Viele offene Fragen
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SALTO: Herr Professor Pallaver, die Landtagswahlen haben einen ungewöhnlichen Ausgang genommen.
Günther Pallaver: Und sie sind noch lange nicht ausgestanden.
Die möglichen Koalitionen sind offen wie nie zuvor?
Das wird – unter Anführungszeichen – nicht lustig. Eine Reihe von Variablen müssen bei den Koalitionsverhandlungen berücksichtigt werden. Erstens braucht es eine entsprechende Anzahl an Sitzen für eine absolute Mehrheit, zweitens muss die ethnische Dimension berücksichtigt werden sowie die Frauenquote. Drittens braucht es eine politische Kompatibilität, weiters auch eine hinsichtlich der Autonomie-Politik. Dazu kommt die europäische Dimension sowie der Faktor Österreich. Somit stellen sich die Fragen: Kann die SVP mit einer Partei wie FdI eine Koalition eingehen, in der in den mittleren Funktionärsebenen immer noch Leute präsent sind, die sich mit dem faschistsichen Gruß begrüßen und die in Predappio Mussolini die Ehre erweisen? Kann die SVP mit Parteien zusammen gehen, die das Selbstbestimmungsrecht einfordern, während die Volkspartei für die Autonomie steht? Oder, kann die SVP als eindeutige Pro-Europa-Partei mit Parteien eine Koalition eingehen, die eindeutig antieuropäisch sind, wie dies für die Lega und wenn auch etwas weniger für FdI zutrifft? Und schliesslich, kann die SVP mit Parteien eine Koalition eingehen, die vor Kurzem ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich im Transit-Streit eingeleitet haben, gegen die Schutzmacht Südtirols? Ohne Österreich steht Südtirol nackt da. Ein solches Bündnis wäre wohl ein Affront gegen Österreich? Will das die SVP in Kauf nehmern?
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„Das wird – unter Anführungszeichen – nicht lustig“
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Wagen Sie eine Prognose.
Ich halte drei Konstellationen für möglich, wobei jede davon mit einem „Aber“ verbunden ist. Eine Variante, mit der wir eine Mehrheit von 19 Sitzen haben, setzt sich aus der SVP, Fratelli d‘Italia, Lega, La Civica und den Freiheitlichen zusammen. Wir haben hier ein Bündnis der rechten Parteien Lega, FdI und Freiheitliche mit der italienischen Zentrumspartei, die sich offen für alle gibt. Die zweite Variante setzt sich aus der Volkspartei, Lega, La Civica und dem Team K zusammen, zumal es innerhalb der SVP Strömungen gibt, die eine Koalition mit den Fratelli d‘Italia entschieden ablehnen. Zwar hätte die SVP gerne einen guten Draht zur Regierung Meloni und über die Lega wäre das gegeben, allerdings gibt es gleich zwei offene Fragen: Lässt es sich Fratelli d‘Italia bieten, einfach übergangen zu werden? Und ist das Team K bereit, mit der Lega eine Koalition einzugehen? Von Seiten der Köllensperger Partei hieß es nämlich, dass man keinen Schulterschluss mit einer rechten Partei will. Die dritte Variante ist eine leicht Mitte-Links-Regierung aus SVP, Team K, PD und La Civica. Letztere Konstellation halte ich für eher unwahrscheinlich, weil die Volkspartei sicherlich eine gute Beziehung zur Regierung in Rom anstrebt. Aber das alles hängt eben von verschiedenen Variablen ab, unter anderem auch von den internen Entwicklungen in der Volkspartei, die sich im Landtag politisch neu aufgestellt hat.
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In Ihren genannten Varianten spielt die Süd-Tiroler Freiheit, die einen großen Wahlerfolg verbuchen kann und auf vier Sitze kommt, keine Rolle?
Die Süd-Tiroler Freiheit hat in ihrem Parteiprogramm das Selbstbestimmungsrecht verankert, dagegen setzt die Volkspartei auf die Autonomie: Das ist nicht kompatibel. Abgesehen davon hat Sven Knoll in den vergangenen Jahren im Zuge des Untersuchungs-Ausschusses zu den Parteispenden und der Wahlkampffinanzierung ziemlich gewütet. Im Zuge dessen hat Landeshauptmann Arno Kompatscher Anzeige gegen Knoll erstattet – zwischen diesen beiden stimmt die Chemie überhaupt nicht.
Man hat den Eindruck, dass sich die Spaltung der SVP durch den Wahlausgang weiter zementiert: Konservative Kräfte werden abgestraft und Kompatscher-Getreue wie Hubert Messner können die Gunst der Stunde nutzen.
Nein, das würde ich so nicht sagen. Auch in der Vergangenheit hat es immer Mehrheiten und Minderheiten innerhalb der Volkspartei gegeben. So war in der vergangenen Legisalturperiode der sozial-liberale Flügel in der Minderheit und nun befindet sich eben der konservative Flügel in der Minderheit. Der Volkspartei ist es in der Vergangenheit immer gelungen, diese Gegensätze souverän zu überbrücken und Abspaltungen, die es immer wieder gegeben hat, politisch zu überwinden. Das ist nun einmal das Spiel einer Partei, die den Anspruch erhebt, Sammelpartei zu sein – was sie natürlich nicht mehr ist. Die SVP vertritt nämlich nur mehr 45 Prozent der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung. Jede Volkspartei versucht aber im Sinne einer Allerweltspartei, möglichst viele verschiedene soziale Schichten anzusprechen. Von daher ist das nichts Neues und nun sind eben die konservativen Kräfte in der Minderheit, zumindest, was die Landtagsabgeordneten betrifft.
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„Wenn die SVP weiter Bestand haben will, sollte sie die Chance nutzen, einen Erneuerungsprozess einzuleiten“
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Angesichts des Stimmenverlusts – wäre es für die SVP an der Zeit, die Reißleine ziehen und auf den Reset-Knopf zu drücken?
Wenn die SVP weiter Bestand haben will, sollte sie die Chance nutzen, einen Erneuerungsprozess einzuleiten. Nicht nur aufgrund der Streitereien, die – sollten sie nicht beendet werden, wirklich zum Ende der Partei führen könnten –, sondern auch aufgrund des Wählerverhaltens, über das wir durch die von der SWZ durchgeführten Umfrage gute Anhaltspunkte haben. Daraus geht hervor, dass die SVP insbesondere von den Senioren gewählt wird, während sie bei den mittleren Jahreskohorten von 39 bis 49 Jahren nur bei rund 24 Prozent liegt. Die „Alten“ werden irgendwann nicht mehr da sein und Junge kommen keine nach. Das stellt für die Volkspartei natürlich ein erhebliches strukturelles Problem dar. Ebenso lassen sich aus dem Bildungsgrad wichtige Rückschlüsse ziehen. Die SVP wird nämlich vor allem von Personen gewählt, die einen formal niedrigen Bildungsgrad aufweisen, während sie bei den formal höheren Bildungsschichten schwach vertreten ist. Das sind wichtige Hinweise für die Volkspartei, die sich dessen natürlich auch bewusst ist. Die SVP wird eine Wende herbeiführen müssen, ansonsten wird das nächste Wahlergebniss noch schlimmer ausfallen.
Apropos Jugend: Bei dieser Wählerschicht ist es der Süd-Tiroler Freiheit gelungen, besonders zu punkten.
Offensichtlich sprechen die Fragen, die sich auf das Thema Heimat und Sicherheit vor dem Hintergrund der Globalisierung beziehen und den damit verbundenen Ängsten immer mehr junge Erwachsenen und Jugendliche an. Es liegt im Trend, auf „Miar sein miar“ und „Das Land gehört uns“ zu setzen.
Sven Knoll führt den Erfolg unter anderem auf die starke Präsenz auf den Social Media Plattformen zurück.
Das ist nichts Neues. Bei den letzten Landtagswahlen war die Süd-Tiroler Freiheit jene Partei, die am stärksten in den sozialen Medien präsent war. In dieser Hinsicht agieren sie sehr geschickt und viele andere Parteien könnten hier einiges lernen.
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Die Bayern, Hessen und letzthin die Schweiz haben es vorgemacht – ist Südtirol dem Rechtstrend gefolgt?
Das ist nicht nur ein Südtiroler, sondern eine gesamteuropäische Entwiclung. Während im Jahr 2018 59 Prozent der Wählerstimmen in der Mitte angesiedelt waren, ist dieser Wert bei dieser Wahl auf 49 Prozent gesunken. Rechts und Mitte-Rechts konnten 2018 25 Prozent der Stimmen erreichen, heute haben wir 38 Prozent. Somit haben wir eine eindeutige Verschiebung nach rechts.
Es ist ein allgemeiner Trend und Südtirol befindet sich in diesem Sog. Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich wie beispielsweise die gesamteuropäische Situation sowie die derzeitigen Krisen und Konflikte, an denen auch Südtirol nicht vorbei kommt. Das Bedauerliche dabei ist, dass die schrumpfenden konservativen und christdemokratischen Parteien fast überall in Europa die Tür für rechtsradikale Parteien geöffnet haben. Das sehen wir in Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland, bald vielleicht auch in Spanien. Auch in Italien hat Forza Italia, Mitglied der europäischen Volkspartei, den rechten Parteien zur Mehrheit verholfen. In Zeiten des Gut-Wetter-Kapitalismus schauen die Zentrumsparteien eher nach links, in Zeiten des Schlecht-Wetter-Kapitalismus eher nach rechts, wie in den 1930er Jahren.
Ohne Parteiprogramm und nur mit starken Sprüchen im Gepäck schafft es die Liste JWA durchzumarschieren und auf Anhieb zwei Mandate zu erringen.
Jürgen Wirth Anderlan ist der Vertreter einer stark rechtspopulistischen Klamauk-Partei, die vielen Leuten gefällt. Da ist ordentlich was los und Anderlan wettert gegen die da oben und gegen jene, die von draußen kommen Das sind die zwei Hauptslogans. Drittens hat er auch im No-Vax-Becken gefischt – und zusammen mit Andreas Colli sogar ziemlich erfolgreich. Während Renate Holzeisen eher die Sachlichen und Intellektuellen dieser Wählerschicht anspricht, haut Wirth Anderlan ordentlich auf die Pauke und sorgt für Klamauk.
Und wenn JWA denen da oben die Meinung gesagt hat, was dann? Spielt dieser Gedanke im Wählerverhalten auch eine Rolle?
Wenn jemand Wut im Bauch verspürt, wird erst einmal ausgeteilt – und nicht nachgedacht.
In Hinblick auf die…
"Kopernikanische Wende" (A. Tribus) hieße zu begreifen, dass die SVP nicht nur realpolitisch, sondern auch moralisch ihrer Verantwortung nicht (mehr) gerecht wird.
Die SVP hat ganze politische Felder einfach anderen Mitbewerbern überlassen und selbst eine Politik der Beliebigkeit und Lobbyinteressen gepflegt.
Ansonsten wäre beispielsweise die STF als jüngere Heimatpartei zur SVP, die Bürger- und Bevölkerungsrechte vertritt, wohl kaum so erfolgreich.
[G. Pallaver irrt hier übrigens, wenn er behauptet, dass nur die "Süd-Tiroler Freiheit" das Selbstbestimmungsrecht verankert habe und nicht etwa auch die "Südtiroler Volkspartei". Vgl.: "§ 1 Wesen der Südtiroler Volkspartei", in: GAZZETTA UFFICIALE DELLA REPUBBLICA ITALIANA vom 29.01.2018]
Nunmehr ist/wäre wohl Arbeit in Hinblick auf die Kernfrage gefragt: Wie kann Demokratie und die SVP als Heimatpartei konkret wieder zum Ursprung ihrer selbst – zu den Bürgerinnen, Bürgern – gebracht werden, um sich zu erneuern und die inneren und äußeren Angriffe auf sie abzuwehren?
In Hinblick auf die zahlreichen Koalitionensmöglichkeiten, die sich für die SVP eigentlich völlig unerwartet nun eröffnen, ist zu befürchten, dass sich Kompatschers neue Regierung im vorauseilenden Kotau gegenüber Meloni mutmaßich auf SVP (13) den national-rechtsextremen Brüdern Italiens (2), Lega (1), [evt.Civica (1)] und Freiheitliche (2) festlegen wird. Wohl selbst zum Preis, dass die SVP als Heimatpartei der Mitte, die an einer offenen Gesellschaft und Wertegemeinschaft einer aus dem Widerstand entstandenen Partei festhält, sich dadurch selbst abschafft.
Über den eigenen Schatten…
Über den eigenen Schatten springen...
Ein mutiger Sprung:
Grüne (3) + Lega (1) + Widmann (1)
Im Parteiprogramm der SVP,…
Im Parteiprogramm der SVP, das am 7. Mai 2016 verabschiedet wurde, heißt es: " Gleichzeitig bekräftigt die Südtiroler Volkspartei jedoch die Unverzichtbarkeit des Rechts auf Selbstbestimmung". Anscheinend besitzt Prof. Pallaver geheime Informationen, wonach das Parteiprogramm inzwischen stillschweigend abgeändert wurde.
Na ja, Papier ist geduldig …
Na ja, Papier ist geduldig ...
Es ist zur allgemeinen…
Es ist zur allgemeinen Unsitte geworden, dass nach jeder Wahl, deren Ausgang nicht den Wünschen der jeweiligen Parteien bzw. jenen der Journalisten und Politikwissenschaftler ausgegangen sind die Wähler gescholten werden. Da wird offensichtlich Täter und Opfer vertauscht.