Sepp Mall, Ein Hund kam in die Küche
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Der Saal war voll, als im Kunsthaus in Meran am 10. Oktober 2023 der neue Roman von Sepp Mall Ein Hund kam in die Küche vorgestellt wurde. Und alle Stühle waren ebenfalls besetzt in der Bibliothek Tessmann in Bozen, als die erste Lesung aus dem Buch am 28. September stattfand. Nicht anders wird es auch bei den nächsten Lesungen in Bozen (EurAc-Tagung, 26. Oktober), in Lana (9.11.), Graun (10.11.), St. Martin/Passeier und in Schluderns zu erwarten sein. Denn einerseits zählt Sepp Mall zu den bekanntesten Südtiroler Autoren der Gegenwart, andererseits behandelt sein letztes Werk ein Thema, das in Südtirol immer noch großes Interesse erweckt, nämlich die „Option“. Dieses Mal kommt noch hinzu, dass der Roman es kürzlich in die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Diese Nominierung hat den Erfolg des Romans nicht nur in Südtirol, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum besiegelt, so dass der Verlag in knapp zwei Monaten die dritte Auflage drucken musste. Auch die Übersetzung des Romans ins Italienische ist inzwischen beim Keller-Verlag bereits vorgesehen.
Aus der Perspektive eines Kindes namens Ludi erzählt der Roman in der ersten Person die Erfahrungen einer Südtiroler Familie in den Jahren 1942-1947. Infolge der „Option“ verlassen der nationalsozialistisch ideologisierte Vater und die eher zögernde Mutter zusammen mit dem Erzähler und seinem sechs Jahre jüngeren Bruder Hanno das Dorf im Vinschgau. Sie fahren zuerst nach Innsbruck, wo sie von einem Meer an nationalistischen Fahnen empfangen werden, übersiedeln einige Monaten später in ein Dorf in Oberösterreich, damals Reichsgau Oberdonau, um von dort nach eineinhalb Jahren an einen anderen Ort in Nordtirol umzuziehen. Schon in Innsbruck wird der kleine Hanno, der etwas „zurückgeblieben“ ist, d.h. sowohl geh– als auch sprachbehindert ist, in ein Kinderheim eingeliefert und die Mutter erfährt später, dass er nach Kaufbeuren verlegt worden war, wo er nach einigen Monaten verstorben ist. Der Vater hat sich inzwischen als Freiwilliger für den Fronteinsatz gemeldet. Unmittelbar nach dem Krieg gelingt es dem Ich-Erzähler und seiner Mutter, über Bergwege die Grenze zu Italien zu passieren und nach Südtirol zurückzukehren. Erst im April des folgenden Jahres kommt auch der Vater aus der russischen Gefangenschaft zurück. Die Geschichte wird rein chronologisch, mit wenigen Rückblenden und in einer einfachen, melodischen Sprache erzählt, die die Fähigkeit besitzt, Gegenstände und Ereignisse unmittelbar und ganz konkret vor Augen zu führen. Mall versucht zwar die Denkweise, aber nicht die Sprache des Kindes wiederzugeben. Immerhin scheinen die Auffassungskraft und das Reflexionsvermögen des Kindes, das am Anfang des Romans 11 und am Ende 16 Jahre alt ist, sich im Laufe der Erzählung weiterzuentwickeln.
Die Wahl der beschränkten Perspektive des Kindes ist für die Gestaltung der Geschichte von zentraler Bedeutung. Bereits in seinem ersten Roman Wundränder (2004) hatte Mall die „Bombenjahre“ auch aus der Sicht des zwölfjährigen Sohns eines Südtiroler Attentäters dargestellt und dabei sein großes Einfühlungsvermögen in die Welt und in die Sprache eines Jugendlichen bewiesen. Damals hatte er allerdings in der dritten Person geschrieben und diese jugendliche Sicht in einem zweiten Erzählstrang durch die zwar subjektive, aber mehr informierte Perspektive einer erwachsenen Figur konterkariert. Im Roman Ein Hund kam in die Küche geht Mall viel radikaler vor, indem er die Form der Ich-Erzählung wählt und auf jegliche externe Instanz zur Erklärung der dargestellten Wirklichkeit verzichtet. Diese selbstgewählte Einschränkung, da ein elf- bis vierzehnjähriges Kind nicht imstande ist, viele Aspekte seiner unmittelbaren Umwelt und insbesondere die historischen Zusammenhänge zu verstehen, ist andererseits eine Konsequenz von Malls Poetik.
In Interviews und weiteren Stellungnahmen hat er nämlich immer wieder hervorgehoben, wie er in seinen Werken „mit historischem Hintergrund“ zu vermeiden versucht hat, dass diese zu Geschichtslehrbüchern wurden, in denen die Figuren wie Marionetten durch die Erzählung taumelten. Was ihn interessiert, ist vielmehr die Frage, „wie geschichtliche Ereignisse in das Leben und den Alltag von Menschen hineingreifen.“ Genau diesem Prinzip entspricht die Darstellhaltung im Roman Ein Hund kam in die Küche. Weder Ludi noch seine jeweiligen jungen Freunde Kathrina, Sigfried und Ingrid oder sein Bruder Hanno vermögen die historischen Ereignisse zu verstehen und deuten stets auch die Begriffe, die sie in den Diskursen der Erwachsenen hören, falsch bzw. sie verdrehen sie nach ihren kindlichen, phantasievollen Maßstäben. Das Auswandern der Optanten wird so z.B. zu einem „Wandern“, die „Sudetenkinder“ werden „Schwedenkinder“ genannt, „Parasiten“ werden zu „Pasitten“ usw. Ludi fällt es auch schwer, die Reden über das „deutsche Blut“, über die „Heimaterde“ oder den Begriff „Volksdeutsche“ richtig zu verstehen. Und wenn er versucht, dem Bruder Hanno den Unterschied zwischen „Volksdeutschen“ und „Reichsdeutschen“ zu erklären, antwortet dieser, „er sei ein Eichhörnchen, aber ein reinrassiges.“ Das Unverständnis der Kinder hat also mehrere Funktionen: Es dient einerseits dazu, die dargestellte Wirklichkeit zu entfremden, andererseits bewirkt es aber auch eine Entlarvung der Absurdität der Ideologie. Darüber hinaus zwingt die beschränkte kindliche Perspektive dazu, die aktive Mitarbeit des Lesers zu mobilisieren, der stets die historischen Zusammenhänge besser kennt als der Erzähler. So wird etwa über die „Aktion T4“, d.h. über das nationalsozialistische Euthanasieprogramm für „lebensunwertes Leben“, nichts Ausdrückliches gesagt, aber der Leser versteht, im Unterschied zum Ich-Erzähler und möglicherweise auch besser als die Eltern des Kindes selbst, was es mit Hannos Tod auf sich hat. Dabei wirkt die ausdrückliche Nennung von Kaufbeuren, wo sich – in Kaufbeuren-Irsee – eine der Anstalten befand, in der Experimente an geistig oder physisch behinderten Kindern stattfanden, als deutliches Signal. Gegen Ende des Romans deutet auch Hanno selbst in einem Traum von Ludi, wie er und die anderen Insassen dort „Kaninchen“ genannt wurden, weil sie eben als Versuchskaninchen dienten.
Zur kindlichen Perspektive gehört auch die Tatsache, dass im Roman wiederholt Tiere vorkommen, die oft eine symbolische Bedeutung haben, da Kinder für tierische Schicksale die gleiche Anteilnahme aufbringen wie für menschliche. So wird etwa die Entdeckung des halbverwesten Kadavers eines Hirsches am Anfang des Romans zum Symbol für das Trauma des Abschieds vom Dorf. Im Dorf in Oberösterreich versinnbildlicht dann eine brüllende Kuh, die in der Nacht bis ans Fenster kommt, die Verzweiflung des Heimatverlustes. Wenig später übernimmt auch ein von der Donau weggeschwemmtes Rind die gleiche Bedeutung. Schlechthin zentral, weil sie auch den symbolischen Titel des Romans begründet, ist aber vor allem die Episode vom Hund, der durch Stockhiebe zu Tode geprügelt wird. Die absolut willkürliche Gewalt, die hier gegen einen schutzlosen streuenden Hund ausgeübt wird, symbolisiert nämlich eindeutig die Gewalt des Krieges und noch mehr die Gewalt gegen jede Art von Andersartigkeit und von Nichtzugehörigkeit, die ansonsten im Roman nie direkt dargestellt und höchstens angedeutet werden. Auf diese verstörende Gewalt reagieren jedoch die Kinder beim Begräbnis des Hundes durch das Singen des Kinderliedes „Ein Hund kam in die Küche“. Der Inhalt des Liedes ist zwar grausam, aber das Lied wirkt durch seine Melodie und durch seine wiederkehrende Struktur trotzdem beruhigend oder sogar lustig. Damit könnte also auch die unvermeidlich ästhetisierende Wirkung der Kunst symbolisiert sein, die durch ihre Darstellung auch das Schreckliche angenehm oder zumindest erträglich macht.
Entsprechend zu Malls Poetik, die die Wirkung der historischen Ereignisse auf den Einzelnen zum Gegenstand der Erzählung macht, bilden zwei mit dem Verhältnis zur Heimat eng verbundene Gefühle das Zentrum des Romans, nämlich das Gefühl des Fremdseins und jenes der Sehnsucht bzw. des Heimwehs. Am Anfang scheint Ludi den Heimatbegriff ad absurdum zu führen, da nach ihm auch das „draußen im Reich“, von dem der Vater sprach, „doch wieder bei uns“ war: „Überall wo wir waren, war bei uns. […] Wir konnten gehen wohin wir wollten, immer waren wir bei uns.“ Doch später muss er seine tiefe Fremdheit im Dorf in Oberösterreich, die fehlenden Beziehungen zu den Leuten, den Sachen und deren Geschichten, schmerzhaft erkennen: „Nein, hier an diesem Ort gab es keine Erinnerungen, die mir gehörten und die ich mit jemandem teilen konnte. […] Und es war ein Irrtum gewesen zu glauben, dass wir überall bei uns wären, wo immer wir hingingen.“ Die Mutter leidet am meisten unter dieser Fremdheit und sehnt sich daher stets nach einer Rückkehr. Alle mussten nach ihr „ihren Platz auf der Welt haben“: „Jedes Tier wisse das, jede Kuh, die abends in ihren Stall zurückkehre. Pflanzen, Bäume, alles habe seinen Ort, wo es hingehöre.“ Nach Ende des Kriegs hält sie die Entfernung von der Heimat nicht mehr aus und fährt daher einmal bis zur Grenze, „wo man bloß zwei Schritte von ihrem Sehnsuchtsland entfernt war.“ Es ist daher kein Wunder, dass sie nach der Rückkehr in die Heimat trotz aller Schwierigkeiten und trotz der Anfeindungen vonseiten der in der Heimat verbliebenen Nachbarn immer „glücklich“ ist: „Mama erklärt allen, die es hören wollten, dass draußen zwar einiges besser gewesen war, aber dass es nur eine Heimat gab und dass sie vor Sehnsucht fast gestorben war.“
Interessanterweise sind die Südtiroler im Roman nicht die einzigen, die diese Gefühle der Fremdheit und der Sehnsucht nach der Heimat kennen. Denn auch Ingrid, die durch den Krieg auch körperlich gezeichnete Freundin von Ludi im Nordtiroler Dorf, sehnt sich innig und schmerzhaft nach ihrem Herkunftsland, d.h. nach Pommern und nach der Ostsee. Obwohl also gerade im Namen der Ideologie von „Blut und Boden“ Kriege geführt und Völker versetzt, unterdrückt oder eliminiert worden sind, besitzt der Heimatbegriff in den Reden der meisten Romanfiguren eine stets positive Konnotation.
Wer im Roman zu keiner Heimat zurückfinden kann, ist der Vater des Protagonisten, der sie am Anfang „draußen im Reich“ zu erblicken vermeinte. Gegen Ende des Romans erzählt er dem Sohn die schrecklichen Erfahrungen, die er in den Gefangenlagern, „in diesen Dreckslöchern“, gemacht hatte. Mehr als der Hunger hat ihn damals das „Heimweh“ geplagt: „Ich war so fremd dort, sagte er […], so abgrundtief fremd, so vollkommen – “; „Fremd, fremd, fremd. Nichts als fremd zu sein, an diesem Ort, mit diesen Leuten, mit denen du nichts zu tun hast, die du dir nicht ausgesucht hast, in einer Landschaft, die nichts von dem hat, was Heimat ist.“ Der Vater kann diese Fremdheit nicht einmal nach seiner Rückkehr in die Heimat überwinden und schläft daher auf dem Boden, in einem Holzverschlag auf der Terrasse. Was ihn so plagt und ihm verwehrt, sich wieder daheim zu fühlen, sind seine unüberwindbaren Schuldgefühle, die er nur im besoffenen Zustand zugestehen kann: „Schließlich haben wir uns in ihren Dörfern aufgeführt wie von Sinnen. Auch da, wo nur noch alte Männer, Frauen und Kinder waren. Aber das will niemand wissen, niemand will das wissen und auch ich nicht mehr.“ Diese Schuldgefühle gehen so weit, dass er sogar Hannos Tod als Ausdruck einer „ausgleichenden Gerechtigkeit“ für die von ihm selbst begangenen Verbrechen hält.
Diese Darstellung des psychischen Zustandes des zurückgekehrten Vaters stellt zweifellos eine schwierige und gefährliche Gratwanderung dar, die ständig Gefahr läuft, den Nazitäter in ein Opfer zu verwandeln. Textimmanent kann sie zwar dadurch gerechtfertigt werden, dass sie aus der Perspektive des Sohnes erfolgt, der nichts Genaues über die Aktivität des Vaters im Krieg weiß und darüber hinaus eine starke gefühlsmäßige Bindung zum „Täter“ hat. Nichtsdestoweniger bleibt die Zweideutigkeit bestehen. Aber ausgerechnet diese Zweideutigkeit, die auch andere Themen des Romans wie etwa den positiven Heimatbegriff betrifft, macht den Wert und die Wichtigkeit des Romans aus. Denn die Funktion eines Romans besteht keinesfalls in der Vermittlung neuer „Fakten“ oder in der Nahelegung eindeutiger Urteile. Gerade durch die Unbestimmtheit und zuweilen durch die Zweideutigkeit seiner Darstellung soll er vielmehr zum Nachfühlen und noch mehr zum Nachdenken anregen. Bekanntlich hielt bereits Aristoteles die Poesie aus diesem Grund für „philosophischer“ als die Historie, weil sie nicht das „Wahre“ oder das Faktische, sondern vielmehr das Mögliche oder Wahrscheinliche zum Gegenstand hat.
Aufwühlend Seit einiger Zeit…
Aufwühlend
Seit einiger Zeit spricht die Psychologie auch von genetisch durch Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern vererbten Traumata. Das bedeutet, dass jeder mit unverarbeiteten Erlebnissen der eigenen Eltern, Groß- und Urgroßeltern, der eigenen Ahnenlinie, bis in die Zellen hinein konfrontiert ist.
Der Begriff des kollektiven Traumas geht von der Idee aus, dass erschütternde Ereignisse tiefe Wunden in die betroffenen Gesellschaften oder Gruppen reißen und diese nachhaltig prägen.
Für mich bringt diese Geschichte Malls, das Trauma - die emotionale Wunde der Ahnen, nachfühlbar in meine Lebensgegenwart.
Lesung: »Ein Hund kam in die…
Lesung: »Ein Hund kam in die Küche« mit Sepp Mall
26. Oktober, 9:30 - 11:00 Eurac Research
Ein bewegender Roman, der in bilddichter Sprache der Trauer eines Kindes um seinen Bruder nachgeht. Über das Kindsein in Zeiten von Krieg, Verrohung und Verbrechen vor dem Hintergrund der Südtiroler „Option“.