landesrat war er vorige Woche für ein Treffen mit Landwirtschaftsminister Stefano Patuanelli in Rom. “Aufgrund des Ukraine-Krieges und der Teuerungen bei Energie, Lebens- und Futtermittel findet gerade ein unglaubliches Umdenken statt. Nicht nur in Italien, das 70 Prozent des importierten Getreides aus Dritt- und Schwellenländern bezieht, sondern auch auf europäischer Ebene.” Wohin dieses Umdenken führen könnte, zeichnet sich bereits ab: Deutschland gibt für dieses Jahr eine Million Hektar an zusätzlicher Fläche frei, um sie für Tierfutter zu verwenden. “Bis gestern war allerorts vom Green Deal die Rede – und jetzt soll die Landwirtschaft plötzlich auf Teufel komm’ raus produzieren”, meint Schuler achselzuckend. “Wenn der Konflikt weiter anhält und die Bauern in der Ukraine heuer keine Aussaaten machen können, wird sich die Versorgung weiter verschlechtern.” In Österreich fordern Bauernvertreter einen Abkehr vom Green Deal: Jeder Quadratmeter Boden werde gebraucht. Versorgungssicherheit habe eine höhere Priorität als Klimaschutz.

Sorgen um die Ernährungssicherung plagen derzeit auch die Hauptkunden der Meraner Mühle in Lana. “Die Bäckereien fragen nach, ob wir Liefersicherheit garantieren können”, berichtet Müller Rudolf von Berg. Er kann Entwarnung geben: Dank langjähriger und guter Lieferantenbeziehungen lägen “derzeit keine Einschränkungen in unserem Angebot vor”. Seine Familie führt seit 1985 die Meraner Mühle in Lana. Seit 2011 ist der Betrieb Teil des Projekts “Regiokorn”.

 

Das mit Mitteln aus dem Europäischen Sonderfonds (ESF) finanzierte Projekt war auf zwei Jahre angelegt und hatte zum Ziel: “den Getreideanbau in Südtirol und letztlich die regionale Wertschöpfung im Bereich Getreide fördern und möglichst langfristig sichern”. Im Netzwerk sind inzwischen 58 Landwirte, die im Pustertal, Antholzer Tal, Eisacktal, Vinschgau und am Tschögglberg Roggen, Dinkel und Gerste anbauen. Das Getreide wird an die Meraner Mühle geliefert, die es zum Großteil zu Mehl für 19 Bäckereien mahlt. Seit 2021 gibt es eine Kooperation mit der Gruppe Südtiroler Gasthaus, die das Regiokorn verstärkt in ihre Küchen und auf die Teller der Gäste bringen will. “Je nach Erntejahr ergibt sich eine Menge von ca. 350 Tonnen Regiokorn”, rechnet von Berg vor, “und daraus kann man immerhin an die vier Millionen Mini-Paarln backen”.

 

Weiter in der Nische

 

Die Regiokorn-Flächen sind zwischen 2011 und 2021 von 70 auf 93 Hektar angewachsen. “Dadurch ist die Gesamtfläche, auf der in Südtirol Getreide angebaut wird, auf aktuell gut 300 Hektar gestiegen”, weiß Manuel Pramsohler. Genauere Zahlen wird die Landwirtschaftszählung von 2020 liefern, deren Daten im heurigen Juni vorliegen werden. Fest steht hingegen, dass sich das Projekt nach Ablauf der ESF-Finanzierung alleine trägt. “Das ist bemerkenswert, weil sich Initiativen nach dem Finanzierungsstopp oft verlaufen”, merkt Pramsohler an. Landesrat Schuler macht sich dennoch keine Illusionen: “Regiokorn” funktioniere, weil es ein Projekt in überschaubaren Dimensionen sei und eine Nische bediene – “und nur solange es öffentliche Unterstützung und höhere Preise gibt”. Tatsächlich erhalten die Regiokorn-Bauern 75 Cent pro Kilogramm Roggen und Dinkel, Bio-Produzenten 1 Euro pro Kilogramm. Bei stabiler Weltlage war das das Drei- bis Vierfache des Weltmarktpreises. Aktuell ist es trotz gestiegener Preise immer noch etwa doppelt so viel.

Öffentliche Mittel erhält das Regiokorn-Projekt direkt keine mehr. Unterstützung gibt es in Form von Förderungen beim Kauf von Mähdreschern zur Getreideernte in der Höhe von bis zu 500.000 Euro – und durch die IDM, die das Projekt seit Beginn an koordiniert und kleinere Kampagnen zur Vermarktung der Regiokorn-Produkte finanziell übernimmt. Auch die Laimburg ist in das Projekt involviert, bietet Beratung zu Anbau und Saatgut.

 

Wie sich der Getreideanbau in Südtirol in Zukunft entwickelt, “hängt wohl vor allem vom Konsumenten ab”, erwartet sich Manuel Pramsohler. “Bei entsprechender Nachfrage ist das Potenzial zum weiter Wachsen sicher da.” Realistischer sei es auf kurze Sicht, dass Getreide in Fruchtfolge angebaut wird, zum Beispiel auf einer Obstbau-Fläche, wenn sie ein Jahr lang brach liegt. Oder als Mischkultur in Obst- und Weinanlagen. Viel mehr wird die Südtiroler Landwirtschaft unmittelbar gegen die unsichere Versorgungslage und die steigenden Preise nicht tun können. Der aktuelle Konflikt im Osten Europas zeigt schonungslos auf, wie abhängig gerade eine kleine Region wie Südtirol von weltweiten Vorgängen ist – und zugleich, wie machtlos.