Südtirol vor dem Arbeitsmarkt-Kollaps
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Was passiert, wenn mehr Menschen in Rente gehen als neue Arbeitskräfte nachkommen? Wie Stefan Perini vom AFI | Arbeitsförderungsinstitut die nahende Pensionierungswelle sieht und welche Folgen er für Südtirol ableitet.
salto.bz: Herr Perini, in den nächsten Jahren kommt eine folgenschwere Pensionierungswelle auf Südtirol zu, die ein Ungleichgewicht in den Arbeitsmarkt bringen wird. Wie kann man sich das vorstellen und was bringt das mit sich?
Perini: Für Menschen, die sich mit Wirtschafts- und Sozialforschung beschäftigen, ist diese Entwicklung seit Jahrzehnten absehbar. Für viele Entscheidungsträger und die breite Allgemeinheit hingegen wird sie erst jetzt, wo wir uns bereits mittendrin befinden, und die großen Probleme ans Licht treten, spürbar. Der durch eine sinkende Geburtenrate und längere Lebenserwartung bedingte demografische Wandel wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass besonders viele Leute aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden werden – es handelt sich dabei um die sogenannte Babyboomer-Generation - und bedeutend weniger Menschen eintreten. Zuletzt titelte die lokale Tageszeitung „Alto Adige“, dass in den nächsten 7 Jahren 40.000 Personen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden werden und wir wissen, dass wesentlich weniger nachkommen werden. Wie gesagt, das ist für Forschende keine große Neuigkeit, aber es ist wichtig, dass Wirtschaftsverbände, Unternehmen, Entscheidungsträger und Gewerkschaften dafür sensibilisiert werden, damit sie sich auf neue Gegebenheiten einstellen können und müssen.
Es fehlt also aufgrund der Pensionierungswelle künftig an Arbeitskräften im Land?
Ja, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir pensionsbedingt viele Arbeitnehmer verlieren werden. Aber nicht nur pensionsbedingt. Der Südtiroler Arbeitsmarkt ist allgemein unattraktiver geworden. Und dieser Zustand schwebt wie ein Damoklesschwert über uns. Jugendliche wandern ab und kommen nach ihrer Ausbildung nicht zurück. Vergleichsweise niedrige Gehälter, altmodische Arbeitsmodelle und das teure Wohnen schrecken junge Menschen ab.
Was verstehen Sie unter altmodischen Arbeitsmodellen?
Ein bedeutender Teil der hier ansässigen Unternehmen lässt sich auf die Idee moderner Arbeitsmodelle nicht ein. Dazu gehören flexible Arbeitszeiten, Homeoffice-Möglichkeiten oder die 4-Tage-Woche. Viele bemängeln Karrierechancen, Weiterbildungsmöglichkeiten und motivierende Anreizsystemen wie Ergebnisprämien und ähnliches. Südtirol tut sich hier schwer, mit anderen Ländern im deutschsprachigen Raum mitzuhalten. Wir müssen uns deshalb auf ein Ungleichgewicht einstellen und werden auch ganz unabhängig von der Pensionierungswelle weiterhin mit verhältnismäßig vielen Austritten und wenig Nachwuchs am heimischen Arbeitsmarkt rechnen müssen.
Welche Bereiche sehen Sie davon besonders betroffen?
In Wirtschaftssektoren mit einem hohen Anteil an Beschäftigten über 55 Jahren wird die „Arbeitskräftelücke“ besonders groß sein. Der öffentliche Dienst ist bekanntermaßen überaltert – dasselbe gilt, wenn man auch die Selbstständigen mit dazu nimmt, für die Landwirtschaft. Dort haben wir viele Leute im gehobenen Alter und das Thema der Hofübergabe erschwert die Situation zusätzlich. Auch der Einzelhandel ist betroffen. Jünger entstandene Branchen wie beispielsweise Webdesign, IT, der Bereich der sozialen Medien, oder auch das Gastgewerbe weisen ein verhältnismäßig geringes Durchschnittsalter der Belegschaft auf und sind davon weniger betroffen. Die Gastro ist seit jeher bei den Unter-30-Jährigen besonders attraktiv. Sobald es in die Familienplanung geht, verlassen viele diese Branche, weil sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schwierig gestaltet.
Diese Branchen kommen also gut davon?
So kann man das nicht sagen. Die Pensionierungswelle hat auch Auswirkungen auf diese Bereiche, die vielleicht weniger direkt davon betroffen sind, denn auch zwischen den Sektoren wirbt man sich mittlerweile verstärkt Arbeitskräfte ab.
Wir erleben bereits jetzt einen Arbeitnehmermarkt. Wird sich das in Zukunft noch mehr zuspitzen oder wird es sich lösen lassen?
Not macht bekanntermaßen erfinderisch. Wenn die verfügbaren Arbeitskräfte knapp werden, müssen Alternativlösungen gesucht und gefunden werden. Dazu zählt die Automatisierung von Prozessen. In denke an Revisionstätigkeiten, Buchungs- und Zahlungsvorgänge, die Bewertung von Schadensfällen bei Versicherungen, die Abwicklung von Gesuchen mithilfe von Screening-Software und vieles mehr. Einmal erkannt, dass man in Zukunft mit weniger Personal auskommen werden muss, wird man verstärkt nach technischen Lösungen suchen, um den heutigen Output mit weniger Personal und mehr Technik zu meistern.
Das klingt schwierig, immerhin werden wir mehr und mehr zu einer Dienstleistungsgesellschaft.
Stimmt. Allerdings wird hierzulande häufig die These vertreten, dass Südtirol von der digitalen Transformation verschont bliebe, weil wir verhältnismäßig viel Tourismus und an Personen ausgerichtete Dienstleistungen haben. Die Durchdringungskraft der Digitalisierung sollten wir allerdings nicht unterschätzen. Auch in der Hotellerie und Gastronomie werden wir eine Digitalisierung von Prozessen erleben. Der Self-Check-in an der Rezeption ist ein Paradebeispiel dafür. Auch virtuelle Assistenz, beispielsweise für Auskünfte und Kundenanfragen, werden häufiger werden, sowie die automatische Bearbeitung von Kunden-E-Mails. Künstliche Intelligenz macht es möglich. Und manche Berufsgruppen werden sich breiter aufstellen, um ihre Einkünfte mit weniger Personal erzielen zu können. Auch in der Landwirtschaft wird Technik eine immer größere Rolle spielen, Stichwort „Vertical Farming“. Diversifizierung steht auf dem Plan, mit Solaranlagen wird der traditionelle Landwirt zusätzlich zum Energiewirt.
Also hängt die Aufrechterhaltung der Wirtschaft in erster Linie vom technologischen Fortschritt ab?
Ja, stimmt. Und trotzdem müssen wir noch ungenütztes Potenzial am heimischen Arbeitsmarkt aktivieren. Da sind wir beim nächsten Stichwort: die Frauenquote erhöhen. Das Potenzial besteht bei Frauen, die in der Babypause bzw. in Mutterschaft sind. Oft bleiben sie unfreiwillig und aufgrund mangelnder Betreuungsmöglichkeiten vom Arbeitsmarkt fern. Ein unzureichendes Angebot an Teilzeitarbeit und unflexible Arbeitszeiten stehen dem Wiedereinstieg oftmals im Weg. Numerisch gesehen liegt hier das größte aktivierbare Arbeitskräftepotenzial.
Das Pensionsalter stieg in den letzten Jahrzehnten sukzessive an. Gibt es auch bei den ausscheidenden Erwerbstätigen noch Potenzial?
Nun ja, es stellt sich die Frage, ob ein krasser Ausstieg aus dem Arbeitsleben von 100 auf 0% der Standard bleiben wird. Ein „Softausstieg“ aus dem Berufsleben könnte ein interessantes Alternativmodell sein. Das könnte so aussehen, dass Arbeitnehmer anstatt 5 nur noch 2 Tage pro Woche den Betrieb unterstützen. Aber das muss attraktiv gestaltet werden. Wenn man mit der Rente und Zusatzeinkommen draufzahlt, ist das natürlich kein Anreiz. Hier muss sich der Staat etwas einfallen lassen. Italien muss es attraktiv machen, dass Menschen auch nach dem Renteneintritt bereit sind, im reduzierten Ausmaß weiterzuarbeiten.
Wie schaut es mit dem Eintritt in den Arbeitsmarkt aus? Wird auch daran gearbeitet, junge Leute früher in den Arbeitsmarkt zu holen?
Wir als AFI betrachten eine gute Ausbildung als eine unverzichtbare Basis für den beruflichen Werdegang. Junge Menschen auf Kosten ihrer Ausbildung früher in den Arbeitsmarkt zu holen, ist keine Lösung, die wir favorisieren. Aber mit vermehrter Berufsberatung und dem rechtzeitigen Auffangen von Schulabbrechern können sicherlich Leerzeiten minimiert und ein kleines Arbeitskräftepotenzial aktiviert werden. Auch das wird jedoch den Bedarf nicht vollständig decken. Selbst wenn wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf top aufstellen, den Einstieg in den Arbeitsmarkt optimieren und Leute im höheren Alter für einen soften Ausstieg aus dem Berufsleben begeistern können, haben wir immer noch eine große Lücke zwischen dem heimischen Arbeitskräftepotential und dem voraussichtlichen zukünftigen Bedarf. Darum sind wir zweifelsfrei auch auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen.
Kurzum, wir müssen sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um die fehlende Masse an Arbeitskräften zu finden?
Ja, aber es geht nicht nur um Quantität, sondern auch um die Qualität. Es gilt nämlich auch, die richtigen Leute zu finden – das macht alles noch deutlich komplizierter.
Lange hielt sich die Angst oder Befürchtung, dass die technischen Errungenschaften Arbeitsplätze wegrationalisieren würden. Bringt das in Anbetracht der zukünftigen Entwicklungen nicht schon genug Erleichterung?
Nur zum Teil. Durch die Technik entstehen ja auch neue Arbeitsplätze. Und wir brauchen gut geschultes Personal, das mit diesen Technologien umzugehen versteht. Ich bezweifle, dass uns die Arbeit ausgehen wird und sämtliche Jobs wegradiert werden. Vieles ist auch noch Zukunftsmusik. Man spricht zwar immer häufiger vom autonomen Fahren – sprich von selbstfahrenden Autos - aber noch ist diese Technologie nicht marktreif. Zuletzt wurde beispielsweise bekannt, dass der Nahverkehrsbetrieb SASA Busfahrer in Spanien sucht. Im Zuge einer Recruiting-Aktion wurden tatsächlich 30 bis 40 Busfahrer gefunden, die nun eine Ausbildung machen und anschließend für die SASA im Dienst sein werden. Das ist in diesem Bereich eine Neuheit. Im Pflegebereich sind wir schon seit Langem auf zuwandernde Arbeitskräfte aus Niedriglohnländern aus dem osteuropäischen Raum oder Südamerika angewiesen. Aber auch ihnen müssen langfristige Anreize geboten werden, um zu uns zu kommen und hier zu bleiben. Sonst werden sie entweder wieder abwandern oder es kommt zu gesellschaftlichen Problemen.
Wo wir bei der Verteilungsproblematik angekommen sind…
Genau, denn der generierte Wohlstand soll auch in Zukunft – und zwar noch besser als heute - breit gestreut und gerecht verteilt werden. Eine Sache ist die Produktionsseite. Also wie kriegen wir es hin, das heutige BIP mit weniger Arbeitskraft generiert wird? Die andere Frage lautet: Wie können wir den Wohlstand gerecht verteilen und möglichst breit streuen? Die gerechte Bemessung der Löhne und die Sicherung des Sozialstaates sind ein ebenso wichtiges Thema, das diskutiert werden muss.
Ein kluger Kopf, der Stefan…
Ein kluger Kopf, der Stefan Perini. Schade dass er dein Einzug in den Landtag verpasst hat. Er wäre für die Politik fraglos ein Mehrwert.