Digitale Steinzeit?
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„Obwohl zig Millionen Euro in die Krankenhausinformatik gepulvert wurden, hat der Sanitätsbetrieb noch immer kein einheitliches und funktionierendes IT-System.“ hieß es am letzten Samstag in der neuen Südtiroler Tageszeitung.
Meine Antwort darauf: Braucht es überhaupt ein einheitliches IT-System?
Als in Österreich tätiger Allgemeinmediziner möchte ich einen kurzen Einblick in diese Thematik geben.
Wozu braucht es überhaupt ein IT-System in der Medizin?
Um einen Patienten gut behandeln zu können, braucht sein Arzt Informationen. Medizinische Informationen werden durch Anamnese, also das Anhören und Ausfragen des Patienten, und durch körperliche sowie apparative Untersuchungen erhoben. Bei einem gesunden Patienten ohne Krankengeschichte ist es möglich, alle relevanten Informationen in sehr kurzer Zeit zu erheben.
Je länger die Krankengeschichte und je komplexer der Fall wird, umso wichtiger wird die Dokumentation. Standardmäßige Dokumentation in der Medizin war lange keine Selbstverständlichkeit. Der in Bozen tätige Lorenz Böhler war ein Pionier auf diesem Gebiet, indem er standardisierte Dokumentation auf seiner Abteilung einführte und so die Behandlungstandards deutlich anheben konnte.
Wenn wir nicht wissen, was wir wollen, brauchen wir uns nicht wundern, wenn wir die Digitalisierung nicht hinkriegen.
Die große Schwierigkeit liegt darin, alle relevanten Befunde in übersichtlicher und handhabbarer Form zur Verfügung zu stellen. Bis in die 90er war die Patientenkartei (oft noch handgeschrieben) das Mittel der Wahl. Eine Patientenkartei, in der alle wesentlichen Befunde einsortiert sind und die chronologisch den Therapieverlauf skizziert, ist an sich ein sehr intuitives und nachvollziehbares System. Es ist kein Zufall, dass die meisten Computerprogramme zur Verwaltung von Patientendaten die „Patientenkartei“ nachzubilden versuchen.
Der gordische Knoten der Digitalisierung
Digitalisierung sollte den Alltag erleichtern. Mein Eindruck ist, dass wir Südtiroler die Digitalisierung nicht ganz verstanden haben. Ich sage, es ist unmöglich ein Programm zu finden, das für alle Ärzte aller Fachrichtungen in allen Bezirken passt. Dazu sind die Anforderungen zu verschieden. Einheitliche Software schränkt in so einer Situation automatisch die Arbeitsergonomie ein. Daher sollten wir uns die Frage stellen, welche Vorteile wir durch Digitalisierungsmaßnahmen erreichen wollen. Wenn wir nicht wissen, was wir wollen, brauchen wir uns nicht wundern, wenn wir die Digitalisierung nicht hinkriegen. Wie könnte also eine sinnvolle Vernetzung ausschauen?
Hier lohnt sich ein Blick nach Österreich: In Österreich wurde nicht primär versucht, eine einheitliche Software zur Verwaltung von Patientendaten zu schaffen. Stattdessen hat man sich auf einen digitalen Verschlüsselungsstandard geeinigt und so in Zusammenarbeit mit dem Kommunikationsanbieter A1 ein verschlüsseltes Netzwerk zur verschlüsselten Befundübermittlung namens DaMe (Datennetz der Medizin) aufgebaut. Jeder Arzt kann gegen eine moderate Gebühr Teil dieses Netzwerks werden, um Befunde digital verschlüsselt zu senden und empfangen. In der Praxis funktioniert das einwandfrei: Wenn ein Patient eine Überweisung zu einer Untersuchung bekommt, steht am Überweisungsschein eine Nr., über die der Arzt, der den Befund erstellt, dann diesen automatisiert an den zuweisenden Arzt übermittelt.
In Südtirol werden die sogenannten digitalen Rezepte sowie auch Befunde nicht selten unverschlüsselt via E-Mail versendet, was eigentlich ein No-Go sein sollte.
Dieser Service funktioniert unabhängig davon, welche Software die jeweiligen Ärzte verwenden. Die erhaltenen Befunde werden meist automatisch in die Software integriert und in der jeweiligen Patientenkartei abgelegt. Damit das funktioniert, muss der jeweilige Softwarehersteller eine Schnittstelle mit dem Befundübermittlungsnetzwerk programmieren. Der Vorteil an diesem System ist, dass es den Ärzten kein Programm aufzwingt, sondern einfach ein Netzwerk zur sicheren digitalen Befundübermittlung zur Verfügung stellt. Dieses System wird in Österreich übrigens nicht nur von Kassenärzten, sondern auch von den meisten Privatärzten verwendet.
Analog dazu funktioniert in Österreich die Übermittlung digitaler Rezepte – sogenannter e-Rezepte. Auch diese werden über eine Schnittstelle der jeweiligen Patientenverwaltungssoftware in ein Netzwerk (in diesem Fall das von der Sozialversicherung verwendete Gesundheits-Informations-Netzwerk GIN) geladen, wo es der Sozialversicherungsnummer des Patienten zugeordnet und für einen Monat abgespeichert und abrufbar bleibt – digital verschlüsselt und nur mit der Versicherungskarte des Patienten oder dem bei e-Rezept-Erstellung generierten Code abrufbar. Dieses System ist jedoch technisch deutlich aufwendiger als das DaMe-System.Dadurch ist in Österreich die Übermittlung von Befunden und Rezepten kein Thema mehr. Die meisten Computerprogramme haben auch integrierte Funktionen, um dem Patienten Befunde digital verschlüsselt und zweifaktorauthentifiziert zukommen zu lassen, sodass er sie mit Hilfe eines SMS-Codes downloaden kann.
In Südtirol werden die sogenannten digitalen Rezepte sowie auch Befunde nicht selten unverschlüsselt via E-Mail versendet, was eigentlich ein No-Go sein sollte.
Grundsätzlich ist dabei zu sagen, dass das Gesundheitswesen in Österreich wesentlich dezentraler organisiert ist. In Österreich werden die meisten Untersuchungen von selbstständig tätigen Fachärzten außerhalb des Krankenhauses erbracht. Sowohl Krankenhausträger als auch niedergelassene Ärzte mit Vertrag verrechnen die erbrachten Leistungen mit den Sozialversicherungen. Dass der Krankenhausträger wie z.B. in Südtirol der Sanitätsbetrieb den niedergelassenen Ärzten vorschreibt, welche Software sie zu nutzen haben, wäre in Österreich undenkbar. (Die Implikationen, die sich daraus ergeben, werden in einem der nächsten Beiträge thematisiert.)
Falls die Südtiroler digitale Patientenakte ähnlich aufgebaut ist wie die österreichische Variante, kann ich den Missmut meiner Kollegen voll und ganz verstehen.
Unabhängig davon gibt es die Debatte zur sogenannten Elektronischen Gesundheitsakte – in Österreich ELGA genannt. Die österreichische Variante ist aktuell nicht wirklich praktikabel, da sie mehrere Fallstricke birgt. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass man in 95% der Fälle mit der direkten Befundübermittlung auskommt – auch weil man so unkompliziert und schnell Befunde nachfordern kann, sofern der Patient sein Einverständnis dazu gegeben hat.
Besonders im Pustertal war das Thema Befundübermittlung zuletzt in Diskussion, da das dort verwendete IKIS-System abgeschafft werden soll und durch die Südtiroler Version der ELGA – also der digitalen Patientenakte ersetzt werden soll. In Österreich hat man trotz Einrichtung der ELGA das digitale Befundübermittlungssystem weiterhin beibehalten – eben weil es so komfortabel und effektiv ist. Falls die Südtiroler digitale Patientenakte ähnlich aufgebaut ist wie die österreichische Variante, kann ich den Missmut meiner Kollegen voll und ganz verstehen.
Vielleicht wäre eine Variante wie das österreichische DaMe-System die bessere Lösung.
Ich bin KEIN Fachmann, aber:…
Ich bin KEIN Fachmann, aber:
Die Problematik in Südtirol scheint diesbezüglich etwas komplizierter zu sein, da dieses Landl schlussendlich in Italien liegt und dort die Privacy-Bestimmungen noch etwas rigoroser sind als in Österreich.
Die Idee Patientendaten in gängigen Formaten "irgendwo & sicher" verfügbar zu halten ist freilich eine eigentlich gute. Dann bräuchte es effektiv keine spezielle Software, sondern alle Interessierten könnten mit "ihren" Computersystemen darauf zugreifen (ob sie bei chronischen Patienten dabei verrückt werden ist eine andere Frage). Das ist aber mit der bestehenden Elektronischen Gesundheitsakte (EGA) eigentlich auch jetzt schon möglich. Es geht eben eigentlich um die SICHERHEIT der DATEN. Und diese ist bei der im Beitrag beschriebenen "normalen" Email-Übermittlung tatsächlich nicht gegeben. Sehr wohl hingegen via PEC-Mail (Italien war da EU-Vorreiter, gleich wie bei der Elektronischen Rechnung) - eine
halbwegs sichere und nachverfolgbare Übermittlungsmethode. Zudem gibt es bei uns auch einen SPID (Italien ebenfalls Vorreiter).
ABER WARUM nicht gleich dem Vorbild Estland folgen? Dort liegen ALLE Daten (nicht nur gesundheitliche) auf staatlichen Servern zu denen ICH als einziger vollumfanglichen Zugriff habe und ICH entscheide wer auf meine Daten zugreifen kann. Bzw. erhalte ich eine Push-Nachricht wenn sich grad jemand in meinen Datensatz einloggt. Wenn ich sehe, dass es mein Hausarzt ist, erteile ich per Fingerabdruck die Erlaubnis. Ein Arzt, oder auch ein Beamter, kommt theoretisch trotzdem zu meinen Daten, aber ICH SEHE das dann. Und wenn der dort nichts zu suchen hatte, kriegt der Herr ziemlich große Probleme ... und Strafen. Dort schaut niemand mehr in die Akte des Nachbarn meiner Freundin. Wobei das theoretisch auch bei uns in Italien bereits aktiv ist. Die IT- Verwaltung kann auch hier verifizieren WER in meinem Datensatz herumgeschnüffelt hat ... nur ICH erfahre es nicht. Ich bin also nicht der Souverän über meine Daten und muss mich auf die Verwaltung verlassen, dass die darauf achtet, dass niemand in meinem Datensatz herumstöbert.
Zudem liegt das Problem IKIS nicht bei der Software. Das Problem ist, dass dieses System schlicht und einfach illegal ist und nicht mit den gesetzlichen Vorgaben kompatibel ist. IKIS ist zudem alt und dürfte seine Kapazitäten überschritten haben. Kann also wohl auch nicht ausgeweitet werden. Andererseits; wären die Datenschutzbestimmungen in IT gleich wie in A, dann wäre auch IKIS noch möglich & legal.
WOBEI ... ein einheitliches System (oder auch Software), mit dem früher oder später (nach Eingewöhnung) ALLE gut leben und arbeiten können, hat sicher auch seine Vorteile. Man denke dabei nur an die Systemverwaltung, die einheitliche Organisation (mögliche Sortierung) im Hintergrund oder die gleichen, einheitlichen Eingabe-Masken. Die "Organisation" ist beispielsweise bei der aktuellen EGA noch sehr verbesserungsbedürftig bzw. gar nicht vorhanden.
Will heißen;
- das Ö-System ist 1 zu 1 in Italien eher nicht anwendbar.
- sehr wohl gibt es schon jetzt Programme (Software) die funktioniert, gesetzeskonform ist und auch anwendbar scheint (siehe TN - Aosta).
- Probleme gibt es beim Estland-Modell (und auch sonst) bei älteren Menschen ohne Smart-Phone-Affinität. ... allerdings lösbar über "Vertretungen" (wie auch in der EGA möglich).
- Die EGA scheint aktuell tatsächlich IKIS nicht ersetzen zu können, aber ein auf die EGA aufbauendes und einheitliches System scheint mir dann doch sinnvoller, als das kompromisslose Beharren einzelner Talschaften auf eigene Programme und Eingabe-Masken die schon im angrenzenden Bezirk nicht mehr kompatibel sind.
- Im Zentrum aller Gedanken und Bestrebungen sollte auf jedem Fall das PATIENTENWOHL und die PATIENTENSICHERHEIT stehen. Und auch die DATENSICHERHEIT. Und dafür müssen wohl alle Beteiligten etwas mehr zusammenschauen, Kompromisse finden und persönliche Sonderwünsche ins untere Regal stellen. Zum Wohle ihrer "Kunden" versteht sich.