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„Vagabundentum zwischen Welten“

Heute vor 76 Jahren kam N. C. Kaser zur Welt. Anlass für ein Gespräch über Grenzdasein, Sprachen und Übersetzungen mit dem angehenden Kaser-Preisträger Fabio Pusterla.
Fabio Pusterla
Foto: Nina Pusterla
Es dauert noch ein wenig, bis der Lyriker den 18. N. C. Kaser Lyrikpreis am 30. Mai, inklusive 10.000 Euro Preisgeld und Laudatio von Michael Krüger entgegen nehmen wird. Für den Preis, der seit 1988, also zehn Jahre nach dem verfrühten Tod Kasers, im Zweijahres-Rhythmus vergeben wird, hatte Krüger den italienisch-schweizerischen Lyriker nominiert. Ein Statement Krügers zur Vergabe des Preises an Pusterla finden Sie am Ende des Artikels. Für den 1957 in Mendrisio, an der Grenze zwischen Tessin und Lombardei auf schweizer Seite geborenen Poeten ist es nicht die erste Auszeichnung, konnte er doch bereits ’86 für sein im Vorjahr erschienenes poetisches Debüt „Concessione all’inverno“ den Premio Montale ergattern. Es folgten unter anderem der Premio Prezzolini und der Premio Metauro, der Gottfried Keller-Preis oder aber auch der Vito Moretti Preis für sein erfreulicherweise noch nicht abgeschlossenes Lebenswerk. Zuletzt, 2021, von ihm in deutscher Übersetzung erschienen: „In der vorläufigen Ruhe des Flugs / Nella quiete provvisoria del volo“, als zweisprachige Ausgabe mit Übersetzungen von Christoph Ferber im Limmat Verlag. Ein Gespräch in Übersetzung zu Übersetzungen, Literaturpreisen und Grenzgängertum mit einer Prise Kaser.
 
Salto.bz: Herr Pusterla, kennen Sie das Werk von N. C. Kaser?
 
Fabio Pusterla: Ich muss gestehen, nein, ich kannte ihn nicht. Als ich vom Preis erfahren habe, von dem ich zuvor auch nichts wusste, habe ich die Informationen gesucht, die ich online finden konnte und verspreche, Kaser in Zukunft zu lesen. Aber aktuell kenne ich ihn noch nicht.
 
Haben Sie vor Kaser, einen Autor der auch auf Südtiroler Dialekt Bezug nimmt, in deutscher Sprache zu lesen, wenngleich es nicht Ihre Muttersprache ist, oder würden Sie auf eine Übersetzung zurückgreifen?
 
Gerade Gedichte kann ich auf Deutsch lesen, auch wenn mir oft Vokabeln fehlen, aber insbesondere wenn dabei Dialekt eine Rolle spielt, wird die Sache komplizierter. Normalerweise versuche ich in solchen Fällen das Deutsche zu lesen, mit einem Auge auf eine Übersetzung. Dann kommt es auch auf den einzelnen Autor im speziellen an: Es gibt Autoren, die ich fast zur Gänze auf Deutsch verstehe und andere, bei denen das unausweichlich schwieriger ist.
 
 
Wie hoch ist für Sie die Barriere zwischen den Sprachgruppen, wenn es um Literaturpreise geht? Ein Preis wie der von Literatur Lana vergebene ist auch jenseits des Brenners recht bekannt, während der Premio Strega im selben Gebiet wenigen Menschen bekannt ist…
 
Sicherlich. Ich denke, dass diese Barriere was die Preise betrifft eher hoch ist. Jedes Sprachgebiet achtet da auf die seinen und es gibt wenige Preise, welche diese Grenze überwinden. Die Preise sind aber, wenn man alles gesammelt betrachtet, nur ein kleiner Teil der Kulturlandschaft.
Wenn ich an Schriftsteller und Gedichte an sich denke, dann würde ich sagen, dass die Barriere nicht so hoch ist. Mit etwas Aufmerksamkeit und Anstrengung kann man, vielleicht nicht im Detail, aber zu einem guten Teil darüber im Bilde sein, was in anderen europäischen Ländern passiert, zumindest in jenen, deren Sprachen einem nicht gänzlich unbekannt sind. Ich will damit sagen, dass ich mir damit schwer tue zu wissen, was in Sachen Lyrik in Ländern wie Ungarn passiert - weil das Ungarische eine gänzlich andere Sprache ist - während es was das Geschehen in Deutschland, Österreich, Spanien oder Portugal anbelangt, auf das Interesse des einzelnen Lesers ankommt.
Man muss auch sagen, dass Italien seit jeher ein großes Augenmerk auf die Übersetzung legt. Es wird viel übersetzt in Italien, was aus diesem Blickpunkt die Barrieren niedriger gestaltet.
 
Das erscheint mir, wenn ich ehrlich bin, wichtiger als ein Preis wie der „Strega“.
 
Sie sind mit „Tremalume“ auch für den allerersten Premio Strega Poesia nominiert. Würde Ihnen, gesetzt den Fall Sie würden auch diesen gewinnen, das mehr bedeuten als der N.C. Kaser Lyrikpreis, wenngleich dieser mit 10.000 Euro deutlich höher dotiert ist?
 
Das Geld ist da nicht der bestimmende Faktor, das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Zuallererst denke ich nicht, dass ich den Premio Strega Poesia gewinnen werde, aber dass der Premio Strega sich erstmals für Gedichte öffnet, ist wichtig. Er ist ein Preis mit großer Geschichte und großem Prestige in Italien.
Der Kaser-Preis hat mich sehr berührt, nicht so sehr wegen des finanziellen Aspekts, sondern wegen seiner speziellen Vergabe-Formel: Man bewirbt sich nicht, sondern wird von einem Dichter oder Intellektuellen als Kandidat nominiert, der den Preis erhalten hat oder der Jury nahe steht. Als ich erfahren habe, dass der deutsche Intellektuelle und Dichter Michael Krüger mich vorgeschlagen hat, hat mich das gefreut. Ich kenne Krügers Werk ein wenig und habe ihn einmal in der Schweiz getroffen, wo er mich tief beeindruckt hat, das war das Schöne und Wichtige für mich an diesem Preis. Auch, dass dieser Preis eine gewisse Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Welt für mich bedeutet, über Südtirol und die deutschsprachige Schweiz hinaus. Das erscheint mir, wenn ich ehrlich bin, wichtiger als ein Preis wie der „Strega“.
 
Was für Sie fast wie ein Anachronismus wirkt, ist vielleicht etwas weniger anachronistisch als es auf den ersten Blick erscheint.
 
Einige Ihrer jüngsten Gedichte lesend, fällt die intensive Naturbeobachtung ins Auge. Diese schien mir fast etwas Anachronistisches zu haben, da heutzutage in Gedichten weniger über Natur geschrieben wird und andere Themen vorherrschend sind…
 
Sie haben recht, aber ich glaube, dass mein Interesse weniger der Natur im traditionellen Sinn gilt, sondern den, nennen wir sie einmal „Kontakt-Zonen“. Es gilt dem, was einmal Natur war und dem, was die Welt ist in der wir heute leben. In meinem Fall wohne ich im Süden der Schweiz, unweit von Mailand. Ich lebe aber zu großem Teil, auch wenn mein Wohnort sehr angenehm und schön ist in der riesigen Metropolitanstadt der Po-Ebene, wie es Kartografen und Urbanisten seit 20 Jahren nennen. Als solche ist diese, nach London und Paris, die drittgrößte Megalopolis des europäischen Kontinents. In dieser Situation spiegelt sich auch das Leben von uns allen wider: Die Natur kann fortbestehen, ist aber unausweichlich nicht mehr die Natur von einst, sondern eine notgezwungen kontaminierte und bedrohte Natur. Ich denke das ist es, was mich interessiert. Was für Sie fast wie ein Anachronismus wirkt, ist vielleicht etwas weniger anachronistisch als es auf den ersten Blick erscheint.
 
Allgemeiner gesprochen denke ich, dass dieser Zustand des sich im Grunde nicht gänzlich zur einen noch zur anderen Welt, die uns aufnimmt zugehörig zu fühlen, uns helfen kann das aktuelle Menschsein besser zu verstehen.
 
Sie stammen aus der Schweiz, aus einem recht kleinen Ort namens Mendrisio. Kehren Sie von Zeit zu Zeit dorthin zurück und wie ist diese Erfahrung für Sie?
 
Ich bin genau an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien geboren worden und mein ganzes Leben spielte und spielt sich ein bisschen diesseits und ein bisschen jenseits dieser etwas seltsamen Grenze ab. Es gibt sie und es gibt sie nicht, für die Menschen, welche in dieser Gegend leben. Die Schweiz ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin und an dem ich arbeite, weil meine Lehrtätigkeit an Gymnasien und jetzt an der Universität sich fast immer in Lugano oder einer nördlicheren Stadt der Schweiz, wie Genf und Zürich, abgespielt hat. Gleichzeitig habe ich auch in Italien gearbeitet, in Pavia, wo ich die Universität besucht und vor kurzem auch gelehrt habe. Dort spielt sich auch die Mehrheit meiner literarischen Aktivität ab, in Zusammenarbeit mit italienischen Verlegern, vor allem mit einem aus Mailand. Ich fühle mich also in beiden Welten wohl und habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Ich wurde als Italiener geboren, wurde dann zum Schweizer und habe später beide Zugehörigkeiten erlangt.
Die Schweiz ist ein kleines, komplexes Land, das recht wohlhabend ist im Vergleich mit vielen italienischen und anderen europäischen Realitäten. Daher ist es schwer zu sagen, wie sich dieses Vagabundentum zwischen Welten abspielt. Ich denke, das ist für mich wie auch für andere, die sich an Staatsgrenzen ansiedeln, eine bestimmende Charakteristik. Allgemeiner gesprochen denke ich, dass dieser Zustand des sich im Grunde nicht gänzlich zur einen noch zur anderen Welt, die uns aufnimmt zugehörig zu fühlen, uns helfen kann das aktuelle Menschsein besser zu verstehen. Ich glaube das ist oft - nicht nur für mich, sondern für viele - von Desorientierung und dem Fehlen an Sicherheiten geprägt.
 
Ich denke, Sie und Kaser könnten in dieser Grenzerfahrung verbrüdert sein…
 
Ja, das wenige was ich über Kaser aufschnappen konnte, lässt mich ihm sehr nahe fühlen. Auch er lebte, zwischen Sprachen, Kulturen und auch ein wenig zwischen Grenzen.
 
Als letzte Frage: Werden Sie Gedichte nach Lana mitbringen oder beschränken Sie sich darauf, danke zu sagen, wenn Sie den Preis am 30. Mai erhalten werden?
 
Das kommt ein wenig auf die Organisatoren an und darauf, was in dieser Situation üblich ist und ob ich nun eine Dankesrede vorbereiten soll, was ich gerne mache. Aber wenn es die Möglichkeit gibt, einige Gedichte zu präsentieren dann mache ich das sehr gern. Dann gilt es zu verstehen, ob ich das auf Italienisch machen kann, was ich glaube. Mir würde es auch gefallen, das eine oder andere unveröffentlichte Gedicht vorzulesen, an dem ich arbeite, weil das immer eine gute Gelegenheit ist, diese zu erproben und zu sehen, ob sie funktionieren.
 
Michael Krüger zu Fabio Pusterla: „Die tintenblauen Zeitgenossen – wie Peter von Matt die Schriftsteller der vier Literaturen der Schweiz bezeichnet hat – haben eine Fülle von bedeutenden Dichtern in ihren Reihen. Bei den Dichtern der französischsprachigen Schweiz denkt man sofort an Philippe Jaccottet oder Gustave Roud, bei den deutschsprachigen an eine Kette von Alexander Xaver Gwerder bis zu Klaus Merz, bei den rätoromanischen fällt einem sofort Leta Samadeni ein – und bei den Dichtern, die Italienisch schreiben? Da gibt es seit zwanzig Jahren einen Dichter, der mit schöner künstlerischer Insistenz und Leidenschaft ein Werk geschaffen hat, das zu den besten unserer Zeit gehört: Fabio Pusterla. Die Vorstellung, dass der 1957 in Mendrisio geborene Dichter nun den Kaser-Preis in Lana erhält, hat mich von Anfang an fasziniert: Hier kann er mit seinen Kollegen die großen europäischen Fragen besprechen – über Minderheiten, Sprachenvielfalt, Dialekte, und er kann seine wunderbaren Gedichte vorstellen, in denen auf kürzestem Raum all diese Probleme zur Sprache kommen.“
 
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Simonetta Lucchi Mi., 19.04.2023 - 14:53

Kaser è stato un vero martire della politica locale, della scuola, della religione. Il suo pensiero era indissolubilmente legato alla realtà locale e illumina sulle attuali problematiche. Sicuramente nell'opera di Pusterla, che confesso, non conosco, questi aspetti emergeranno, leggerò le sue opere. Grazie

Mi., 19.04.2023 - 14:53 Permalink