„Leben trotz Geschichte“
Zuallererst mein von ganzem Herzen kommender Dank an Christine Lasta vom Stadttheater Bruneck und an Cornelia Brugger vom Kulturverein Kulto, dass ihr, mit eurer ganzen Energie, diesen Abend möglich gemacht habt! —
Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, während nicht so weit von hier Bomben fallen und Menschen dürsten, hungern, frieren, flüchten und sterben. Ihrer Würde beraubt werden. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, aber auch einer unbestimmten Schuld, als ob man nicht schon längst hätte mehr tun können.
Scheinbar objektive Geschichtsdeutungen reichen nicht hin, um die gegenwärtige Mühsal und Pein von Ukrainern und Ukrainerinnen angemessen zu verstehen. Wir sehen gerade, wie Krieg gemacht wird, wie Töten funktioniert, und fühlen uns hilflos.
Und: Niemals haben Staaten aus echten historischen Gründen Krieg begonnen. Das wissen wir seit dem Dreißigjährigen Krieg, seit Vietnam, seit Irak, seit Ruanda und Syrien – kein historisches Argument kann rechtfertigen, was derzeit im östlichen Europa geschieht.
Geschichte dient oftmals als Staffage, als billige Kulisse, als bequemer Vorwand, als Zuschreibung, Diskurs und Narrativ. Wenn ich hier also als HIstOriker was sage, spreche ich immer auch als HYstEriker, denn Historie ist mehr Hysterie, als ihr lieb ist. Sie liefert Zuschreibungen.
Wer des russischen Präsidenten Putins Essay Über die Einheit von Russen und Ukrainern – publiziert im Sommer '21 – auch nur überflogen hat, war sich sofort im Klaren, ein Gebräu vor sich zu haben – ein Gebräu aus echtem historischen Material und falschen Schlussfolgerungen. Aus Zuschreibungen.
Das ist Ideologie – also falsches Bewusstsein. Nun überführt in blutiges militärisches und weitgehend männliches Handwerk, d.h. Aggression, Entheimatung, Verletzung, Tötung.
Tolstois Hauptwerk Krieg und Frieden (Woina i mir), 1869 in Moskau erschienen, müsste heute in Moskau wohl umbenannt werden – gemäß dem Neusprech des Regimes in Special Military Operation and Peace.
Es geht also im Autoritären und Totalitären immer auch um Sprache, um Sprachhoheit und Definitionsmacht. Unsere Aufgabe ist es daher, dieser vergifteten Lingua quarti imperii entgegenzutreten. Victor Klemperer, der NS-Verfolgte, hat es bereits vorgemacht. Heute sind es die sozialen Medien und die staatlichen Kanäle Russlands und ihre Satelliten, Russia Today und Sputnik etwa, aus denen ein Klemperer schöpfen müsste.
Es geht also im Autoritären und Totalitären immer auch um Sprache, um Sprachhoheit und Definitionsmacht. Unsere Aufgabe ist es daher, dieser vergifteten Lingua quarti imperii entgegenzutreten.
Aber nicht die russischen Menschen, soweit sie der Lüge nicht verfallen sind oder an sie glauben: Hoch leben die Widerständigen am Puschkin-Platz, die resilienten Intellektuellen mit ihrem Brief an den autoritären Führer, die junge Frau mit dem weißen Schild, die mutigen Menschen in den Zellen des Regimes! Gewiss lieben sie Russland, aber sie hassen den Staat und seine Vertreter.
Im Kern wollte die von Putin bemühte Herrschafts-Genealogie die Ukraine leugnen, ihre politische Legitimität untergraben, ihre Staatlichkeit in Zweifel ziehen. Christa Wolf lässt die trojanische Seherin Kassandra fragen: „Wann der Krieg beginnt, wissen wir, aber wann beginnt der Vorkrieg?“ Wolfs kritische Verarbeitung von Homers Trojanischem Krieg ist überzeitlich und zielt auf alle Gewalt und ihre sprachlichen Vorstufen.
Eine solche Vorstufe ist die Ideologie des dreieinigen Russlands, die der Autokrat im Kreml bemüht hat. Moskau als 3. oder 4. Rom. Berufen zu euro-asiatischer Herrschaft. Zu panslawischer Führerschaft. Großrussen (russische Föderation), Kleinrussen (Ukraine) und Belarussen unter Moskaus Leitstern.
Dem ist zu entgegnen: Die Kiewer Rus, das Kiewer Reich (Kiew – Minsk – Moskau), dann von den Mongolen überrollt, war eigentlich 1000 Jahre alt, dies sei dem Moskau-Zentrismus entgegengehalten. Ihr Dreizack, das Siegel des Kiewer Großfürsten Jaroslaw, ist übrigens das heutige Staatsemblem der Ukraine. Russland kommt später.
Ukraine als Staat hingegen ist, wie wir wissen, jung, und – wenn man so will – überhaupt erst mit dem überwältigenden Referendum vom Dezember 1991 aus den Trümmern des Sowjetimperiums erstanden.
Aber dieses Projekt bestand als nationalstaatliche Idee, zugleich als umkämpfter Raum seit dem 19. Jahrhundert. Es ist ein Raum der Leiden und des Kriegs – mit dem Ersten Weltkrieg gegen die aggressiven Mittelmächte (als im März 1915 die Festung Przemyśl fiel, Österreich-Ungarns Stalingrad, gingen 110.000 k.k. Soldaten in Gefangenschaft, darunter Hunderte und Aberhunderte Tiroler, u.a. mein Sandner Opa). Dann kam der polnisch-ukrainische Krieg um Ostgalizien 1918/19, der von Stalin herbeigeführte Holodomor, also die Hungersnot der 1930er Jahre mit ihren Millionen ukrainischen Toten, schließlich der genozidale Überfall NS-Deutschlands 1941, dem zwar 1945 eine echte Befreiung folgte, aber mit anschließender sowjetisch-russischer Sicherheitsverwahrung, und nun 2022.
Doch vergessen wir über alledem nicht: Ukraine war und ist auch ein multiethnischer Raum, Südtirol freilich in seinem Kleinklein nicht ganz unvertraut. Wer sich für ethnisches Labelling interessiert, der muss nur auf uns schauen – oder Rogers Brubakers Ethnicity without groups lesen. Die tribale Versuchung benötigt eben keine Individuen, nur Gruppen, Stämme, Clans.
Doch vergessen wir über alledem nicht: Ukraine war und ist auch ein multiethnischer Raum, Südtirol freilich in seinem Kleinklein nicht ganz unvertraut.
Gerade wir sollten also wissen, wie brüchig identitäre Zuschreibungen sind – in der Ukraine wird russisch und ukrainisch gesprochen und gedacht. Aber und soweit ich das überblicken kann – die russische Drohung und nunmehrige Aggression (die bereits 2014 begann) haben zu einem sekundären Nation-Building, einer Nationswerdung fast wider Willen geführt. Der Euromaidan 2013 war ihr Vorzeichen. Aber natürlich auch ein nationalistisch unterfütterter Wertezusammenhang, auch das sollten wir nicht verschweigen, wenn ich mir die Stepan-Bandera-Verehrung anschaue, des früheren NS-Kollaborateurs und Antisemiten, Anführer der NS-affinen Ukrainischen Aufstands-Armee, und vom KGB 1959 in München meuchlings Ermordeten. Auch dies ein Muster übrigens: Politkowskaja, Litwinenko, Nemzow …
Nie war Blau-gelb populärer in der Welt als jetzt. Wolodymyr Selenskyj, ein früherer Kabarettist, in Russland so populär wie in der Ukraine und auf dem Globus, er spricht eigentlich stets Words of Wisdom, kein blutrünstiges Gelaber. Diener des Volkes, Sluha naroda, so seine ehemalige Sendung, jetzt wirklicher Diener seines Volkes. Er fährt übrigens die Bandera-Verehrung, vom früheren Präs. Juschtschenko 2010 mit Denkmälern und Straßenbenennungen forciert, deutlich zurück – Selenskyj, dessen jüdischer Großvater gegen die Nazis kämpfte und dessen Vater und drei Brüder im Holocaust ermordet wurden. Wie kann dieser Mann Nazi sein. Auf Russisch – seiner Muttersprache – sagte er kurz vor dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 per TV-Ansprache, gerichtet an die östlichen Nachbarn: „Man sagt Ihnen, wir [Ukrainer] seien Nazis. Aber kann ein Volk, das mehr als acht Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, den Nationalsozialismus unterstützen?“
Drei Hoffnungen begleiten mich, ganz unbestimmt:
- Die Kinder – Dostojewski lässt in den Brüdern Karamasow seinen Protagonisten die Frage stellen: „Warum auch noch die Kinder“? Er lässt sie unbeantwortet, auch wir haben die Antwort nicht. Aber sie sind es, mit ihren Kuscheltieren auf der Flucht – ihr treuester Verbündeter, ein Hase, eine Schlange, ein Bär… Und sie gemahnen uns: Krieg ist eine Veranstaltung von uns Erwachsenen, uns Männern zumal.
- Die Musiker:innen in den ukrainischen Schutzräumen, die Erzähler:innen in den Bunkern, die Sanitäter:innen überall.
- Nadya/Nadeschda Tolokonnikova von Pussy Riots, der großen Anti-Putin- und Anti-Kyrill I.-Band (unvergesslich ihre Aktion 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale), sie positionierte sich unmissverständlich für die Ukraine (Putin killt Russland, nicht nur die Ukraine) und versteigerte vor wenigen Tagen in Russland einen Non Fungible Token mit der Ukraineflagge (der unglaubliche Erlös von 7 Mill. Dollar geht mit der Initiative Come back alive an die ukrainischen Streitkräfte).
Nicht als Historiker, nein, einfach als Bürger sage ich zum Schluss: Es ist ein „Leben trotz Geschichte“ – das berühmte Wort ist vom polnischen Philosophen Leszek Kolakowski, das er den sowjetischen Zumutungen entgegenhielt. Es ist das Porträt einer Hoffnung, es ist ein großes trotzdem.
Ganz so wie auch dieser wundervolle Abend!
Ein sprachliches Dokument!
Ein sprachliches Dokument!
Dem Menschen genauso und vorrangig gerecht wie der Geschichte als solcher selbst. Emphatisch.
Klar betonend, dass immer von Menschen, oft einzelnen, manchmal nur Einem (und dessen oft schwachen und kleinen Bedürfnissen) gemacht.
Wunderbar, danke, Hannes!
Wunderbar, danke, Hannes!
Ein Monument, würde ich sagen
Ein Monument, würde ich sagen, aufgebaut auf solides Wissen und auf meisterhafte gedankliche Verarbeitung! Es tut gut, Derartiges lesen zu dürfen.
Ein großer Dank dem Autor und den Veranstalterinnen des Brunecker Abends.
Ein wenig Nachhilfe ist oft
Ein wenig Nachhilfe ist oft sehr hilfreich und dient der Orientierung. Danke.
Sehr gut.
Sehr gut.