Gesellschaft | kalašnikov&valeriana

Nach den Sternen greifen

„Gleichstellungsparadox“ im MINT-Bereich und andere Märchen.
Computertastatur
Foto: Pixabay

Bei meinem Informationskonsum halte ich mich an eine Faustregel, die ich sehr nützlich finde: Ich frage mich, wer den Text geschrieben hat, wo er veröffentlicht wurde und ob es dazu eventuell einen anderen Sichtpunkt gibt. Oft liegt die Antwort auf der Hand, manchmal reicht eine schnelle Suche im Internet. So bin ich dann auch vorgegangen, als mir der Wunsch eines Salto-Lesers vermittelt wurde, ich möge doch meine Meinung zu einem bestimmten Artikel aus dem Jahr 2018 erörtern. Darin geht es um ein scheinbares Paradox, laut dem in Ländern, die Frauen gesellschaftspolitisch unterstützen und stärken, diese weniger wahrscheinlich wissenschaftliche Berufe wählen. Besagter Artikel erwies sich als ein Artikel über einen anderen Artikel (sorry!), dermit der Feststellung schließt, Frauen würden lieber ihren Leidenschaften folgen statt dem Rat von Wirtschaftswissenschaftlern, hätten sie nur dieselbe finanzielle Sicherheit und Berechtigung wie Männer. Und diese Leidenschaften liegen nun mal nicht unbedingt in der Wissenschaft.

Diese Bedienung geschlechtsspezifischer Stereotypen hat mich neugierig gemacht, und nach wenigen Sekunden Recherche hatte ich auch schon nähere Informationen … Tatsächlich wurde dieser Artikel zum „Gleichstellungsparadox“ im MINT-Bereich von zwei Psychologen geschrieben und selbstredend von Männerrechtsaktivisten und Konservativen verbreitet. Es wurde somit zum gefundenen Fressen für all jene, die sich nicht mehr trauen laut zu sagen, Frauen seien in MINT-Bereichen aufgrund ihrer Biologie weniger leistungsfähig, und dafür jetzt legitimiert werden, von „mangelnder Neigung“ zu sprechen. Schlussendlich hat sich eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler:innen und Gender-Studies-Forscher:innen in Harvard mit dem „Gleichstellungsparadox“ im MINT-Bereich befasst und die zitierten Zahlen und Prozentsätze überprüft. Sie waren dermaßen haltlos, dass die Arbeit einer umfangreichen Korrektur unterzogen und überarbeitet wurde. Des Weiteren wurde bemängelt, dass bei der Studie zum „Gleichstellungsparadox“ keine sozialwissenschaftlichen Aspekte berücksichtigt wurden.

Was ich damit sagen will? Ich verbreite nicht gern (m)eine Meinung, sondern möchte vielmehr Lust auf das Hinterfragen von Informationen machen, um das Verbreiten von irreführenden und voreingenommenen Fake News zu vermeiden.

Aber weil ich schon so nett gefragt wurde, folgt hier doch noch meine Meinung zum Thema: Eine Gesellschaft, in der Frauen „empowert“ werden, reicht mir nicht. Ich strebe einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel an. Das mag idealistisch klingen, aber ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass wer seine und ihre Ziele nicht an den Sternen festmacht, nicht mal auf den Kirchturm kommt.

 

 

Zum Nachlesen: https://slate.com/technology/2020/02/women-stem-innate-disinterest-debunked.html

 

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Karl Egger Mo., 29.05.2023 - 18:48

So so, der wissenschaftliche Artikel wurde von Gender-Studies-Forscher:innen geprüft und für Fake-News befunden und diejenigen die den Artikel verbreitet haben sind alles Konservative. Haben Sie auch einen (seriösen) wissenschaftlichen Artikel der das Gegenteil beweist? In der Zwischenzeit wünsche ich fröhliches Empowern!

Mo., 29.05.2023 - 18:48 Permalink
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Gianguido Piani Mo., 29.05.2023 - 18:54

Wie schön, zitiert zu werden. Sie hätten auch "Piani (2023): comment in Luther, A., 'Geschlechterklischees prägen Wunschberuf', Salto, Bolzano, May 18th, 2023, retrieved online at https://www.salto.bz/de/article/18052023/geschlechterklischees-praegen-…" schreiben können. So nähern wir uns an den Stil der anderen unter erwähnten Artikel.

Der von mir ursprünglich genannte Artikel "The More Gender Equality, the Fewer Women in STEM" wurde von einer Frau geschrieben, Olga Khazan, und in "The Atlantic" veröffentlicht. Das fact-debunking hätten die Autorin und die Zeitschrift unternehmen sollen, nicht Sie oder ich oder das GenderLab aus Harvard. "The Atlantic" ist seriös und berühmt, die Autorin eine Frau, vorerst kein Grund die Ziele zu hinterfragen.

Wie Sie schreiben, waren die Thesen in dem ursprünglichen Artikel von Gijsbert Stoet und David Geary so "dermaßen haltlos, dass die Arbeit einer umfangreichen Korrektur unterzogen und überarbeitet wurde." Ich stimme Ihnen zu. Schlechte Artbeit. Ich fürchte jedoch, dass in diesem Fall Männer und Frauen (sorry, die Gender-Theorie) damit nichts zu tun haben, sondern der Drang zur Veröffentlichung. Das Mann-Frau-Verhältnis bietet ausreichend Stoff für Abertausende von "scientific papers", deren ungeschriebene, aber echte Ziele Gender-Professuren und Profite für Verlage sind.

Ich sage auf keinen Fall, dass "Frauen in MINT-Bereichen aufgrund ihrer Biologie weniger leistungsfähig seien", einfach weil ich das nicht glaube und es als Vollquatsch empfinde. Es müssen jedoch Gründe geben, weshalb wenige Frauen s.g. typische Männerberufe wählen. Voriges Jahr hat die schwedische "Gender Equality Agency" einen Bericht veröffentlicht der - Horror! - genau dies bestätigt: Frauen wählen frauentypische Ausbildungen und Berufe. In Schweden! In einem der Gender-egalitärsten Ländern der Welt! Wie kann so etwas auch nur im (Alp)Traum vorkommen?

Den Originalbericht finden Sie hier. Die unterschiedlichen Tabellen mit absoluten Zahlen und Prozentangaben sind sehr aussagekräftig. https://jamstalldhetsmyndigheten.se/media/vlnngkhm/val-efter-eget-k%C3%…

Paradox im Paradox - Frauen aus Migrantenfamilien sind in Schweden in der Berufswahl mehr ausgewogen und haben weniger Vorurteile als einheimische. Es heißt, wenn in Schweden statt eines Klempners eine Klempnerin kommt (3% Wahrscheinlichkeit), ist sie eher aus Bosnien, Syrien oder der Ukraine, statt aus Göteborg, Malmö oder Umeå.

Machen die Schweden vielleicht alles falsch mit der praktischen Umsetzung von Gender-Equality? Was würden Sie den Schweden:innen empfehlen, damit künftig mindestens ein Drittel der Klempner Klempnerinnen sein werden?

Mo., 29.05.2023 - 18:54 Permalink
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Gianguido Piani Mo., 29.05.2023 - 19:05

Antwort auf von Gianguido Piani

Noch ein Hinweis. In Schweden wird über alle Themen veröffentlicht, sehr häufig ist eine englische Übersetzung dabei. Wenn etwas für das Land unbequem ist, dann fehlt die Übersetzung. Die eigene Studie wird auf den englischsprachigen Seiten der Gender-Agentur einfach ignoriert.
https://swedishgenderequalityagency.se/gender-equality-in-sweden/
https://swedishgenderequalityagency.se/news/?area=&year=0&isoLang=en-US…
https://swedishgenderequalityagency.se/gender-equality-in-sweden/sub-go…

Mo., 29.05.2023 - 19:05 Permalink
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gorgias Mo., 29.05.2023 - 22:12

Wir sollten ein totalitäres System einführen in denen die Menschen nach dem vorgegebenen Idealbild geformt werden. Dort werden nach vorgegebener Quote Frauen gezwungen freiwillig sich für ein MINT-Fach zu entscheiden.
Hat ja im Ostblock so gut funktioniert, dass man eine Mauer bauen musste, um nicht von Menschen überrant zu werden, die auch in diesem Sozialparadies leben wollten.

Mo., 29.05.2023 - 22:12 Permalink
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Martin Daniel Di., 30.05.2023 - 07:44

Der Artikel folgt dem etablierten postmodernen Wissensprinzip: Die gesamte Wirklichkeit ist sozial konstruiert und muss dekonstruiert werden, um die dahinterliegenden Machtstrukturen offenzulegen. In der Folge wird ein neues Narrativ konstruiert, das selbst nicht Gegenstand genannter Dekonstruktion sein kann, also nicht seinerseits kritisch überprüft werden darf. Wer Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Vorgehensweise äußert, dem wird auf moralischer Ebene gekontert. Da die verfolgten Ziele als erhaben, hehr, erstrebenswert, im Grunde quasi "heilig" angesehen werden, kommt alles, was deren Erreichen im Wege steht, der Ketzerei gleich ("böse konservative Männer").
Diese Methodik teilen die Gender-Studies mit anderen Bereichen der Social-Justice-Theorie, so z.B. den Fat-Studies. Diese verorten die Probleme übergewichtiger Personen im Verhalten des sozialen Umfelds und betrachten Ärzte, die Betroffenen aus Vorsorgegründen eine Änderung des Lebensstil anraten, als diskriminierend. Biologische Aspekte werden von nicht wenigen Autorinnen gänzlich ausgeschlossen. Womit sich der Kreis zu den Gender-Studies (und diesem Artikel) schließt.

Di., 30.05.2023 - 07:44 Permalink
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Wilhelm B.L Di., 30.05.2023 - 12:51

Antwort auf von Martin Daniel

Sehr geehrter Herr Daniel, aus ihrer berechtigen Kritik an dem, dem Marxismus entspringenden post modernen Wissenschaftsprinzio wird erst ein Schuh, wenn man dieses als einseitig ueberzogene Gegenreaktion auf die von weissen konservativen Maennern betriebenen Biologismus anprangert.

Di., 30.05.2023 - 12:51 Permalink