Kultur | Erinnerungsort

Die vergessenen Frauen

Ein neues Mahnmal erinnert an die vergessenen Frauen der Strafanstalt Aichach in Bayern. Mit einem eindringlichen Zitat der italienischen Partisanin Vera Michelin-Salomon
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Foto: Marina Wagenpfeil
  • „Das Mahnmal erinnert an die Frauen, die in der Strafanstalt Aichach und im Aichacher Krankenhaus Opfer nationalsozialistischen Unrechts wurden. Hunderte wurden ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet“, erzählt der Künstler Michael Meraner. Der Eppaner hat gemeinsam mit der Architektin Raphaela Aurelia Sauer aus Trier ein Mahnmal aus zwei Erinnerungsstelen entworfen, das vor wenigen Monaten in Aichach eingeweiht wurde. 

  • Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus: Stelen mit QR-Code und einem Zitat von Vera Michelin-Salomon Foto: Schwarzenfeld

    Das Duo Meraner und Sauer arbeitet seit nunmehr einigen Jahren unter dem Namen Schwarzenfeld und hat bereits mehrere größere Kunstprojekte im öffentlichen Raum realisieren können. Für das Erinnerungsmahnmahl in Aichach stellen sie einen Marmorblock einem Graphitblock gegenüber. Nur ein kleiner Spalt trennt die beiden Stelen. In diesem zentralen und spannungsgeladenen Zwischenraum befindet sich eine Textbotschaft, die stellvertretend für das Leid hunderter Opfer steht. Sie stammt von der Insassin Vera Michelin-Salomon, eine italienische Partisanin und ehemalige Gefangene in Aichach. Sie kam mit 20 Jahren in die Strafanstalt, überlebte das Nazi-Regime und hat sich bis zu ihrem 96. Lebensjahr unermüdlich für Friede und Völkerverständigung eingesetzt.
     

    Viele Grausamkeiten haben die Barbaren bis zu ihrem Ende begangen, die Summe des von ihnen verschuldeten menschlichen Leids ist bespiellos und durch nichts gutzumachen, aber nun ist ihre Herrschaft zu Ende und die Welt muss daran arbeiten, sich eine bessere Zukunft zu schaffen.
    (Vera Michelin-Salomon)

  • Brief aus Aichach: Viva la libertà Foto: ANED
  • Die Strafanstalt in Aichach (siehe Bildergalerie) wurde im Januar 1909 eröffnet und bot zunächst 550 Haftplätze. Während der NS-Zeit wurde die Gefangenenzahl drastisch erhöht. Zu den verschiedenen Gruppen von inhaftierten Frauen in Aichach gehörten Frauen, die wegen herkömmlicher Straftaten inhaftiert waren, solche, die während der Machtergreifung 1933/34 in "Schutzhaft" genommen wurden, und Frauen, die in den 1930er Jahren zwangsweise sterilisiert wurden. Hinzu kamen Frauen die aus politischen Gründen vom NS-Regime verfolgt wurden, Zeuginnen Jehovas, Jüdinnen, Sinti- und Roma-Frauen sowie politische Gefangene aus verschiedenen Ländern, auch aus Italien. Und auch aus Südtirol. 

  • Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erweiterte sich das Spektrum der inhaftierten Frauen – strengstens geahndet wurden immer häufiger auch kleinere Delikte wie Diebstahl, Bettelei, Obdachlosigkeit, Landstreicherei und Prostitution. Die Lage in Aichach verschärfte sich und es kam vor allem zum Jahreswechsel 1942/43 zu dramatischen Veränderungen. Bereits ab den Jahren 1941/42 war die Anstalt mit den über 1000 inhaftierten Frauen zu einem Ort intensiver Rüstungsproduktion geworden, arbeitete eng mit der Agfa-Camera-Werke und anderen Rüstungsbetrieben zusammen. Am 28. April 1945 erreichten US-Truppen die Strafanstalt, die Gefangenen wurden befreit, auch wenn der Übergang in die Freiheit alles andere als reibungslos verlief.

  • Von Aichach in die Welt: Über das Mahnmal gelangen Interessierte und Historiker*innen zum Wissensspeicher des Projekts Foto: Schwarzenfeld

    Das vor kurzem errichtete Mahnmal „erinnert an steinzeitliche Frauen-Menhire“, erzählt das Duo Schwarzenfeld. Es beinhaltet „feinteilige, labyrinthartige Gravuren aus QR-Codes“, und so gelangen Besucher und Besucherinnen über den Gedenkort zur Webseite, einem Wissensspeicher für Interessierte und Historiker*innen, der ständig weiter wachsen soll. 
     

    Molte atrocità sono state consumate dai barbari prima di morire, il conto delle sofferenze umane a loro carico è inaudito e insaldabile, ma ora hanno finito il loro dominio e il mondo deve lavorare per crearsi un avvenire migliore.
    (Vera Michelin-Salomon)

  • Einen zusätzlich performativen Ansatz erlangt das Mahnmal durch die Berührung der fein glänzenden Oberfläche des schwarzen Graphits. „Die dunklen Pigmente füllen die Poren der Haut, die Berührungen werden damit an den Händen dokumentiert und im Stadtraum verteilt“ heben Schwarzenfeld hervor, „als Zeichen, dass man hier war.“ Während sich die Graphit-Stele durch die ständigen Berührungen im Lauf der Zeit auflösen wird, wird der große Marmorblock alleine zurückbleiben und die Textbotschaft in die Welt tragen.

  • Hand anlegen: Das Denkmal berühren und schmutzige Geschichte spüren. Die es fein säuberlich aufzuarbeiten gilt. Foto: Schwarzenfeld
  • Wettbewerb

    Im Jahr 2021 lobte die Stadt Aichach einen zweiphasigen, europaweiten Ideenwettbewerb aus, bei dem sich Künstlerinnen und Künstler für eine Gestaltung und Schaffung eines Gedenkorts bewerben konnten. Eine zwölfköpfige Jury wählte aus den eingereichten Vorschlägen den Entwurf des Duos Schwarzenfeld (Michael Meraner aus Eppan und Raphaela Aurelia Sauer aus Trier) aus.
    (Titelbild: Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, am Mahnmal in Aichach Anfang Oktober 2023)

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    Profil für Benutzer Johannes Engl
    Johannes Engl So., 28.01.2024 - 09:20

    Die Idee mit dem harten weißen Gestein und dem weichen schwarzen Graphit, der sich langsam auflöst, ist genial. Er löst sich auf durch Berührung, durch Berührt-sein, durch aktive Auseinandersetzung mit dem Schwarzen (auch in uns?). Inspirierend!
    Südtirol sei stolz auf einen Künstler, der so etwas hervorbringt!

    So., 28.01.2024 - 09:20 Permalink