Wirtschaft | Gastkommentar

Ein Stich ins Wespennest

Wie das Land mit seiner Lohn- und Wirtschaftspolitik die sozialen Kontraste und Defizite befeuert und die Gewerkschaften gelähmt zusehen.
Soldi, Provincia, Comuni
Foto: USP
Die Salto-Beiträge „Osterhase für die Direktoren“ und „Prämien fürs Wegschauen“ von Christoph Franceschini sind ein Stich ins Wespennest. Zuerst folgte eine namentlich gepostete Erklärung von Antonio Lampis, dem Sprecher der DIRAP (Gewerkschaft der Führungskräfte) und die von Salto kolportierte Pressemitteilung „Direttori, aumenti motivati“ mit aufschlussreichen Leserkommentaren. Daraufhin sehen sich die Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten des Landes genötigt, ein kaum mehr als empörtes Lebenszeichen von sich zu geben.
 
Diese Kontroverse steht stellvertretend für einen seit den Zehnerjahren in Südtirol um sich greifenden wirtschaftlichen Strategiewandel. Seither arbeitet die Landesregierung am Aufbau einer hierarchischen Dienst- und Verwaltungsordnung zusammen mit einer invasiven Investitionspolitik. Die Zielvorgabe ist das, was heute als „Singularitätsmarke Südtirol“ bekannt ist: Transformation einer ganzen Region samt seiner Bevölkerung in ein auf Aufmerksamkeit getrimmtes Produkt mit einer ziemlich einseitigen Wertschöpfung. Die emotionalen Gütesiegel sind Einzigartigkeit, Originalität, Attraktivität, und mit der Loyalitätsbindung der Führungskräfte durch finanzielle Belohnung schafft man das Werkzeug für Verbundenheit und Effizienz von oben nach unten.
 
Das erklärt, warum ganz oben die Fragen des Dienstrechts samt Besoldung kein Gegenstand ergebnisoffener Verhandlungen, sondern das einer raschen komplizenhaften Einigung sind. Die Verhandler vertreten keine Gegenpositionen, das demonstrieren Alexander Steiner und Antonio Lampis mit ihrem Habitus von Unantastbaren in einer abgehobenen Kaste. Es geht um Interessensgemeinschaft, Zielorientierung und angeblich um meritorische Leistungsbewertung. Die Begünstigten sind das Führungspersonal des Landes, dem bereits 2018 rückwirkend bis 2014 eine Gehaltserhöhung von 26 Prozent zugestanden wurde, die nach Einspruch des Rechnungshofes rechtlich saniert werden musste. Die Vorzugsbehandlung wurde 2019 fortgeführt und steht jetzt 2023 vor einer Neuauflage, mit dem Ergebnis einer Lohnerhöhung bis zu 40 Prozent seit 2015 und Jahreseinkommen bis über 200.000 Euro.
 
 
 
 
Ganz anders verlaufen die Vertragsverhandlungen für das Personal der unteren und mittleren Bereiche in der öffentlichen Verwaltung, in Schule, Sozialarbeit und Pflegeberufen. Mit den Gewerkschaften AGB, CISL und ASGB geht es um den BÜKV (Bereichsübergreifender Kollektivvertrag) für das Fußvolk, und die werden seit 2010 systematisch ausgebremst. Dazu braucht es allerdings zwei Beteiligte. Verhandelt wird da zwar auch, aber mit mehrjähriger Verspätung und nur zum Schein, denn der Betrag für den finanziellen Teil wird vorher von der Landesregierung auf Minimalquote festgelegt, und zwar konsequent unter der Inflationsrate, was trotz geringfügiger Anpassungen in zehn Jahren einen Reallohnverlust von über 20 Prozent ausmacht. Und beim Lehrpersonal ist jenes der staatlichen Schulen dem Land nach wie vor weniger wert als das der Berufsschulen. Ein Paradox der Klarheit: Lehrkräfte, die 2020 aus der Gewerkschaft ausgetreten sind, hatten mehr auf dem monatlichen Gehaltszettel als mit dem Inflationsausgleich, nämlich 20 Euro netto.
 
 
Keine Firma und kein Unternehmen zahlen heute so schlecht wie das Land sein öffentliches Personal.
 
 
Gelegentlich werden Vergleiche bemüht, um die Lohnunterschiede zwischen oben und unten mit dem ungleichen Arbeitseinsatz und Risiko („ ... mit einem Fuß im Knast“) zu rechtfertigen. Mehrleistung und Führungsqualität muss honoriert werden, das bestreitet niemand. Was sich in Südtirol aber durchgesetzt hat, sind Statushierarchie und politische Loyalitätspflicht in Leitungsfunktionen, während die mittleren und niederen Positionen, sogar solche mit akademischer Qualifikation, zu Subsistenzjobs mit Billiglöhnen absinken. Hier verflüchtigen sich sogar die oft angeführten Vorteile des öffentlichen Dienstes (Arbeitsplatzsicherheit, Familienfreundlichkeit u.a.) im Verhältnis zu den Entwicklungen in der Privatwirtschaft, was sich zudem auch beim Gehaltsniveau bemerkbar macht. Keine Firma und kein Unternehmen zahlen heute so schlecht wie das Land sein öffentliches Personal. Die Daten dazu lassen sich über die Astat-Erhebungen 2019 und jene des WIFO nachliefern.
 
Wie sich diese Entkoppelung von Lohn und Anerkennung vom gesellschaftlichen Nutzen der Funktionen und Dienstleistungen auswirkt, zeigt sich in der Sanität und Pflege und bei Bildung und Schule. Hier stehen Professionalität und Schulentwicklung seit 15 Jahren still. Die Schulsysteme laufen seit jeher getrennt nach deutschen und italienischen Gepflogenheiten, anstatt Ressourcen für eine gemeinsame Erziehungs- und Bildungsarbeit zu entwickeln. Die aktuelle Debatte um das Trennende der Unterrichtssprache enttarnt ein systematisches Beschweigen von Parallelgesellschaften bei Sprachgruppe, Migration, Schule, Kultur und Sozialstruktur. Mit zwei Bildungsdirektionen ohne Reformauftrag bleiben das Gerede von partizipativer und inklusiver Schule ein pädagogisches Placebo und berufliche Chancengleichheit ein leeres Mantra.
 
 
Die Gewerkschaften sind mangelhaft synchronisiert mit der politischen Führung des Landes und nehmen mit den vier getrennten Organisationen eine geschwächte Repräsentanz in Kauf.
 
 
Seit einiger Zeit kommen von den Gewerkschaften Klagen der Hilflosigkeit, nachdem man sich jahrelang zur sehr einseitigen Wohlstandsproduktion der Landespolitik ausgeschwiegen hat. Die Gewerkschaften sind mangelhaft synchronisiert mit der politischen Führung des Landes und nehmen mit den vier getrennten Organisationen eine geschwächte Repräsentanz in Kauf. Unter dem Druck von Kompromissbereitschaft lassen sie sich auf Spielregeln der Erpressung ein: nehmen oder lassen! In ihrem Versagen, das ganze System der politischen und wirtschaftlichen Disparitäten aufzuzeigen, sind sie mitverantwortlich am progressiven Auseinanderklaffen der Gesellschaft. Das heißt, in vielen öffentlichen Bereichen mit niederer, mittlerer wie akademischer Qualifikation haben wir in Südtirol Lohnverhältnisse im Billiglohnbereich. Dazu tragen Führungskräfte wie Alexander Steiner, Antonio Lampis überaus erfolgreich bei. Sie sind treue Diener ihres Herrn Arno Kompatscher, der damit einer veralteten Wachstums- und Planungsfantasie nachhängt und das Prinzip der Lohngerechtigkeit schamlos ignoriert.
 
Der Fortschrittsimperativ des Landes a la Kompatscher lautet: bei den Löhnen im mittleren und unteren Segment sparen und das finanzielle Potential in Innovation, Exklusivität, Singularität und in Institutionen wie die IDM, in Straßenbauten, Tunnels, Olympiade, Gewerbezonen, Liftanlagen und alpinen Bergtourismus investieren. Und jetzt wird das Stadion für den FC Südtirol Serie A-tauglich aufgerüstet werden, während sein Bildungslandesrat wie ein unbedarfter Geizhals dasteht, der den Stillstand in Bildung und Schule mit Hilflosigkeit schmücken darf.
 
 
Es ist eine Geschichte der Propaganda und Täuschung.
 
 
Das sind die volkswirtschaftlichen Praktiken entlang der Richtschnur einer Bereicherungswirtschaft. Und es entsteht der Eindruck, dass die Führungsspitzen der Gewerkschaften die Verschleierung gesellschaftlicher Disparitäten mit einem offenen Gewinner-Verlierer-Gefälle zwischen einer expansiven privatwirtschaftlichen Ökonomie gegenüber den Lohnabhängigen und Beschäftigten der öffentlichen Dienste nicht umfassend ermessen, sich jedenfalls mit dem Wachstumsversprechen der Vergangenheit abspeisen lassen. Da klingt auch die ganz aktuelle Zusage des Landeshauptmanns, 100 Millionen für die Nachbesserung der Inflation aufzubringen, nach einer Gute Nacht Geschichte.
 
Das alles passt durchaus in die Märchenerzählung vom Land als dem „begehrtesten Lebensraum Europas“. Es ist eine Geschichte der Propaganda und Täuschung. Das angelaufene Wahljahr hätte das Potential, diese Prosa umzuschreiben.