Wirtschaft | Krisengeschüttelt

Was mit Demokratie gemeint ist

Demokratie ist eine Buchstabensuppe, solange wir sie nicht mit Werten und Inhalten aufladen und ihr dadurch eine Bedeutung für uns als Individuen und Gemeinschaft geben.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Historisch betrachtet waren soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung immer das Ergebnis harter Kämpfe. Dies hat die Historikerin Brigitte Pellar vor einer Woche auf der Tagung von AFB-EZA in der Brixner Cusanus-Akademie zur "Demokratie in Zeiten der Krise - Die Rolle der Arbeitnehmerorganisationen" unterstrichen. Nur durch zähes Ringen konnten Mitspracherechte in den Betrieben, kollektivvertragliche Lohnabkommen und soziale Schutzstandards errungen werden. Wirksame Konzepte der Verbindung von Mitbestimmung und sozialem Ausgleich sind im Laufe der Jahrhunderte immer wieder delegitimiert und zunichte gemacht worden. In der aktuellen Debatte um die sog. Krise der Demokratie, anschaulich nachvollziehbar an der schwindenden Wahlbeteiligung und dem Erfolg populistischer Kräfte, ist von einer klaren Definition der Demokratie auszugehen, um in dem verwässerten ordnungspolitischen Diskurs wieder Orientierung zu finden. Worte sind eine Buchstabensuppe solange wir sie nicht mit Inhalten füllen und aus einem wertebasierten Engagement heraus hierfür kohärente Handlungsgrundsätze entwickeln.

Besinnung auf die Wesenselemente der Demokratie

Die Demokratie ist ein Gesellschaftssystem, das durch vier Merkmale charakterisiert wird, deren Wirkungskraft wechselseitig eng verbunden ist: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Mitbestimmung. Mit diesen Wesenselementen bietet sie eine überzeugende Vision für die Menschen. Jedes davon kann positiv und negativ dekliniert werden. Es geht immer um die Ausgestaltung von Ordnungsrahmen für die Gemeinschaft und von Handlungsspielräumen für die Individuen. Freiheit z. B. beinhaltet Gleichheit, Entfaltungsfreiheit und Meinungsfreiheit, aber auch Schutz vor Übervorteilung, Gängelung und Unterjochung. Die individuelle Freiheit findet ihre Grenzen in der Freiheit der anderen und im Gemeinwohl. Rechtsstaatlichkeit beinhaltet den Schutz der individuellen Freiheitsrechte, ein klar definiertes System der Rechtssetzung und Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, aber auch Schutz vor willkürlicher Ausübung staatlicher Macht und Diskriminierung.

Markt der Regierungssysteme

Die Entwöhnung demokratischer Teilhabe, die neoliberale Delegitimierung von Staat und Solidaritätsprinzip, indoktrinierter Konsumhedonismus und Bildungsabstinenz stellen mit kräftiger Mithilfe der Medien das System Demokratie in Frage. In der öffentlichen Meinung ist eine Wahrnehmung der Beliebigkeit ordnungspolitischer Konzepte anzutreffen. Ähnlich einem Wettbewerb der Produkte auf dem Gütermarkt wird die Demokratie auf dem Markt der Regierungssysteme auf die gleiche Ebene gestellt wie autokratischer Despotismus und Diktatur. Selbst innerhalb des Warensortiments Demokratie werden unterschiedliche Ausstattungen angeboten, als seien es Modellvarianten derselben Marke. Es mutet so an, als würde es reichen, Wahlurnen aufzustellen, um dem Ergebnis der Auszählung der Stimmen demokratische Legitimität zu verleihen.

Qualität an den Inhalten messen

Entscheidend ist jedoch nicht, wie die Verpackung aussieht und wie das Label durch emotional aufgeladenes Marketing von den politischen Akteuren vermittelt wird. Die Menschen in Russland, in Polen, Ungarn oder in der Türkei, aber auch viele in den USA wissen schon, dass Wahlurnenchassis noch keine Garantie dafür sind, dass die Ergebnisse demokratische Willensäußerungen darstellen und die daraus hervorgehenden Regierungen gemeinwohlorientiert handeln werden. Es müssen freie Wahlen sein, an denen unterschiedliche politischen Kräfte im Wettstreit stehen, es dürfen Parteien und Kandidatinnen und Kandidaten nicht daran gehindert werden, sich der Wahl zu stellen. Die Medienlandschaft muss den Pluralismus der Meinungen und politischen Spektrums abbilden. Im Wahlkampf müssen für alle dieselben Regeln gelten. Die Meinungsbildung zur Wahl muss frei und unabhängig sein. Die Wählerinnen und Wähler dürfen nicht eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden. Die Wahl muss geheim sein und die Auszählung der Stimmen korrekt erfolgen. Wir tun gut daran, dieses Wissen mit den Menschen in diesen Ländern zu teilen, um sie in der Überzeugung zu bestärken, dass sie ein Recht auf eine Freiheitsordnung haben, die ihnen diese demokratischen Rechte zusichert. Wir müssen wachsam sein und mit kritischem Blick die neuen Weichenstellungen und die Versuche schleichender Veränderungen in unseren Demokratie- und Rechtssystemen beobachten und der reaktionären Umdeutung unserer demokratischen Gesellschaftsordnung durch die Populisten entschieden entgegentreten.

Perspektive der ökonomischen und sozialen Gerechtigkeit

Beginnen wir damit, hierzulande den Ursachen der Entfremdung zwischen breiten Bevölkerungsschichten und den Parteien sowie der Demokratie als Regierungssystem auf den Grund zu gehen. Viele Menschen sind aufgrund der wiederholten Aufdeckung politischer Skandale verärgert und wegen der fehlenden Sensibilität der Regierungen gegenüber sozialen Fragen wie würdevollen Arbeitsbedingungen, Wohnungsnot und Armut enttäuscht. Sozial schwache Bevölkerungsschichten und Arbeitnehmer:innen brauchen, wie der Arbeitssoziologe Francesco Seghezzi auf der Tagung verdeutlicht hat, eine Perspektive der ökonomischen (Löhne, Steuern) und der sozialen Gerechtigkeit (Sicherungssysteme gegen Arbeitslosigkeit Armut, Alter und Krankheit), um die Verheißungen der Gleichheit und Solidarität der Demokratie ernst nehmen zu können. Die Politik zeigt wenig Zielstrebigkeit, nachhaltige Lösungen für soziale Probleme umzusetzen und die Herausforderung Klimawandel mutig anzugehen. Die Regierungen in den EU-Staaten sitzen zwar an den Hebeln der staatlichen Verwaltungsapparate, stehen aber unter dem Druck der Finanzplätze und der etablierten Wirtschaftsbranchen, die die Leistungsfähigkeit und die privaten Renditen des aktuellen Produktionssystems gegen risikobehaftete Veränderungen verteidigen und die gemeinnützige Leistung der Arbeitsplatzsicherung in die Waagschale legen. 

Verantwortlich für die Entmantelung des Sozialstaats und die Einschränkung der Mitsprachemöglichkeiten der Gewerkschaften sind die neoliberalen Gesellschaftskonzepte, die seit den 80er Jahren in vielen Ländern die politische Agenda bestimmen. Zählen allein Marktziele und -mechanismen, so verkümmert der Sozialstaat und Gewerkschaften werden als Störenfriede behandelt, wie Reaganomics und Thatcherismus vor Augen geführt haben. Mit der in Österreich bereits 1946 umgesetzten Form einer institutionalisierten Sozialpartnerschaft oder in der in Italien in den 90er Jahren erfolgreichen Praxis tripartistischer Abkommen zwischen Regierung und Sozialpartnern (der sog. „stagione della concertazione“) waren eigentlich bereits wegweisende Konzepte zur Befriedung der Konflikte zwischen Profitdenken und sozialer Verantwortung verwirklicht worden.

Brachiale Durchsetzung des Rechts des Stärkeren

EU-Kommissionspräsident Jacques Delors hat 2002 den „sozialen Dialog“ in der Absicht lanciert, der Konfliktregelung auf europäischer Ebene eine formale Grundlage zu geben. Dieser wird von der EU systematisch propagiert und ist, wie Brigitte Pellar betonte, ein vielversprechender Ansatz, beruht jedoch auf Freiwilligkeit. Neue Anläufe wie die von der EU-Kommission 2017 präsentierte „Europäische Säule sozialer Rechte“ sind noch weit davon entfernt, in eine verbindliche EU-Richtlinie umgesetzt zu werden, die dem sozialen Dialog eine formale Grundlage verleiht. Das liegt daran, dass die Entwicklung eine ganz andere Richtung eingeschlagen hat. Die Kapitaleigner sahen im Zuge der Globalisierung der Märkte die Chance, das Heft an sich zu reißen und eine auf ihre Interessen zugeschnittene Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Ziemlich brachial ist beispielsweise in Osteuropa das Primat des Marktes durchgesetzt worden. In Ländern mit einer konsolidierten Praxis des sozialen Ausgleichs sind entsprechende Instrumente einfach nicht mehr genutzt worden.

Aufkündigung der Sozialpartnerschaft

Seit geraumer Zeit vollzieht sich eine ganze Reihe von strukturellen Veränderungen, auf die die Gewerkschaften keinen Einfluss ausüben konnten. Neue Technologien krempelten die Produktions-, Logistik- und Dienstleistungssysteme um. Durch die Digitalisierung und Internet ergaben sich neue Möglichkeiten der Arbeitsvermittlung und der Interaktion zwischen Management und Belegschaft sowie der Kontrolle der Arbeitsergebnisse. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert. Neue Arbeitsverträge spalteten die Mitarbeiter:innen in eine Stamm- und eine Randbelegschaft. Das öffentliche Gesundheitssystem wurde entweder privatisiert oder durch das Lean-Management ausgeblutet. Kürzungen im staatlichen Rentensystem verlagerten das Risiko der Alterssicherung auf die Arbeitnehmerschaft und öffneten die Tore für riesige private Renditechancen. Es entwickelten sich eklatante Unterschiede im Einkommen zwischen Management und Rest der Mitarbeiter:innen. Die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wurde einfach hingenommen. Ohne dass es explizit artikuliert worden wäre, ist aus diesen Entwicklungen in der Summe ein eindeutiges Ergebnis abzulesen, nämlich die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft. Das erweist sich als entscheidende strategische Wende für die interne Dynamik der Gesellschaft.

Unterbietungswettbewerb um Standortvorteile

2005 ist die Ratifizierung eines Vertrages zur Europäischen Verfassung gescheitert, mit der eine weitergehende Vereinheitlichung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Regulierungssysteme unter dem gemeinsamen Dach Europa beabsichtigt war. Dramatische Wirtschaftskrisen haben seither den Wettstreit um Standortvorteile unter den EU-Ländern befeuert. Mit der Aufnahme zahlreicher neuer wirtschaftlich ganz unterschiedlich aufgestellter Länder ist ein regelrechter „race to the bottom“ ausgelöst worden. Vielfach wurden und werden nationale Alleingänge in der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik damit begründet, dass die EU ihre Gleichheitsversprechen nicht eingelöst hat. Die Abhängigkeit von ausländischen Investoren und deren rücksichtslose Profitoptimierung tragen insbesondere in Osteuropa dazu bei, nationalistische Ressentiments zu fördern. Die Strategie, die EU und die Troika für negative Entwicklungen verantwortlich zu machen, wird seitens der Regierungen durch patriotischen Populismus garniert.

Kritischer Blick auf populistische Umdeutung der Gesellschaft

In Ländern wie Polen und Ungarn gelangten über demokratische Wahlen autokratische Führungspersönlichkeiten in die Regierungsverantwortung. Den neoliberalen Politikkonzepten folgend setzten sie Privatisierungen durch und machten Wettbewerb und Eigenverantwortung zur Richtschnur in Arbeitsmarkt und sozialem Gefüge. Sobald sie an der Macht waren, gingen sie daran, durch die Gängelung der Medien und der Justiz sowie die Einschränkung der Mitbestimmung der Gewerkschaften das demokratische System auszuhöhlen. Mahnungen seitens der EU, die rechtsstaatlichen Grundsätze zu wahren, werden als unzulässige Einmischung abgetan und prallen am erstarkten nationalen Selbstbewusstsein ab. Der Ausweitung der finanziellen Unterstützung für kinderreiche Familien stehen unzureichende Betreuungsangebote gegenüber. Arme Bevölkerungsschichten sind weitgehend auf sich alleine gestellt. Diese Beispiele von Vorspiegelung von Wertekohärenz, Zweckentfremdung und machiavellistischer Nutzung demokratischer Mechanismen finden ihre Nachahmer auch in anderen europäischen Ländern.

Veränderungsresistenz in Parteien und Gewerkschaften

Ein wesentlicher Grund für den Erfolg populistischer Autokraten ist, dass die traditionellen Arbeiterparteien bisher nicht imstande waren, die zentralen Fäden des Übergangs der postindustriellen Phase aufzunehmen und der ökosozialen Vision für die Gesellschaft des digitalen Zeitalters klare programmatische Konturen zu verleihen. Bremsfaktoren waren und sind die Langatmigkeit interner Beratungsprozesse in den Parteien und ihre Ausrichtung auf kurzfristige Wahlerfolge. Strukturelle Verkrustungen machen auch in den Gewerkschaften Erneuerungsprozesse schwierig. Durch die Konzentration auf die Interessen der Mitglieder steht die Erhaltung der Schutzstandards von bislang vergleichsweise gut abgesicherten Beschäftigten im Mittelpunkt. Hingegen gelingt es kaum, als Vertretung für prekär Beschäftigte und Selbständige attraktive Unterstützungsangebote zu entwickeln geschweige denn als deren Fürsprecher Erfolge anerkannt zu werden.

In der täglichen Auseinandersetzung zu den Themen, die die Gesellschaft bewegen, und bei politischen Wahlen wird deutlich, dass sich nun Populisten unterschiedlicher Couleur statt der Gewerkschaften als demokratisch legitimierte Vertreter der Interessen der Arbeitnehmer:innen und der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten zu etablieren versuchen. Für die Konzerne, die Unternehmen und die Finanzplätze ist es von Vorteil, die Populisten als Gesprächspartner zur Sozial- und Umweltpolitik und zu Fragen der Mitbestimmung haben, da diese weitgehend das neoliberale Gesellschaftsbild teilen, gleichermaßen eine Top-down-Gesellschaftsordnung befürworten und machtpolitisch ganz pragmatisch die Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“ anwenden.

Soziale und umweltpolitische Stakeholder als Mitgestalter

Zukunftssicherung erfordert eine ökologische Transformation des Wirtschaftssystems und des Konsums. Dieser langwierige Prozess ist sozial verträglich zu gestalten. Das erfordert die Verankerung von ökologischer und sozialer Ethik im Marktsystem. Dieses entsprechend umzubauen, entspricht nicht einer inkrementellen Innovation, da es um die Neuausrichtung zentraler Stützpfeiler geht. Dass der Profit als Urantrieb des Wirtschaftens in Einklang mit Gemeinwohl und sozialer Gerechtigkeit gebracht werden muss, ist eigentlich bloß die Neuauflage des bekannten Konfliktmusters Kapital-Arbeit. Die Geschichte sollte uns als Empirie genügen, um den Handlungsbedarf nicht länger zu leugnen und dieses Vorhaben anzugehen. Die historischen Beispiele für valide Lösungsansätze sind innerhalb der aktuellen Rahmenbedingungen neu auszurichten.

Stakeholder-Konzept ein Erfolgsmodell

Klimawandel und generell Ökoverträglichkeit von Wirtschaft und Konsum als zusätzliche und drängende Aufgabenstellung machen die Herausforderung noch komplexer. Auch diesbezüglich ist es an der Zeit einzusehen, dass das Stakeholderkonzept gute Chancen bietet, diese erfolgreich zu bewältigen. Statt obskurer Machtspiele in informellen Kontexten und unkluger Verzögerungstaktiken auf der EU-Ebene und in internationalen Beratungen ist die Beteiligung von Gewerkschaften und anderen relevanten Stakeholdern im sozialen Bereich und zu Umweltfragen umgehend sicherzustellen. Wirtschafts-, Sozial-, Ethik- und Umweltexpertise sind in Visionen, Plänen und Maßnahmen zusammenzuführen. Im Bereich der Patronate haben sich die Gewerkschaften in Italien eine wichtige Funktion als soziale Dienstleister im Auftrag des Staates gesichert. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn derselbe Staat sich dagegen sträubt, ihre Rolle als politische Vertretungsinstanz und Bindeglied zwischen Politik und Bevölkerung ((als sog. „corpi intermedi“) anzuerkennen.

Der Arbeitssoziologe Francesco Seghezzi vom Think Tank ADAPT sprach sich auf der Tagung dafür aus, eine neue Phase der Konzertierung („concertazione“) mit Anpassung wirksamer Mechanismen der Mitbestimmung auf betrieblicher wie auf regionaler und politischer Ebene einzuleiten. Ohne würdevolle Arbeit, gerechte Löhne und wirksame soziale Sicherungssysteme gegen Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit und Alter macht sich ein Klima der Unsicherheit und der Zuspitzung sozialer Konflikte breit und gerät die demokratische Ordnung ins Wanken. Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit den Mitbestimmungsmechanismen der Demokratie entstehen nicht ohne Grund, wie an politischen Skandalen und der unzureichenden Berücksichtigung sozialer Gerechtigkeit nachvollziehbar ist. Demokratiebashing und Wahlabstinenz lassen sich u.a. an zwei sich gegenseitig verstärkenden Faktoren festmachen, auf die der Politikwissenschaftler Günther Sandner hingewiesen hat, der an der Sozialakademie der Arbeiterkammer Wien lehrt.

Zusammenhang von Ungleichheit und Bildung

Der erste ist, dass die Parlamente in ihrer Zusammensetzung nicht die verschiedenen Bevölkerungsgruppen widerspiegeln. Da ein Großteil der Volksvertreter:innen aus bildungsstarken und einkommensstarken Schichten kommt, stehen deren Anliegen in der Gesetzgebungstätigkeit im Vordergrund. Sander nahm diesbezüglich auf eine Studie der Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer Bezug. Sie hat in einer Untersuchung zur demokratischen Praxis in Deutschland nachgewiesen, dass innerhalb eines Zeitraums von mehr als 30 Jahren (1980- 2013) über unterschiedliche Regierungskonstellationen hinweg die Mehrheit der politischen Entscheidungen, vor allem in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, im Sinne der Interessen der oberen Berufs- und Einkommensgruppen erfolgt ist.

Vermittlungsaufgabe durch Vernetzung stärken

Der zweite ist, wie Sandner erläuterte, dass bestehende Ungleichheiten durch die sinkende Wahlbeteiligung verstärkt werden: Es sind in erster Linie sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die der Wahlurne fernbleiben. Die Wählerstromanalysen der letzten Jahre ergeben m. E. einen ergänzenden Befund: Es sind wiederum diese Wählerschichten, bei denen die populistische Mischung von charismatischem Führungsanspruch, Insider-Outsider-Denken und emotionalisierten Feindbildern eine hohe Resonanz erzeugt. Gerade die Gewerkschaften träfe als gesellschaftlicher Instanz zwischen Politik und Bevölkerung die Aufgabe, die programmatische Konsistenz politischer Ankündigungen und Programme zu verifizieren. Als gewählte Vertreter:innen weisen sie eine Rückkoppelung zu den Arbeitnehmer:innen auf, die ihnen eine demokratische Legitimität verleiht, die Anliegen der sozial Schwächeren zur Sprache zu bringen. Somit kommt ihrem Urteil Gewicht zu, wenn es darum geht, die Wertekohärenz der politischen Erklärungen, den Nutzen und die Folgen politischer Vorhaben einzuordnen. Die Abstimmung und gegenseitige Ergänzung mit anderen sozialen Verbänden und mit solchen, die im Umweltbereich ihren Schwerpunkt haben, kann einen Schulterschluss fördern, der sie gemeinsam zu sehr gewichtigen Fürsprechern der sozialen Solidarität und Gerechtigkeit und der ökoverträglichen Transformation macht.