Kultur | Salto Afternoon

Ungeheuer Mensch

Übernächste Woche kommt Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in den Schallerhof nach Lana und wird die 38. Literaturtage Lana eröffnen. Ein Vorgeschmack.
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Foto: Salto.bz

Am 25. und 26. August 2023 finden sie zum 38. Mal statt: die Literaturtage in Lana. Geladen wird seit einigen Jahren in den alten Schallerhof, gleich unterhalb der neuen Seilbahn zum Vigiljoch, in diesem Jahr unter dem Titel Ungeheuer ist viel doch nichts ungeheurer als der Mensch. Dieser sprichwörtlich gewordene Antigone-Vers – die Übersetzung stammt von Friedrich Höderlin –, der im Sophokles-Stück am Anfang des zweiten Aktes steht und von den thebanischen Alten im Chor vorgetragen wird, ist Ideengeber für Diskurs und Austausch des (hoch-)literarischen Reigens, sowie für aufkommende literaturhistorische oder politische Fragen. Die mustergültige Tragödie, mit rund 2500 Jahren auf dem Buckel, hat bis heute nichts von „seiner ergreifenden Dramatik“ eingebüßt. Mit dem Widersetzen Antigones warnt Sophokles von dem „anmaßenden Gebrauch der Macht“ und appelliert „an die Kraft des menschlichen Verstandes.“ 
 

Antigone wird sein Gesetz brechen und ihm die Stirn bieten, sie wird ihm nicht das letzte Wort lassen.


Welche Antworten, welche Sprache, wurde „ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine“ gefunden, auf „eine Erzählung für das Ungeheure?“ fragen sich die Veranstalter*innen und wollen über ihre Gästeliste während der zweitägigen Veranstaltung in Erfahrung bringen, ob und wie (mit und durch Literatur) „dem Wahnsinn des Krieges“, im „Sinn einer zivilen Gesellschaft“ entgegengehalten werden kann. 
 

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Swetlana Alexijewitsch: Der Weg zur Freiheit ist lang. Ein Mensch, der 40 Jahre lang im Lager gelebt hat, kann nur im Lager leben / Bildquelle: Literatur Lana 


Den Auftakt zum Lese- und Diskussionsformat in Lana macht Swetlana Alexijewitsch. Vor acht Jahren mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, hat sie „ihr Lebenswerk den überlebenden Opfern von Krieg und Gewalt gewidmet.“ Über die Form des Interviews fand Alexijewitsch zur literarischen Gattung des „dokumentarischen Romans der Stimmen.“ Sie stellte also, ähnlich dem polnischen Pädagogen, Kinderbuchautor und Arzt Janusz Korczak – er starb (offiziell) am 7. August 1942 im Vernichtungslager Treblinka – die Frage, das Nachfragen, das aufmerksame Zuhören, ins Zentrum ihres Tuns. Alexijewitsch wird im Schallerhof (am 25.8.) aus Secondhand Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus lesen und ein Gespräch mit der Übersetzerin und Publizistin Katharina Narbutovic führen.

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Mehr Sitzfleisch sollten Literaturbegeisterte am Samstag (26.8.) haben. Denn es erwartet das Publikum ein regelrechter Marathon an Literatur und Gesprächen. Marta Kijowska wird zunächst die Biografie Nichts kommt zweimal über die „verschlossene und öffentlichkeitsscheue“ polnische Dichterin Wisława Szymborska vorstellen, welche vor kurzem, anlässlich des 100. Geburtstag der „zierlichen Kettenraucherin mit einem Faible für Camping“, erschienen ist.

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Mit Jakub Małeckis Romanen Rost und Saturnin geht es nach der Hommage an die bekannte Lyrikerin weiter ins gegenwärtige Polen, „und hinab in seine vom Krieg und Besatzung gezeichnete Geschichte“. 
 

Heute gleicht dieser Hinterhof mehr und mehr einem Friedhof, auf dem der Krieg selbst als Totengräber fungiert 
Kateryna Mishchenko


Nach Małeckis wird sich die ukrainische Essayistin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko an den Lesetisch im Schallerhof setzen und den „Hinterhof Europas“ – wie sie einmal ihr Herkunftsland bezeichnete – beschreiben, sowie aus dem vor kurzem im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch Aus dem Nebel des Krieges lesen. 
 

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Kateryna Mishchenko: Flucht ist eine andere Form der Einsamkeit / Bildquelle: Literatur Lana


Im Anschluss an Mishchenko wird der renommierte Historiker Karl Schlögel versuchen zu eruieren „wo historische Zusammenhänge und Gründe zu suchen sind und wie weit der gegenwärtige Krieg in die Geschichte der Sowjetunion und Russlands zurück geht, ob deren lange Hand verkannt, verdrängt oder verleugnet wurde“. Dazu wird Schlögel ein Gespräch mit dem Schriftsteller, Übersetzer und Osteuropa-Experten Olaf Kühl führen.

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Mit Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha von Marcel Beyer geht Literatur Lana der Frage nach, wie der Angriffskrieg auf die Ukraine auch als Zeitwende – nicht nur des Politischen, sondern auch des Erzählens – gesehen werden kann. Beyer wird in Zeiten des Krieges über „die Bedeutung der Medien für die Konstitution von »Wirklichkeit« sprechen“ und seinerseits den Fragen nachgehen: 

- Wann berichte ich nicht mehr nur, sondern erfinde? 
- Kann ich von dem berichten, was ich gesehen habe, ohne zu imaginieren? 
- Was meint »Erfindung«, was »Bericht« und welche Rolle kommt dem Schriftsteller dabei zu? 

Noch bleiben bis zu den Literaturtagen einige Tage. Also noch ein wenig Zeit, um sich vielleicht das ein oder andere Buch zu den geladenen Gästen zu besorgen.